Orgelbauer
Silke Wernet
Der Orgelmacher
Die UNESCO hat den Orgelbau zum Weltkulturerbe ausgerufen. Claudius Winterhalter ist ein Meister des komplizierten Handwerks: Die kleinste Pfeife ist gerade einmal so groß wie ein abgenutzter Bleistift, die größte misst fast sechs Meter, und dazwischen müssen 250 000 Einzelteile passen.
Kevin Benjamin RodgersPrivat
30.05.2018

Oberharmersbach im Schwarzwald, ein langgestreckter Weiler liegt zwischen tiefgrünen Tannenwäldern und Streuobstwiesen. Direkt in der Ortsmitte, etwas abseits der Straße, ein Haus mit hohen Buntglas­fenstern. Neben der Tür zum Innenhof steht auf einem schlichten Bronzeschild: "F. Winterhalter. Orgelbau". Dahinter ein hoher Raum, an den Wänden hängen Regale und Aluminium­leitern. Überall stehen Bretter und übermanns­hohe, in Folie verpackte Orgelpfeifen. Eine ­Hobelmaschine brummt, und es riecht nach Holz. Aus dem Büro auf der Galerie dringt das leise Tippen einer Computertastatur.

In diesem Büro werden Instrumente ge­plant, die seit einigen Monaten zum UNESCO-­Weltkulturerbe zählen: Orgeln. Claudius Winterhalter ist einer der besten Orgelbauer im deutschsprachigen Raum. Beinahe sein gesamtes Büro wird durch einen langen Tisch eingenommen, auf dem Dutzende Zeichnungen, Briefe und Dokumente verstreut ­liegen. Unter dem Tisch häuft sich ein großer Stapel Pergamentrollen, alte Entwürfe und Zeichnungen. Neue Entwürfe hängen an der Wand, Maßstab 1:10.

"Als junger Mensch hast du andere Flausen im Kopf"

Zu Winterhalters Werken gehört die Orgel der berühmten Wieskirche in Steingaden. ­Jedes Jahr baut er ein bis zwei Orgeln. Jede ist ein Einzelstück. Von Grund auf geplant, ­designt und größtenteils in Handarbeit gebaut. Acht Mitarbeiter beschäftigt Winter­halter in seinem Team. Die Werkstatt wurde 1955 von seinem Vater Franz gegründet, das Türschild seitdem nicht verändert. Dass der Sohn übernehmen würde, war keineswegs klar. "Als junger Mensch hast du ganz andere Flausen im Kopf", sagt Claudius Winterhalter. In den 70ern war er, ausgerüstet mit einer Querflöte und einer imposanten schwarzen Haarpracht, Teil einer Rockband, mit der er in Clubs spielte und durch das Land tourte. Dennoch schloss Claudius Winterhalter 1976 als einer der jüngsten Orgelbauer die Meisterprüfung an der Ludwigsburger Instrumentenbaufachschule ab. Längst sind die Gigs entspannten Grillpartys im Garten gewichen.

Kevin Benjamin RodgersPrivat

Kevin Benjamin Rodgers

Für Kevin Benjamin Rodgers, 26, war es etwas ganz Neues, im Innern einer Orgel zwischen Tausenden Pfeifen herumzuturnen.

Wie entsteht eine Orgel eigentlich? "Es gibt drei große Themen im Orgelbau. Die Gestaltung des Instruments, die Technik und der Klang", erklärt Winterhalter. Seine Arbeit vergleicht er mit der eines Architekten. "Wenn du ein Haus baust, dann sollte es gut aussehen. Das schönste Haus nützt dir aber nichts, wenn du keine Heizung, kein Wasser und kein Klo hast. Es muss auch gut bewohnbar sein."

In der Praxis sei die Situation für Orgelbauer kompliziert. "Für viele Kirchengemeinden ist eine neue Orgel ein riesiger finanzieller Kraft­akt. Die Reparatur des Dachs oder eine neue Heizung gehen vor", sagt Winterhalter. Gespart werde dann an der Größe der Orgel. Allerdings müsse das fehlende Volumen  durch Lautstärke kompensiert werden. "Aber guter Ton hat damit wenig zu tun."

Eine Viertelmillion Einzelteile

Orgeln zählen zu den kompliziertesten Instrumenten der Welt. Ein mittelgroßes ­Exemplar kann aus einer Viertelmillion Einzelteilen bestehen. Der größte Teil der Orgel wird in Winterhalters Werkstatt von Hand gebaut. Nur die Metallpfeifen kommen von einem Zulieferer aus Portugal. Das Holz für die Orgeln stammt vorwiegend aus dem Schwarzwald: Ahorn, Birne, Fichte und vor allem Eiche. Zudem werden Hirsch-, Elch- und Rindsleder im Inneren der Orgeln verwendet. Als Gewichte für den Blasbalg dienen gebrannte Klinkerziegel.

Winterhalter kombiniert neuartige Materialien und Techniken mit dem altbewährten Orgelbau. "Es gibt ja die Meinung, dass die ­Orgel in der Mitte des 19. Jahrhunderts zu ­Ende entwickelt war. Das ist natürlich absoluter Blödsinn." Von historischen Nachbauten hält er überhaupt nichts. "Es gibt Kollegen, die kopieren Orgeln aus früheren Zeiten. Das sind Repliken ohne kontemporäre künstlerische Aussage", sagt er. Sein Ziel ist es, dass die ­Orgel auch in einer jahrhundertealten Kirche klingt und aussieht, als ob sie schon immer da gewesen sei. "Sonst kann man auch ein Standardinstrument hernehmen. Aber das ist orgelgewordene Vorstadtarchitektur, und das klingt am Ende auch so."

In Gelnhausen, in der evangelischen Marien­kirche, entsteht gerade Winterhalters neueste Orgel. Pünktlich zu Pfingsten soll sie fertig sein. Winterhalter steigt die engen und abgewetzten Stufen des Hochaltars ­hinauf. Von hier oben hat er einen freien Blick auf die eingerüstete Hauptorgel. Neben dem Spieltisch am Fuß des Instruments lehnen ein paar ­Rollen mit Stoff. Einer soll später die ­Öffnungen des Sockelgehäuses verdecken. Winterhalter will die Wirkung der Stoffbahnen vor Ort beurteilen. Konzentriert schießt er ein paar Fotos mit seinem Smartphone. "Wenn solche Details nicht stimmen, kann man am Ende die ganze Orgel verhunzen", sagt er. Die Wahl fällt auf ein unauf­fälliges Hellbraun, das mit dem hellen Holz und den Ornamenten aus Blattgold harmoniert. 

Mehr als eine Million Euro kostet das neue Instrument

Claudius Winterhalter erfüllt ­dieses Handwerk mit Freude. "Mir war in meinem Leben noch nicht einen Tag langweilig", sagt er. "Ich schaffe ein Instrument, das hier hoffentlich noch jahrhundertelang stehen und vielen Menschen Freude bereiten wird." Für ihn ist die Orgel ein sakrales Ins­trument, gebaut für Kirchen. "Deshalb hätte ich auch nie einen Auftrag wie die Elbphil­harmonie angenommen." 

Die Orgel in Gelnhausen ist typisch für Winterhalters Handwerk, ein kompletter Neubau, der in das historische Gehäuse integriert wird. Windladen, Blasebälge, ein Hochleis­tungscomputer und über 3000 Pfeifen haben in den letzten anderthalb Jahren nach und nach ihren Platz gefunden. Die Orgel wiegt so viel wie ein kleiner Lkw und hängt, zehn Meter über den hinteren Kirchenbänken, wie ein Schwalbennest an der Sandsteinwand der Kirche. Das Instrument besteht aus der Hauptorgel, einem fahrbaren Spieltisch und einer Chororgel. "Eigentlich haben wir hier zwei Orgeln gebaut", erklärt Claudius Winterhalter, während er die Treppe vom Altar wieder heruntersteigt. "Man kann beide gleichzeitig bespielen, im Wechsel erklingen lassen oder nur eine der Orgeln nutzen. Gerade für kleinere Gottesdienste oder für die Begleitung von Chor und Orchester ist die kleine Orgel ideal." 

Die Kirchengemeinde Gelnhausen musste viel Geld auftreiben: Mehr als eine Million Euro kostet das neue Instrument. Daher vergehen oft viele Jahre, bis eine neue Orgel realisiert ­werden kann. Neben der Gemeinde und dem Orgelbauer haben auch noch der Denkmalschutz, ein Architekt und der Orgelsachver­ständige des jeweiligen Kirchenbezirks ein Wörtchen mitzureden. Zudem müssen mindes­tens 50 Prozent des Kaufpreises angespart sein, damit eine Ausschreibung stattfinden kann.

Das tiefe C hat eine ­Länge von fast sechs Metern

Ist die Finanzierung geregelt und das Konzept für die neue Orgel abgenommen, geht es an die Konstruktion. Die Orgel wird einmal komplett zusammengebaut, wieder auseinandergenommen und anschließend zur je­weiligen Baustelle transportiert. Vor allem die Orgelpfeifen sind empfindlich. Sie be­stehen aus vielen verschiedenen Zinn-Blei-­Legierungen und bekommen Flecken, wenn sie ­mit verschwitzten Handwerkerhänden berührt werden. Deshalb tragen die Orgelbauer ­Chirurgenhandschuhe, wenn sie die Orgelpfeifen auf die Register stecken und stimmen. Nichts darf durcheinanderkommen. Die kleinste Pfeife ist gerade einmal so groß wie ein abgenutzter Bleistift. Die größte Pfeife der Gelnhausener Orgel, das tiefe C, hat eine ­Länge von fast sechs Metern.

Bevor auf der Orgel wirklich gespielt werden kann, müssen alle Pfeifen intoniert ­werden. Und das dauert. Ein guter Intonateur schafft maximal zwei Register am Tag. Die Orgel der Marienkirche hat mehr als 50 Stück. Übrigens sind noch Pfeifenpatenschaften zu vergeben – auch das hilft bei der Finanzierung. Vielleicht aus dem Register Geigenprinzipal? Oder lieber Trompete? Mehr Infos auf der Website der Marienkirche.

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