#WK183 – Die dürfen wir wählen!
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#WK183 – Die dürfen wir wählen!
„Nils Husmann hat sich vorgenommen, die Direktkandidaten der demokratischen Parteien in seinem Wahlkreis Frankfurt am Main II wenigstens ein Mal im Wahlkampf persönlich zu erleben.“ – So stand es unter dem Porträt über den Kandidaten Stefan Maria Stader, der in der Lutherstadt Wittenberg um ein Bundestagsmandat kämpft. Geschrieben, getan: chrismon-Redakteur Nils Husmann lernt „seine“ Kandidaten für den Wahlkreis kennen. Er war froh, die Wahl zu haben - und hat sich nun entschieden, wer seine Stimme bekommt
Tim Wegner
04.09.2017

Freitag, 22. September 2017

Übermorgen ist Bundestagswahl. Welche Partei ich mit der Zweitstimme wähle, weiß ich schon, aber das behalte ich dann doch lieber für mich.

Aber was mache ich nun mit meiner Erststimme?

Das Ergebnis bei den Erststimmen folgt meistens dem Trend bei den Zweitstimmen. Im Wahlkreis Frankfurt II wird aller Voraussicht nach Bettina Wiesmann das Direktmandat erringen. Und ich finde, dass sie gegenüber ihrer Vorgängerin ein Gewinn für Frankfurt wäre. Bettina Wiesmann tritt verbindlich auf, sie hört zu, wählt eher ein weiteres Argument als eine schnelle Zuspitzung, auch wenn es für die mehr Applaus gibt. Und sie war sich nicht zu schade, einen Sonntagnachmittag auf dem Feuerwehrfest in Kalbach zu verbringen. Das hat mich sehr an den Kandidaten Stader in Wittenberg erinnert. Aber mich trennt inhaltlich zuviel von ihrer Partei, der CDU, als dass ich sie wirklich wählen wollte.

Ulli Nissen von der SPD ist auch eine sehr respektable Kandidatin. Aber sie wird dem Bundestag ohnehin ziemlich sicher erneut angehören, weil sie einen guten Listenplatz hat. Das gilt auch für Omid Nouripour. Ohne seine außenpolitische Expertise würde dem Bundestag eine echte Kapazität fehlen. Aber sollten die Grünen nicht sensationell als der Fünf-Prozenthürde scheitern, zieht auch er wieder in den Bundestag ein. Monika Christann hat sich für mich inhaltlich kaum abgehoben von der dem linken SPD-Flügel angehörenden Ulli Nissen. Also: leider nein.

Ich stehe vor dem Dilemma, meine Stimmen einem Kandidaten geben zu müssen, der keine Aussicht hat, das Direktmandat zu erringen. Aber was heißt hier eigentlich „müssen“? Ich nehme mir die Freiheit, eine echte Personenwahl zu treffen! Ich hätte im August nie gedacht, dass ich mit Sebastian Alscher einen Piraten wählen werde. Aber erstens ist er mir sehr sympathisch. Zweitens, und das ist noch wichtiger, ist mir eines seiner zentralen Anliegen – die Datensicherheit – so wichtig, dass ich mit der Wahl Alschers den anderen Parteien signalisieren möchte: Liebe Leute, die Digitalisierung ist nicht nur ein Wachstums- und Jobmotor, sondern ein Freiheitsthema! Was mit unseren Daten geschieht, inwieweit unsere Kommunikationsströme überwacht werden, ist eine drängende Frage unserer Zeit! Bestimmt ist das auch ein Thema für Katharina Schreiner, die mir mit ihrer Ehrlichkeit imponiert hat und von der man sicher noch hören wird.

Leider habe ich es nicht geschafft, alle Kandidaten zu erleben. Die Freien Wähler haben sich auf Twitter nicht zurückgemeldet. Anders als Bernadette Leidinger-Beierle von der „Internationalistischen Liste“. Aber die Zeit, sie noch zu treffen, fehlte am Ende. Über ihre politischen Ziele kann man sich hier informieren.

Ich habe meine Erststimme noch nie so fundiert vergeben wie dieses Mal. Mir ist klar geworden, wie viele Menschen dafür kämpfen, dass wir eine Wahl haben. Wir sollten sie nutzen, zumal in einer Zeit, in der Hass und Demokratiefeindlichkeit bis in die Mitte der Gesellschaft hinein salonfähig geworden sind.

19. September

Hoppla, was hat das jetzt zu bedeuten? Ich stehe unter einer Eiche in Frankfurt-Eschersheim und warte auf Katharina Schreiner, Direktkandidatin der FDP, als mir ein Vogel auf Jacke, Hose und meine rechte Schreibhand macht. Ein Zeichen? Will das Schicksal mir gar bedeuten, dieses Mal FDP zu wählen?

Es wäre, ehrlich gesagt, das erste Mal. Eines hat der Vogel aber schon mal geschafft: Frau Schreiner kann zeigen, dass sie ein hilfsbereiter Mensch ist. Sie kramt ein Taschentuch aus ihrer Handtasche, dann kann es losgehen mit meinem Liberalitätstest, den ich mir ersonnen habe.

Aber erst kurz noch zwei Fragen vorab: Seit einigen Tagen wirbt die FDP auf einem Plakat entlang meines Arbeitsweges offensiv um Zweitstimmen. Für eine Frau, die um Erststimmen kämpft, muss das doch eher blöd sein, oder? Und überhaupt, wie ist das, wenn eine Partei anscheinend die ganze Kampagne auf eine Person hin plant, auf Christian Lindner?

Katharina Schreiner, Direktkandidatin der FDP

Katharina Schreiner weiß, dass „die Wahrscheinlichkeit für mich sehr gering ist“, den Wahlkreis 183 zu gewinnen. Sie mache das aber alles aus Überzeugung. Schließlich sei sie ja im Vorstand der Jungen Liberalen auf Bundesebene aktiv und wolle gerade deshalb zeigen, dass ihre Partei, die 2013 am Boden gelegen habe, wieder kämpfe. „Schon vor einem Jahr habe ich mich für die Kandidatur entschieden, und da waren die Umfragen noch nicht so gut.“ Und Lindner, überall Lindner? „Wir waren nicht im Bundestag, deshalb haben die Talkshowredakteure immer nur Kubicki und Lindner eingeladen.“

Es wird Zeit für meinen Liberalitätstest, ich würde mich nämlich durchaus als liberalen Menschen bezeichnen, Freiheit ist unbezahlbar. Aber wie steht die Vertreterin einer liberalen Partei zu Positionen, die mir wichtig sind und die ich mit Liberalität zusammenbringe? Zum Beispiel: das Tempolimit. Es mag ja sein, dass es Autos gibt, die sehr schnell fahren können. Aber wenn sie das auf der Autobahn, einem öffentlichen Raum, tun, dann schränken die Fahrer meine eigene Freiheit doch gleich wieder ein, indem sie mich gefährden. Katharina Schreiner: „Wo Straßen vernünftig ausgebaut sind, kann man ruhig schneller fahren. Auch auf der Frankfurter Theodor-Heuss-Allee wäre ja Tempo 30 nicht sinnvoll. Wer drängelt, muss bestraft werden, dafür gibt es Gesetze.“ – Mmh, das wird knapp mit meiner Erststimme.

Ehegattensplitting: Meine Frau und ich haben uns frei entschieden, beide berufstätig zu sein und die Familienarbeit untereinander gerecht aufzuteilen. Wir verdienen gleich viel, profitieren aber nicht vom Ehegattensplitting, während Paare mit traditioneller Rollenverteilung steuerlich deutlich besser dastehen. Wie kann das liberal sein? „Das Ehegattensplitting steht in unserem Parteiprogramm, aber ich bin dagegen. Leider habe ich mich nicht durchgesetzt.“ – Das ist eine ehrliche Aussage!

Dienstwagenprivileg: Ich finde, es ist nicht liberal, den Verkauf besonders großer Autos über eine verkappte Subvention ohne ökologische Leitwirkung zu fördern und die Bürger dafür über das Steuersystem zahlen zu lassen. Katharina Schreiner sagt: „Damit bin ich überfragt, weil ein Auto für mich gar kein Statussymbol mehr ist. Das wäre für mich ein Sabbatical.“ – Auch ehrlich, zumal Frau Schreiner schon nach dem Weg zur U-Bahn gefragt hat. Sie ist 30 Jahre alt, und vielleicht stimmt das Klischee ja doch, dass junge Menschen nicht mehr so auf Autos abfahren.

Letzte Testfrage: Wie neu ist die FDP, die bei ihrer letzten Regierungsbeteiligung mit der CDU/CSU noch einen verringerten Mehrwertsteuersatz für Hoteliers durchbrachte, denn nun wirklich? Katharina Schreiner: „Ich will weg von der Steuersenkungspartei, hin zu den Themen Digitales und Bildung.“

Ob das stimmt, wie ernst es gemeint ist, werden wir aller Voraussicht nach in der kommenden Legislaturperiode erleben. Wenn Menschen wie Katharina Schreiner in der FDP durchsetzungsstark sind, würde mich eine Jamaica-Koalition jedenfalls nicht überraschen.

 

Montag, 18. September 2017

Es rumort in der Aula der Helmholtzschule. Kein Wunder. Das Thema Einwanderungspolitik steht an, alle sind gespannt, was AfD-Kandidat Steffen Reichmann wohl sagt. Viele der Schülerinnen und Schüler in der Großstadt Frankfurt haben einen Migrationshintergrund, im Publikum sitzen junge Frauen mit Kopftuch. Moderatorin Deliane will von Steffen Reichmann wissen: „Wie soll sie denn nun aussehen, die AfD-Flüchtlingspolitik?“

"Ich bedauere, dass ich das nicht mit Quellen belegen kann"

Reichmanns Antwort: „Nach bestimmten, offiziellen Erhebungen gibt es in Afrika mehrere 100 Millionen Menschen, die fliehen wollen.“ So ein Satz sitzt natürlich erstmal. 100 Millionen? Es ist wohl jedem im Saal klar, wie groß die Herausforderung für Europa und Deutschland wäre. Die Aussage ruft Omid Nouripour auf den Plan: „Wessen offizielle Aussage meinen Sie?“ - „Das ist eine Umfrage aus Großbritannien, ich bedauere, dass ich das jetzt nicht mit Quelle belegen kann,“ antwortet Steffen Reichmann.

Deliane setzt nach: „Was haben Sie denn nun konkret vor?“

Wieder holt Steffen Reichmann aus: „Wir wollen die Fluchtursachen bekämpfen. Wir wollen, dass Flüchtlinge nahe an ihrer Heimat untergebracht werden, wenn sie fliehen. Und warum nimmt das reiche Saudi-Arabien niemanden auf? Dann werden kulturelle Unterschiede zwischen Europa und muslimischen Ländern weitgehend vermieden.“

Aha. Zugespitzt lautet die Aussage der AfD also: Wandern Muslime zu, gibt es zwingend Probleme.

Was unser Essverhalten mit Fluchtursachen zu tun hat

Es ist wieder Nouripour, der am schnellsten reagiert. Fluchtursachen haben für ihn durchaus auch mit unseren Nahrungsgewohnheiten zu tun: Das Bundestagsmitglied erklärt, in Deutschland werde fast nur noch Hühnerbrust gegessen. Andere Teile der Hühner würden in den Senegal exportiert, die Geflügelzüchter dort könnten in diesem Wettbewerb nicht mithalten und müssten zugleich erleben, wie die im reichen Norden verursachte Erderwärmung ihre Existenzgrundlage gefährde. „Ich will, dass die Menschen dort in Frieden leben, wo sie heute schon leben, aber das müssen wir ihnen auch ermöglichen.“ Dazu gehöre auch, dass Deutschland seine Rolle als Waffenexporteur hinterfrage. Nun klatscht sogar Nouripours politische Konkurrentin Ulli Nissen von der SPD, die neben Steffen Reichmann sitzt.

Das ermutigt den Grünen-Politiker, nachzulegen und in die Aula zu rufen: „Herr Reichmann, ich bin Iraner, ich bin Deutscher, ich bin Schiit und liebe Sunniten, und wenn mich jemand fragt, wer ich bin, sage ich: Ich bin Sushi. Unseren Kindern geht es ganz gut damit, die klauen auch nicht.“ Wieder hat Nouripour tosenden Beifall ausgelöst.

Die Rednerinnen und Redner, die auf Nouripour folgen, argumentieren weniger pointiert, aber doch deutlich gegen die AfD. Monika Christann betont, die AfD leugne den Klimawandel, schlage aber auf der anderen Seite politisches Kapital aus der Tatsache, dass es Klimaflüchtlinge gebe. Ulli Nissen lässt den Blick über das Publikum schweifen und sagt: „Wenn ich mir die bunte Schülerschaft angucke, erschrecke ich über ihre Wortwahl.“

"Es ist tabuisiert, über Probleme mit Migration zu reden.“

Den Vorwurf der Fremdenfeindlichkeit weist Steffen Reichmann zurück. Er habe selbst im Ausland gelebt, in Tschechien und Frankreich. „Aber es ist tabuisiert, über Probleme mit Migration zu reden.“

Nicola Beer von der FDP macht klar, dass Flüchtlinge wieder in ihre Heimat zurückkehren müssten, wenn dort Frieden herrsche. Sie wirbt für ein Einwanderungsrecht, damit die Politik zukünftig steuern könne, wer ins Land kommt; dann solle es nach Sprachkenntnissen, Qualifikation und Integrationsbereitschaft gehen. Das Asylrecht und die Verpflichtung, Flüchtlingen Schutz zu bieten, will sie verteidigen – ebenso wie Bettina Wiesmann, die es gut findet, dass die AfD in die Schule eingeladen worden sei. „Wir müssen uns mit dieser Partei auseinandersetzen.“ Integration gelinge aber nicht, wenn man immer alle Erfolge schlecht rede.

Noch bevor die beiden Moderatorinnen die Diskussionsrunde schließen, bildet sich eine lange Schlange von Schülerinnen und Schülern, die Fragen haben. Ein junger Mann will wissen: „Herr Reichmann, wie kommen Sie darauf, dass der Islam an sich schlecht ist?“ Der Kandidat antwortet, dass viele Migranten sich nach Jahrzehnten nicht mehr von den Menschen im Zuwanderungsland unterscheiden. „Das ist bei den Muslimen weniger erfolgreich.“ Er zitiert den Ruud Koopmanns, den Direktor der Abteilung Migration, Integration, Transnationalisierung am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung: 40  Prozent der Muslime stellten die Werte des Islams über die der Gesellschaft, in der sie lebten. Dass die Arbeiten von Ruud Koopmanns umstritten sind, erwähnt er nicht.

Die Veranstaltung ist zu Ende - die Schüler bleiben

Ich bin hin- und hergerissen. Eine 90 Minuten lange Schulveranstaltung ist auf eine Art typisch für den ganzen Bundestagswahlkampf. Es dreht sich immer alles um die AfD. Im TV-Duell war zwischen Angela Merkel und Martin Schulz war die AfD nicht eingeladen, ihre Themen dominierten aber trotzdem die Agenda der Moderatoren. Das ist in der Helmholtzschule nicht anders. Dennoch bin ich beeindruckt. Warum? Als die Veranstaltung vorbei ist, bleiben viele Schülerinnen und Schüler, klettern auf die Bühne, umringen die Kandidaten. Besonders Steffen Reichmann.

Sie löchern ihn mit Fragen. Eine junge Frau gibt sich selbst als Muslimin zu erkennen und will wissen, warum Reichmann eben auf dem Podium das rückständige Frauenbild im Islam betont habe, die AfD in ihrem Programm aber die Drei-Kind-Familie lobe, in der die Frau am besten in den ersten Jahre zu Hause bleiben solle. Das sei doch auch kein fortschrittliches Frauenbild. 

Immer wieder verrennt Reichmann sich seinen Versuchen, Antworten zu finden. Setzt ihn eine Frage zu sehr unter Druck, betont der die Basisdemokratie der AfD. Es reiche eben manchmal, wenn eine Position nur knapp mehr als die Hälfte an Zustimmung bekomme, um zur Position der Partei zu werden, die er dann vertreten müsse. Andere Antworten beginnt er mit einem Rückgriff auf die Aufklärung, auf die Trennung von Staat und Religion. Aber nur selten lässt sich am Ende der Antworten erahnen, wohin sie führen sollte.

Auf die Frage nach der Lohnlücke zwischen Männern und Frauen in Deutschland liefert der Kandidat kaum mehr als ein „Das hat sich nun mal so entwickelt“. Damit sind die Schüler nicht zufrieden, sie haken nach, wollen wissen, ob Steffen Reichmann grundsätzlich Unterschiede zwischen Männern und Frauen sehe. Er antwortet mit Erinnerungen an seine Wehrdienstzeit bei der Bundeswehr, wie das gewesen sei mit sechs Männern in einem Zimmer. Am Ende soll das wohl heißen: Ja, es gebe Unterschiede.

Am meisten beeindruckt mich die Frau, die Herrn Reichmann von den AfD-Wahlplakaten erzählt, die sie auf dem Schulweg sehe. „Der Islam gehört nicht zu Deutschland“, stehe dort. „Sie verbreiten Angst“, erklärt sie dem Politiker mit weit aufgerissenen Augen, „und wissen Sie, wie ich mich als Muslimin fühle, wenn ich sowas sehe?“

Der Kandidat schweigt eine Weile, ehe er wieder weit ausholt mit seiner Antwort, die im Nichts enden wird.

 

 

Freitag, 15. September 2017

 Nils Husmann

Ein lautes Stimmengewirr erfüllt die Eingangshalle der Helmholtzschule, einem Frankfurter Gymnasium. Viele Schüler drängen sich vor einer Treppe und wollen hinauf Richtung Aula. Für mich wartet dort oben ein großes Reporterglück: Viele der Direktkandidaten aus dem Wahlkreis 183 sitzen auf einem Podium, um mit den Schülerinnen und Schülern zu diskutieren. Alle einzeln zu treffen – puh, das wäre knapp geworden.

Zwei Schülerinnen moderieren die Veranstaltung, Zara und Deliane, sie werden es am Ende besser machen als die Moderatoren des TV-Duells. Zwei Schwerpunkten haben sich die Schüler und ihr Lehrer Oliver Knothe – Fachbereichsleiter im Fachbereich Gesellschaftswissenschaften - ersonnen, Bildung und Einwanderungspolitik.

Die Kandidaten geben sich die Hand

Irgendwie beruhigend: Die Kandidaten begrüßen sich per Handschlag, bevor sie sich setzen. Der Respekt ist auch im Wettstreit nicht verloren gegangen. Ich zähle durch und bin erleichtert: Neben Bettina Wiesmann, die ich ja schon vom Feuerwehrfest kenne, sind Omid Nouripour (Grüne), Monika Christann (Linke), Ulli Nissen (SPD) und Steffen Reichmann (AfD) in die Helmholtzschule gekommen. Vier auf einmal! Dazu gesellt sich noch Nicola Beer von der FDP, sie kandidiert im Nachbarwahlkreis für ein Direktmandat, hat aber als Erstplatzierte auf der Liste ihres Landesverbandes beste Aussichten, bald im Bundestag zu sitzen, sofern die Umfragen nicht komplett daneben liegen.

Das hat sie mit Omid Nouripour gemeinsam. Auch er dürfte es über die Landesliste – in seinem Fall die der Grünen – wieder nach Berlin schaffen. Er hat an diesem frühen Nachmittag ein Heimspiel, die Herzen fliegen ihm zu. „Sie haben bei meiner Vorstellung meinen wichtigsten Job vergessen“, sagt der außenpolitische Sprecher seiner Fraktion in Richtung der beiden Moderatorinnen, „ich bin der Vorsitzende des Fanclubs der Frankfurter Eintracht im Deutschen Bundestag!“ Die Leute im Saal lachen, jubeln und klatschen. So laut wird es an diesem Tag nur noch selten. Heijeijei. Ist zwar lustig, aber auf eine Art auch ganz schön populistisch.

Bildungspolitik also. Schon des Ortes wegen ist das eine gute Wahl. Und das Thema spielt inhaltlich leider kaum eine Rolle im Wahlkampf. Das liegt wohl auch daran, dass über ein Drittel der 61,5 Millionen Wahlberechtigten älter als 50 Jahre ist. Vermutlich haben nicht besonders viele Menschen aus dieser Wählergruppe noch Schulkinder. Und die eigene Schulzeit ist lange her. Dagegen sind bundesweit nur drei Millionen Wahlberechtigte Erstwählerinnen und Erstwähler, die viel besser als Politiker wissen, woran es im Bildungssystem fehlt.

Verteididungspolitik in der Aula

Monika Christann von den Linken ist der Ansicht, dass die Bundesregierung dem Ziel der Nato nicht folgen soll. Das Verteidigungsbündnis strebt an, dass die Mitglieder – also auch Deutschland – zwei Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes für die Verteidigung ausgeben sollen. In Deutschland sind es  1,22 Prozent. „Das wären 33 Milliarden Euro mehr, und die sind in den Schulen besser aufgehoben als in der Rüstung“, so Christann. Das Kooperationsverbot will sie aufheben, Bildung wäre dann nicht mehr nur Angelegenheit der Landespolitik. Monika Christann steht auf Platz 9 der hessischen Landesliste ihrer Partei, die das Ziel formuliert hat, vier Kandidaten nach Berlin zu schicken. Das sieht also eher aussichtlos aus.

Auch Ulli Nissen von der SPD möchte mehr tun. Deutschland investiere weniger in Bildung als der Durchschnitt aller EU-Mitglieder. In den Schulen vermutet die SPD-Politikerin, die bereits im Bundestag vertreten ist, einen Sanierungsstau von 35 Milliarden Euro. Auch sie möchte das Kooperationsverbot aufheben. Ulli Nissen steht auf Platz 6 der hessischen SPD-Landesliste – das sollte wohl auch ohne ein direkt errungenes Mandat zum Wiedereinzug in den Bundestag reichen.

Bettina Wiesmann möchte, dass die Länder die Zuständigkeit für die Schulpolitik behalten. Sie verspricht sich davon einen Wettbewerb der Ideen. „Wenn wir alles gleich machen, haben wir vielleicht am Ende nur Mittelmaß.“ Dass der Bund finanzschwache Kommunen bei der Sanierung von Schulen mit 3,5 Milliarden Euro unterstützt, trägt sie aber mit. Dafür hatte die Bundesregierung das Kooperationsverbot gelockert.

Mehr Autonomie für Schulen?

Steffen Reichmann von der AfD teilt die Wiesmannsche Föderalismusthese vom Wettbewerb, in dem sich die beste Schulpolitik durchsetzen werde. Obwohl er mit Unbehagen verfolgt, dass Wechsel in den Landesregierungen immer wieder alles durcheinander wirbeln würden. Reichmann, der nicht auf der Landesliste seiner Partei steht, den Wahlkreis also direkt gewinnen müsste, um in den Bundestag einzuziehen, ist dafür, den einzelnen Schulen mehr Autonomie zuzugestehen. Diese Position hat er mit Nicola Beer gemeinsam.

In der Fragerunde wird klar, dass von Politikverdrossenheit unter jungen Menschen keine Rede sein kann, wenn die Frankfurter Schülerschaft repräsentativ ist. Zum Beispiel will Leon wissen, warum Schulen überhaupt im Wettstreit miteinander stehen müssten. Die Frage freut Monika Christann von der Linken naturgemäß am meisten. Julian ist im Landesschülerrat. Dort trifft er auch Jungendliche aus anderen Teilen Hessens, die für ihre schulpolitische Arbeit viel weniger Geld hätten als er in Frankfurt. Ein Plädoyer dafür, die Schulen mit mehr Geld vom Bund auszustatten, damit die Schüler landesweit gleiche Chancen haben.

Teil 2 der Veranstaltung zur Einwanderungspolitik dann am Montag. Es wird: lebhaft.

Dienstag, 12. September 2017

Die Wahl rückt näher. Plötzlich reden die Kolleginnen und Kollegen in der Kantine ganz oft über Politik. Meist gehörter Satz: „Wen soll ich bloß wählen?“

Eine Frage sorgt für Ratlosigkeit, als ein Kollege erzählt: „Wir haben zwei Stimmen, klar. Aber muss ich beide Stimmen vergeben?“

„Wenn du nur eine Stimme vergibst, dann ist die Wahl ungültig!“, sagt eine Kollegin. Mein Gegenüber erwidert: „Klar geht das, wenn ich nicht überzeugt bin!“

Und nun? Einfach mal beim Bundeswahlleiter fragen, dort muss man es doch wissen. Und wie schon beim Versand des Musterwahlzettels für meinen kleinen #WK183-Blog ist der Bundeswahlleiter sehr hilfsbereit und antwortet prompt:

Zum Grundsatz der Freiheit der Wahl zähle auch, dass jeder Wählerin und jedem Wähler die alleinige Entscheidung darüber obliege, nur eine der beiden zustehenden Stimmen abzugeben, keine davon oder aber beide.

Und weiter: „Wenn nur eine der beiden Stimmen abgegeben wird, die andere jedoch nicht, wird die abgegebene Stimme als gültige Stimme für die oder den Wahlkreiskandidat/-in oder die Landesliste gezählt. Die nicht abgegebene Stimme selbst zählt als ungültige Stimme.“

Es ist also so: Überzeugt Sie keiner der Direktkandidaten in Ihrem Wahlkreis, müssen Sie Ihre Erststimme nicht vergeben. Sie können aber auch nur einen Direktkandidaten mit Ihrer Erststimme wählen und die Zweitstimme weglassen – wenn Ihnen keines der Parteiprogramme passt.

Aber so weit, dass ich meine Erststimme einfach weglasse, bin ich längst noch nicht. Ich habe ja nicht mal alle Kandidierenden getroffen. Doch das wird sich bald ändern…

 

 

Montag, 11. September 2017

Ich bin wieder verabredet. Wir haben auf Twitter alle #WK183-Kandidaten gefragt, wer sich mit mir treffen möchte. Leo Fischer, Direktkandidat von Die PARTEI, hat geantwortet. Bedingung: Ich muss mein Bier selbst bezahlen. Aber für Bier ist es dann doch zu früh an diesem Freitagnachmittag. Fischer ist Autor der Satirezeitschrift „titanic“, früher war er dort sogar Chefredakteur. Oje, hoffentlich muss ich nicht wahnsinnig witzig sein!

Herr Fischer, warum tun Sie sich die Ochsentour einer Direktkandidatur an?

Es macht Spaß. Ich kann nicht anders. Mir erscheint das alles sehr notwendig.

Weil?

Das demokratische System ist in eine Krise geraten. Die Menschen sind frustriert. Die Rattenfänger auf der rechten Seite hoffen schon, dass die Frustrierten ihnen folgen. Wir wollen, dass die uns folgen. Es war nur konsequent, dass wir uns in AfD-Facebook-Gruppen beteiligt haben.

Dafür müssen Sie aber nicht in den Bundestag!

Ich denke auch, die ersten drei, vier Jahre im Parlament werden schwierig. Da muss man sich einarbeiten, um dann in der folgenden Legislaturperiode voll anzugreifen. Das außerparlamentarische Betätigungsfeld bleibt uns ja erhalten.

Sie kandidieren in dem Wahlkreis, den vor vier Jahren Erika Steinbach gewinnen konnte…

Und das bedeutet mir sehr viel. Wir sind uns ähnlich. Frau Steinbach kann ja auch an Unsinn verbreiten, was sie will. Ich will nun ganz in ihrem Sinne im Bundestag erreichen, dass wir die Grenzen so weit öffnen wie möglich. Wir wissen ja noch gar nicht, was für eine Bereicherung das ist.

Treffen Sie die anderen Wahlkreis-Kandidaten auf Veranstaltungen?

Nein. Ich werde konsequent nicht zu Diskussionsrunden eingeladen. Das muss man auch erstmal schaffen.

Mal ernsthaft: Wie steht es Ihrer Meinung nach um eine Gesellschaft, auf die Sie – um es vorsichtig zu formulieren – eher mit Sarkasmus und Zynismus reagieren?

Wir leiden unter einer Unfähigkeit, Konflikte auszutragen. Wir Deutschen sind eigentlich keine Demokraten, wir wollen verwaltet werden. Ich bin familiär bedingt häufiger mal in der Schweiz, dort gibt es eine ganz andere Debattenkultur. Die Schweizer geben Entscheidungen nicht ab, die gestalten aktiv mit.

Was wollen Sie in Berlin erreichen für den Wahlkreis 183?

Auf eine Art wird man ja auch weggewählt. Ich will den Frankfurtern nicht mehr zur Last fallen. Das können sie erreichen, wenn sie mich nach Berlin wählen. Ich biete die Chance, mich loszuwerden. Und Sie bestimmt noch nach dem Wohnungsmarkt gefragt hätten: Meine Wohnung würde ich bei Airbnb ins Internet stellen! Ich sehe zudem viele leere Ladengeschäfte und setze mich dafür ein, dass Menschen in Läden ziehen, um öffentlich zu leben.

Schon während des Interviews hatte Leo Fischer von seinem Wunsch erzählt, einmal eine Gesprächsrunde wie Alice Weidel, die AfD-Spitzenkandidatin zu verlassen. Wir sind zwar nur zu zweit, das Gespräch ist beendet und Fischer verabredet sich freundlich per Handschlag. Aber er zieht es trotzdem durch – und geht.

 Nils Husmann

Sonntag, 3. September 2017

Ist es zu fassen? Ich bekomme mein Heimspiel in diesem Wahlkampf! Am Samstag war ich extra – mit Kleinkind auf dem Fahrradsitz – in das ungeliebte, weil hektische Einkaufszentrum im Nachbarortsteil gefahren. Dort gibt es auch einen kleinen Wochenmarkt. Ich dachte: Drei Wochen vor der Wahl? Da sind doch bestimmt Kandidaten!  Aber da war niemand.

Und dann, einen Tag später, stupst mich ein Nachbar auf dem Feuerwehrfest an und sagt: „Guck mal, da ist eine Kandidatin!“ Und zwar Bettina M. Wiesmann, CDU. Man kann sagen: Sie ist die Favoritin im Wahlkreis, der auch bei Wahl 2013 an die Union gegangen war. Damals an eine gewisse Erika Steinbach…

Und nun, die Feuerwehrkapelle hat gerade aufgehört zu spielen, muss ich mich beeilen. Bettina M. Wiesmann muss los. Aber sie nimmt sich noch kurz Zeit, über das Thema zu sprechen, das meine Familie mit drei Kindern am meisten beschäftigt: der Immobilienmarkt in Frankfurt. Unsere Wohnung wird zu klein, aber was Größeres zu finden? Fast unmöglich!

Bettina M. Wiesmann, CDU
Ich merke, die Antwort ist für Frau Wiesmann Politikerinnenroutine, die Frage hört sie öfter. Sie hat eine Art Dreisatz entwickelt: Bauen. Kompromisse. Vernetzen. Bauen steht für sich, das wollen alle. Es gibt zu wenig Wohnraum in Frankfurt, und Frau Wiesmann sagt: „Daran ändert auch die Mietpreisbremse nichts.“ Aber Kompromisse? „Wir müssen dahin kommen, dass nicht jeder Nachbar ein neues Baugebiet mit Klagen zu verhindern sucht.“ Und Vernetzen: Frau Wiesmann will stärker mit den Frankfurter Nachbarkommunen zusammenarbeiten, die hätten mehr Platz zum Bauen. Und manche seien mit dem Nahverkehr schon sehr gut angebunden. Bei anderen Orten müsse man daran noch arbeiten.

Mmh. Klingt alles danach, als müssten wir viel Geduld haben. Aber eine komplizierte Antwort ist mir auf eine Art lieber als ein schnelles Heilsversprechen. Vielleicht sehe ich Frau Wiesmann ja auch wieder. Lohnt sich bestimmt: Sie hat vier Kinder, aber hat schon Karriere als Unternehmensberaterin und Landtagsabgeordnete gemacht. Wie schafft sie das?

Die Zeit bei meinem unerwarteten Heimspiel war  knapp. Hätte mein Nachbar doch eher was gesagt! Er hatte schon beobachtet, wie die Kandidatin an den Esstischen Flyer verteilte, als er selbst mit seiner Familie ein Würstchen aß. „Aber eher an die älteren Leute.“ Die, so dämmert mir, entscheiden diese Wahl wahrscheinlich auch.

Freitag, 18. August 2017

Sebastian Alscher, Piratenpartei

Manchmal stimmen Klischees. Sebastian Alscher erkenne ich schon von weitem daran, dass er aufs Handy guckt, offenbar sucht er nach dem Weg. Piraten-Mitglied eben, immer online. Aber ich soll mich nicht lustig machen, im Gegenteil, ich muss Sebastian Alscher dankbar sein, dass es diese kleine Serie gibt. Seine Freunde hatten uns nämlich an den Nachsatz unter dem Porträt über Stefan Maria Stader erinnert und über Twitter gefragt, wie weit ich denn damit sei, die Wahlkreiskandidaten zu treffen.

Und nun treffen wir uns, auf einen Kaffee. Und natürlich liegt diese eine Frage sofort in der Luft: Für die Piraten als Kandidat für ein Direktmandat zu kandidieren – das ist doch absolut aussichtlos!? Aber darum geht es Alscher nicht, er sagt: „Ich mache mir keine Illusionen, aber wir haben erlebt, dass die AfD mit zweistelligen Ergebnissen in Landtage eingezogen ist und dass die Bundesregierung schon jetzt den perfekten Überwachungsstaat errichtet. Und wenn eines Tages Bundesinnenminister Gauland diesen Überwachungsstaat erbt, will ich meiner kleinen Tochter wenigstens sagen können: Ich hab was dagegen unternommen.“

Aber wäre dann nicht auch die FDP eine passende Wahl gewesen, mit besseren Karriereaussichten? Oder die Grünen? Oder die Linken? Die FDP ist, findet Alscher, in einigen Fragen zu marktgläubig. Der Markt regele ja manche Dinge ganz gut, aber eben nicht alle. Die Linken sind ihm zu autoritär. Bei den Grünen mag er zwar einzelne Politiker wie Konstantin von Notz, der auch immer wieder vor den Überwachungsmöglichkeiten im Internet warnt. „Aber die Piraten hinterfragen sich immer, das gefällt mir.“

Hinterfragt hat er sich selbst auch. Alscher war mal Investmentbanker, macht nun aber ein Fernstudium zum Master der IT-Sicherheit und kümmert sich um seine Tochter. Bald kommt noch ein zweites Kind. Das ist mutig, finde ich. Und dann kann er bestimmt auch gut verstehen, dass Familien – ich selbst habe ja auch eine – endlich mehr und bezahlbareren Wohnraum brauchen. „Wir müssen das Land attraktiver machen“, sagt Alscher, „dazu gehört auch schnelleres Internet. Damit Leute nicht jeden Tag in die Ballungsräume pendeln müssen, sondern auch von zu Hause arbeiten können.“ Das mag ja nicht für alle Berufe gelten, aber es leuchtet mir ein.

Bevor ich Sebastian Alscher kennenlernte, dachte ich: Warum tut er sich das an? Nach unserem Treffen denke ich: Toll, dass er das macht! So habe ich eine Wahl mehr und könnte, auch wenn er natürlich keine echte Chance auf den Sieg im Wahlkreis 183 hat, wenigstens ein Zeichen an die Mitbewerber richten, dass ich manche seiner Ideen ganz gut finde.

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