Feierabendmahl am ehemaligen Todesstreifen der Berliner Mauer an der Bernauer Straße beim Kirchentag 2017 in Berlin
Feierabendmahl am ehemaligen Todesstreifen der Berliner Mauer an der Bernauer Straße beim Kirchentag 2017 in Berlin
Foto: Anika Kempf
Vom "Todesstreifen" zum "Lebensort"
Die Fürbitte donnert gegen die Hausfassaden: "Für alle Toten an Mauern und Grenzen . . . Für alle, die Verantwortung tragen für Freiheit, Gerechtigkeit und Menschenwürde . . . Für alle, die auch heute auf der Flucht sind."
Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff
27.05.2017

­­Berlin ist kein besonders religiöses Pflaster. Die öffentlichen Veranstaltungen des aktuellen Kirchentags wirken wie Fremdkörper in der Stadt. Schon am Abend der Begegnung am Mittwochabend war das so. Die Bürger scheinen gleichgültig gegenüber dem frommen Treiben auf den Straßen zu sein. Man kann hier drei Tage erkennbar als Kirchentagsbesucher in überfüllten Bussen und Bahnen hin und herfahren, ohne ein einziges Mal angepöbelt zu werden. Das war 2003 beim ökumenischen Kirchentag in Berlin noch anders.

In dieser wenig religionsfreundlichen Umgebung sollte es nun am Freitagabend ein öffentliches Abendmahl geben. Ein Feierabendmahl - das Format existiert beim Kirchentag seit den 1970er Jahren. Es ist gedacht als Mischung aus "Mahl zum Feierabend" und "Abendmahl als Feier".  Eine Feier des Lebens. Die von gestern fand auf dem ehemaligen Todesstreifen statt.

Eine Kapelle im Schussfeld der Grenzsoldaten

Die Kulisse "Gedenkstätte Berliner Mauer" an der Bernauer Straße ist eindrucksvoll. Von der alten Sperranlage sind zwar lediglich Ruinen erhalten, vollständig ist sie nur auf Fotos zu sehen. Aber das Grauen wird effektvoll angedeutet: Hier war der Signalzaun. Hier sind noch Betonreste des alten Patrouillenweges. Hier war ein Strahler in den Boden eingelassen. Touristen bestaunen die Mauerreste, sehen sich die Bilder der Mauertoten an, stehen andächtig vor dem Kreuz zu Ehren derer, die bei der Verlegung des alten Sophienfriedhofs nach dem Mauerbau nicht exhumiert und deren Gräber von der Todeszone überbaut wurden.

Auf der Bernauer Straße rauscht die Straßenbahn vorbei. Da, wo der vier Meter hohe Sperrwall aus Beton noch steht, hält er den Lärm von der Gedenkstätte fern. Etwas weiter die Straße hinab deuten aber nur noch rostige Eisenpfähle den weiteren Verlauf der Mauer an. Genau da, wo es offen zur Straße hin ist, steht die Kapelle der Versöhnung.

Sie ist ein karger ovaler Rundbau aus Stampflehm, umgeben von einem Palisadenzaun, der einen Rundgang umfasst. Sie wurde erbaut auf der Grundfläche der 1985 gesprengten Versöhnungskirche - die weichen musste, weil sie im Schussfeld der Grenzsoldaten stand.

Die Glocken läuten, eine Straßenbahn bimmelt

Vor der Kapelle ist ein blaues Podest aufgebaut, davor Papphocker. Auf die Rasenfläche rechts und links hat man Kartons mit Tüchern verteilt. Schon ab 18 Uhr besetzen die ersten Kirchentagsbesucher die Sitzhocker und die Rasenfläche zwischen den Kartons, eine Stunde vor Beginn des Feierabendmahls. Auf der Bernauer Straße geht das Leben weiter. Manche Touristen und manche Anwohner, die mit ihren Hunden Gassi gehen, bleiben ungerührt stehen und gucken, was die vielen Leute da vor der Kapelle machen.

"Todesstreifen" wird diese Gegend oft genannt. "Lebensort", ergänzt das Kirchentagsprogramm und erläutert: "Feierabendmahl an der Gedenkstätte der Berliner Mauer". Die Organisatoren wuseln herum, probieren die Mikroanlage aus. Marianne Birther soll die Predigt halten. Sie war von 2000 bis 2011 Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen aus der DDR-Zeit. Sie wohnt in Fußnähe.

Das Feierabendmahl beginnt mit dem Geläut dreier riesiger Glocken, die sich auf Ohrhöhe in einem blauen Gehäuse mitten im Sitzbereich befinden, zwischen den Papphockern. Wer sich frühzeitig einen von ihnen ergattert hat, muss vorübergehend zur Seite weichen, so laut ist das.

"Wir feiern die Gotteskraft, die Menschen ermöglicht, Mauern einzudrücken, damals wie heute" 

Die Band spielt auf, eine Prozession kommt aus der Kapelle, schwarz gewandete junge Leute mit Kirchentagsschals, dahinter die Pastoren mit blauen Tüchern. Die Pastoren der "Kirche am Weinberg" (einst in Ostberlin) und der "Versöhnungsgemeinde" (damals im Westen) stellen sich auf die Bühne. Sie sagen: "Wir feiern die Gotteskraft, die Menschen ermöglicht, Mauern einzudrücken, damals wie heute." Die Band spielt ohrenbetäubend laut, die Musik hallt von den Häusern an der Bernauer Straße zurück. Zwischen den Liedern hört man die Vögel zwitschern. Eine Straßenbahn bimmelt.

Auf der Altarbühne spielen Jugendliche die Szene aus dem Predigttext nach (2. Mose 24,9-11): "Mose und Aaron stiegen hinauf auf den Sinai und mit ihnen Nadab und Abihu und siebzig Älteste Israels" - die Jugendlichen steigen die Stufen zur Bühne hoch. "Sie sahen die Gottheit Israels" - die Jugendlichen posieren wie bei einer Gottesschau, jeder auf seine Weise. "Unter ihren Füßen war etwas wie ein Kunstwerk aus Lapislazuli, so klar wie der Himmel selbst" - zwei Mädchen wedeln Lapislazuli-farbene Bänder hin und her.  Und so weiter.

Ein Mann in hellbeiger Jacke und mit Hund steht auf dem Trottoir der Bernauer Straße und starrt herüber, ohne seine Miene zu verziehen.

Picknick im Todesstreifen - Dürfen die das?

Dann predigt Marianne Birthler. Über Blickkontakt, über Nähe und Abstand. "Der Mensch lebt von Begegnung. Auch an diesem Ort." Sie leitet zum Todesstreifen aus der DDR-Zeit über, zum ehemaligen Grenzstreifen. Sie erzählt, dass sie oft mit dem Fahrrad an der Gedenkstätte vorbeikomme und Jugendliche sehe, wie sie auf dem Rasen essen und trinken. "Dürfen sie das? Ja sie dürfen", findet sie. "Hier, wo wir uns befinden, ist ein guter Ort geworden -  aus einem Todesort." Birthler zieht Verbindungen zwischen den Toten an der DDR-Grenze und den Toten im Lapislazuli-farbenen Mittelmeer. Eine kurze Predigt, nachdenklich, aber nicht gerade wortgewaltig.

Auch die Fürbitte donnert durch die Mikrophone über die Wiese, über die Straße und gegen die Mietshäuser. "Für alle Toten an Mauern und Grenzen . . . Für alle, die Verantwortung tragen für Freiheit, Gerechtigkeit und Menschenwürde . . . Für alle, die auch heute auf der Flucht sind." Die Schatten haben sich über den Platz gelegt, es kühlt spürbar ab, man zieht die Jacken über.

Man solle das Abendmahl "in kleinen Gruppen an den Picknickboxen feiern", sagt Pastor Clemens Bethge durchs Mikrophon. Er sagt wirklich "Picknickboxen". Das Wort beißt sich mit der sonst eher salbungsvollen Sprache. Der Mann mit der hell-beigen Jacke und dem Hund steht noch immer da. Die Kirchentagsbesucher gruppieren sich um die Pappkartons herum und packen deren Inhalt aus: Brot, Saft, Becher, Käse, Weintrauben sind darin. Der Pianist hämmert jazzige Klänge in die Tasten. Jetzt bleiben auch einige ostasiatische Touristinnen verwundert stehen. So viel Picknick auf der Gedenkstätte, darf man das?

Man darf. Findet Marianne Birthler ja auch. Und es sieht erstaunlich friedlich aus, überall auf der Wiese kleine Decken, drum herum hocken acht bis zehn Menschen im Kreis. Nur 15 Minuten lang. Um Viertel vor Acht, nach dem Segen, löst sich die Menge wieder auf.

Der Mann in der hell beigefarbenen Jacke und sein Hund sind jetzt auch weg. Und der Verkehr auf der Bernauer Straße läuft ungerührt weiter. Die Straßenbahn rauscht vorbei.

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