Heiligs Blechle
Die Göttin der grenzenlosen Mobilität im Realitäts-Check: Thomas Bayrle, „Madonna Mercedes“, 1989
Lukas Meyer-BlankenburgPrivat
16.10.2017

Nicht nur im Schwabenland dürften Autofahrer mit den Scheinwerfern rollen beim Anblick von Thomas Bayrles „Madonna Mercedes“ von 1989. Kein deutscher Künstler der Gegenwart nimmt den deutschen Autofetisch so gekonnt aufs Korn wie der gebürtige Berliner.

Bayrle ist ausgebildeter Weber. Ein klassischer Quereinsteiger, der sein Handwerk in den Dienst der Kunst stellt und sich damit den Ruf erarbeitet hat, einer der besten Pop-Art-Künstler seit Andy Warhol zu sein. In der Manier des großen Vorgängers webt Bayrle zusammen, was auf den ersten Blick nicht zusammengehört: Autobahnteile zu einem riesigen Modell des SARS-Virus, zum Beispiel. Oder klassische Verbrennungs­motoren, deren gleichmäßiger Zylinder-Lauf einen Rosenkranz betet. Die Blut-, Pardon, die Autobahnen der Deutschen und ihr Herz, der Verbrennungsmotor, stehen immer ­wieder im Zentrum von Bayrles Schaffen.

"Maria von der ­Gnade der Gefangenenerlösung" sprengt die Ketten der Unfreiheit

Wer jetzt denkt, der Künstler bringe auf recht plumpe Weise Religion und Auto zu­sammen, der kommt zu früh in die Gänge. Klar, Bayrles Madonna hier ist eine Collage aus lauter kleinen Mercedes-Bildern. Der Titel folgerichtig: „Madonna Mercedes“. Doch Onomastiker, dem Volksmund auch als ­Namenskundler bekannt, wissen: Mercedes ist nicht nur ein spanischer Mädchen­vorname, sondern steht hier auch für – Achtung: Anschnallen! – Maria de Mercede redemptionis captivorum, zu Deutsch: Maria von der ­Gnade der Gefangenenerlösung. Der sprechende Name erzählt noch vom hehren Anliegen Marias, der Menschheit mit Hilfe ihres Sohnes die Ketten der Unfreiheit zu lösen.

Aber, dürfen wir heute mit dem Künstler fragen, welches Anliegen hat die Mercedes der Straßen, Göttin der Motoren und Ab­gase? Die Menschheit mit dem Versprechen grenzenloser Mobilität von ihrem aufrechten Schleichgang zu erlösen, vielleicht. Wie bei ­jeder Religion kommt der Realitäts-Check zu einer vergleichsweise nüchternen Fest­stellung: Selbst PS-starke Gläubige landen, von 100 auf 0 Stundenkilometer in fünf ­Sekunden, stets am nächsten Stauende. Es empfiehlt sich daher, einen Gang zurückzuschalten. Dank ­Bayrle darf sich der kunstsinnige Autobe­sitzer darüber Gedanken machen, ob ein Glaube, der vor allem Berge von Feinstaub freisetzt, noch zeitgemäß ist. Der Blick über die eigene Schulter hilft oft eben nicht nur im Straßenverkehr. Heiligs Blechle!

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