Behinderung und Inklusion in Äthiopien
Behinderung und Inklusion in Äthiopien
Privat
Samrawits erste Schritte
Eine Frau legt ihre behinderte Tochter auf dem Hof der deutschen Schule ab und sagt: "Bitte, kümmert euch um sie!" Und nun?
20.08.2018

Vor drei Jahren kam eine junge Frau durch das Tor der German Church School. Sie hieß Martha und trug ihre fünf­jährige Tochter auf dem Rücken. In der Mitte des Schulhofs legte sie das Mädchen ab. "Ihr habt Behinderte in eurer Schule, bitte kümmert euch um sie!" Martha wollte gerade auf die Straße zurück, als der Leiter der Integrationsabteilung sie abfing. "Bitte kommen Sie herein, wir müssen doch mehr über Sie und Ihre Tochter erfahren."  In Äthiopien bekommen die Frauen im Durchschnitt fünf Kinder, jede dritte Mutter ist alleinerziehend. Ein behindertes Kind ist für viele ein echter Schrecken. Wie in vielen afrika­nischen Ländern werden Behinderte diskriminiert und ausgegrenzt. Die Kinder gehen oft gar nicht zur Schule, sondern werden zu Hause versteckt. Als Martha zu erzählen begann, brach sie in Tränen aus. Ihre Tochter 
heiße Samrawit. Sie rede kaum, ­könne nicht richtig sitzen, vom Gehen 
ganz zu schweigen. Es habe Kompli­kationen bei der Geburt gegeben. Das Baby bewegte sich auch mit drei ­Monaten kaum. "Das ist Gottes Strafe für deinen schlechten Charakter", ­habe ihr Mann gesagt, bevor er Martha verließ. Die Nachbarschaft habe einen Dämon in ihrem Haus vermutet und sich von ihr ferngehalten.

Privat

Karl Jakobi

Karl Jakobi ist deutscher Auslandspfarrer in Addis Abeba/Äthiopien. Die German Church School ist ein Sozialprojekt seiner Gemeinde. Hier werden auch behinderte Kinder, vor allem sehbehinderte Schülerinnen und Schüler, unterrichtet.


Schulleitung und Lehrer waren bewegt und beschlossen, Samrawit aufzunehmen, ausnahmsweise mitten im Schuljahr. An der German Church School haben um die 70 der 1000 Schüler eine körperliche oder geistige Behinderung. Es ist die einzige in­klusive Schule in Addis Abeba. In den folgenden Wochen kam Samrawit täglich zum Unterricht. Sie bekam Physiotherapie, in den Pausen übten ältere Mitschülerinnen mit ihr. 
In einer dieser Pausen machte sie ihre ersten Schritte, gezogen und geschoben von einer begeisterten Mädchenschar. Samrawit wurde offener. Sie lachte mit den anderen, wollte bei den Ballspielen dabei sein und bemalte ­stapelweise Papier. Es schien, als müsse 
sie sich die ersten fünf Lebensjahre von der Seele malen. Gehen kann sie 
heute noch nicht richtig, aber das scheint ihr zweitrangig. Sie ist dabei und wird nicht mehr versteckt. Das zählt.
 

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