Straßenszen in Tuzla
Straßenszen in Tuzla
Melanie Sapina
Vom Flüchtling zur Kämpferin
Als Kind floh Selma vor dem Krieg im damaligen Jugoslawien in die Schweiz. Als Erwachsene hat sie sich in Bosnien zur Geschäftsfrau hochgearbeitet. Sie glaubt, ­aus­gerechnet die Flucht habe sie stark gemacht, das Leben auch in dem Nachkriegsland zu meistern.
15.06.2018

Selma kommt als Letzte in ihren Stammclub. Fester Gang, kontrolliertes Lächeln, der Lidstrich sitzt. Von stundenlangen Business-Meetings und Telefonaten: keine Spur mehr. Um elf Uhr abends, wenn in der bosnischen Stadt Tuzla längst alle Läden geschlossen sind, wenn der DJ die letzten Platten auflegt, tritt die 31-Jährige durch die Tür. Ein paar Freunde stehen an der Bar. "Na, sieht man dich noch hier?", fragt einer. "Spätschicht", sagt sie. "Für heute Feier­abend." Man könnte sagen: Selma hat es geschafft, sie hat Erfolg. Und das in einem Land, das für viele Menschen alles andere als traumhaft ist. Noch mehr als 25 Jahre nach dem Krieg haben besonders junge Bosnier mit wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen. Etwa die Hälfte aller Einwohner unter 25 Jahren ist ohne Job. Kinder können sich viele nicht leisten. Die Geburtenrate gehört in Europa zu den niedrigsten, sagen Statistiker.

Selma ist Rückkehrerin. Mit vier Jahren floh sie zusammen mit Mutter und Geschwistern in die Schweiz. 1997, nach dem Krieg, kam sie als Elfjährige zurück in ihre Heimat. Heute gehört Selma in Bosnien zu den gut Verdienenden. Mit ein paar Klicks auf ihrem Handy zeigt sie Fotos: Selma und Mann. Selma und Kind. Selma am Sandstrand. Selma an der Hochschule, bei ihrer Abschlussfeier. "Ich bin der Beweis dafür, dass man es auch hier zu etwas bringen kann", sagt sie.

Privat

Isabel Metzger

Isabel Metzger interviewte arbeitslose und perspektiv­lose junge Bosnier. Alle waren mutlos, nur eine Frau redet begeistert von Job und Familie – Selma. Ihre Botschaft: Du kannst vieles schaffen, wenn du es nur willst.

Wenn Selma heute von Bosnien spricht, dann fallen Worte wie Neu­anfang, "betterrr life", sagt sie. Mit amerikanischem Akzent. Es klingt wie ein amerikanischer Traum. An der Theke ihres Stammclubs stehen ­manche von Selmas Bekannten schon am Vormittag. Keine Arbeit. Wohin soll man schon gehen? Hier trifft man wenigstens die anderen, heißt es. Zwei Männer schimpfen über Korruption. "Bosnia fucked up", sagt einer. ­"Bosnien hat es vermasselt." In solchen Momenten fühlt sich Selma als ­Fremde: "Wir dürfen uns nicht kaputt machen lassen", sagt sie. Und: Die Flucht damals habe sie stärker ­gemacht.

An einem Tag im Sommer 1991 stoppte ein Panzer vor ihrem Haus. Serben hatten die Stadt Tuzla eingekreist. Die Mutter packte hektisch Tüten, danach die drei Töchter, den kleinen Sohn. Zu fünft floh die muslimische Familie über Straßen, Feldwege, eine notdürftig geflickte Brücke ans andere Ufer der Una, bis nach Kroatien – ohne Vater. Männer ­wurden für die Verteidigung der Stadt eingezogen.
Ihren fünften Geburtstag verbrachte Selma im Zug. Sie trug eine ­Tüte mit Unterwäsche zum Wechseln, an den Füßen Regenstiefel. Berge, ­Täler, Alpenwiesen flogen am Fenster vorbei. Wohin sie fuhr, wusste sie nicht. Zwei Tage später stieg Selma am Bahnhof Basel aus.

Heute gilt Selma als eine, die es im wirtschaftlich gebeutelten Bosnien geschafft hat

Was im Krieg in ihrer Heimat passierte, kennt Selma nur noch aus Erzählungen: Zwei ihrer Onkel wurden erschossen. Einer starb, als er mit dem Fahrrad für die Kinder Schokolade holte. Ein Unfall, sagte die Mutter zur Vierjährigen. "Eine Gedächtnislücke", sagt die erwachsene Selma. "Vielleicht ein Trauma", schiebt sie nach. Trauma bedeutet: Schwäche. Und schwach wollte Selma nicht sein, sagt sie. "In der Schweiz habe ich in einer anderen Welt gelebt."

Zur Schule ging Selma in Uiti­kon, einem Zürcher Vorort mit 4000 ­Einwohnern. In den Vorgärten sah Selma Swimmingpools, in den Wohnzimmern schwarz lackierte ­Flügel. Selma lebte in einer Flüchtlings­unterkunft mit 50 anderen ­Menschen. Ein Badezimmer pro Flur. Ihre Schweizer Klassenkameraden gingen am Wochenende zum Kite­surfen in die Berge. Selma spazierte nach der Schule über die Wiesen hinterm Haus, sammelte Blumen, klebte sie gepresst in ein Album. Vor dem Krieg waren ihre Eltern reich, sagt Selma. Der Vater leitete eine Autowaschan­lage mit zehn Angestellten. Einmal im Jahr fuhr die Familie an die Küste, einmal zum Skifahren. "Als Flüchtling habe ich gelernt, dass Glück bei kleinen Dingen anfängt", sagt Selma. Selmas Mutter weinte oft in der Schweiz. Im Fernsehen sah sie Bomben auf Bosnien niedergehen. Aus der Heimat kam alle paar Wochen ein Brief. Ein Helfer des Roten Kreuzes brachte Post zur Flüchtlingsunterkunft. War kein Brief für die Mutter dabei, stand die Mutter am Fenster und sah auf die Berge. Selma wollte nicht weinen. Sie wollte in der Fremde klarkommen, so gut es ging. In der Schulzeit fühlte ­sie, wie sie selbstständig wurde, sagt ­Selma. Presste deutsche Wörter in ­ihren Kopf – "Krokodil" war ihr ­erstes Wort. Es klang fast wie in ihrer Muttersprache. Eine Schweizer Schulfreundin nahm sie manchmal mit in die Berge auf eine Hütte, mit Blick nach Osten, über die Alpen. Für Selma
war es ein kleiner Luxus.

Deutschland wäre schön

Westeuropa, das klingt für viele Bosnier nach Neuanfang. Deutschland wäre schön, sagen Selmas Freunde. Vielleicht auch Österreich oder die Schweiz. "Junge Leute fühlen sich in Bosnien oft zukunftslos", sagt Albert Scherr, Soziologe an der Pädagogischen Hochschule Freiburg. "Besser qualifizierte Bosnier gehen ins Ausland." 4000 Menschen pro Jahr, laut Statis­tiken. Eine nur scheinbar kleine Zahl: In Bosnien und Herzegowina leben 3,7 Millionen Menschen, nicht wesentlich mehr als in einer Stadt wie Berlin.

Nach dem Friedensschluss von 1995 war sie mit der Familie nach Tuzla zurückgekehrt. Am Tag ihrer Ankunft stand die Elfjährige vor ­bröckelnden Fassaden. Regen ergoss sich auf die Straße. Unter ihren Schuhsohlen rann das Wasser in noch frische Einschussmulden im Asphalt. Eine Schwester weinte, ihr kleiner Bruder starrte stumm in fremde ­Straßen. ­Selma presste die Lippen zusammen. Als Kind habe sie be­schlossen zu kämpfen. Tuzla galt nach dem Krieg als libe­rale Arbeiterstadt. An den Straßen reihten sich Fabriken. Im Westen qualmten die Schlote eines Braunkohlekraftwerks. Die ersten Jahre für Selma waren hart: Die Familie stand vor dem Nichts, sie zog in den Stadtteil Miladije, "das Ghetto von Tuzla", sagt Selma. An den Straßen standen Drogendealer. Bei Ostwind wehte der Geruch einer Mülldeponie ins ­Viertel. In Miladije lebten die Underdogs: Flüchtlinge, Arbeitslose. "Viele Bewohner mochten uns damals nicht", sagt Selma. "Für sie waren wir feige Verräter, die erst abhauten und ihnen jetzt die Arbeitsplätze wegnahmen."

Auf der Flucht vor dem Krieg. Fotos einer Kindheit in der Schweiz: Vorschulkind Selma mit ihrer großen Schwester

Im Winter holte Selma morgens Kohlebriketts vom Keller in den ersten Stock, schürte den Ofen im Wohnzimmer. Eine Zentralheizung gab es nicht. Ihre Eltern hatten genug Sorgen, sagt Selma. "Da wollte ich mich wenigstens um die Heizung in der Wohnung kümmern." In der Schule musste sie ihre Muttersprache neu lernen. Bosnisch sprach sie nur gebrochen. Selma paukte verbissen. Nach der Schule wollte sie etwas Nützliches machen. Andere Eltern schickten ihre Kinder nach Sarajevo, manche ins Ausland: bessere Chancen, mehr Sicherheit. Selma ­studierte an der Hochschule Tuzla Jura. Für Sarajevo fehlte es ihrer Familie an Geld. "Es war nicht die richtige Zeit zum Träumen", sagte Selma.

Kurz vor Ende des Studiums wurde sie schwanger. Für Selma kam es wie ein Schock: Würden sie und ihr ­Partner das finanziell schaffen? ­Selma verschickte Bewerbungen, erhielt Absagen, versuchte es mit befristeter Arbeit. Nach dem Studium brachte sie Sohn Emil zur Welt. Auf alten Fotos lacht Emil beim Spaziergang durch den Stadtpark in die ­Kamera, Selma hält ihn vor roten Frühlingsblumen und blauem Himmel im Arm. "Unser Sohn hat uns noch einmal mehr moti­viert zu kämpfen."

"Ich habe hier in ­Bosnien ­alles ­erreicht, was ich wollte"

Dann kam die Jobzusage von einer amerikanischen Softwarefirma. Für ihre Familie sei es eine Erleichterung gewesen. Tagsüber sitzt Selma heute im Büro, telefoniert mit Kunden aus Westeuropa, den USA. Oft dauert ihre Arbeit bis spät am Abend, nicht immer kann sie Emil selber ins Bett bringen. Viele ihrer Freunde beneiden Selma. "Du hast es gut, du hast es geschafft", sagen sie. Einige leben inzwischen in Westeuropa, wollen nicht nach Bosnien zurück. Später vielleicht, im Alter als Rentner. Manche kaufen sich ein Ferienhaus am Rand der Stadt. Am früheren Militärflug­hafen landen Touristenflieger. Zehnmal am Tag, im Sommer öfter. Tuzla ist für viele ein Zwischenstopp, und für Selma ein Zuhause.

Selma möchte sich selbst nicht als reich bezeichnen, sagt sie. Ihr ­Monatslohn beträgt 450 Euro. In ­Tuzla reicht das Geld für sie, ihren Mann, das Kind und die Wohnung. Sie leben in einem Hochhaus, im ­besseren Teil der Stadt, sagt sie. Manchmal besucht ­Selma Freunde in der Schweiz. "Ich habe hier in Bosnien alles erreicht, was ich wollte", sagt ­Selma. Ihr ­Album mit Blumen aus der Schweiz hat sie heute noch.

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