Schwester Erika und ihr Patenkind Jan
Schwester Erika und ihr Patenkind Jan
Alice-Salomonhaus
Und dann sind sie wieder weg
Im Alice-Salomon-Haus finden Schwangere und junge Mütter ein Zuhause auf Zeit. Und Diakonissen, die die Familien ins Herz schließen und wieder loslassen müssen
22.03.2017

Jan will nicht weiter. Keinen Schritt. Fest haften die Kinderschuhe auf regennassem Herbstlaub. Doch mit jedem Schritt, den Schwester Erika sich weiter entfernt, schauen seine Augen unsicherer. Langsam dreht sie sich um, taxiert den kleinen Sturkopf. Ihr Blick wirkt, eingerahmt vom grauen Kurzhaarschnitt und Brille, strenger, als er gemeint ist. Mit ihren Armen breitet sich das Lachen auf ihrem Gesicht aus: „Wer kommt in meine Arme?“ Jan fliegt auf Schwester Erika zu. Vielleicht zum letzten Mal.

Jan ist so etwas wie ihr Patenkind auf Zeit. Im August 2015 ist er mit seiner Mutter ins Alice-Salomon-Haus gezogen, einer Mutter-und-Kind-Einrichtung der Stiftung Sarepta in Bethel. Hier bekommen junge Mütter Unterkunft, Kitaplatz und, wenn sie möchten, auch eine Diakonisse zur Unterstützung. Schwester Erika holt Jan jeden Dienstag zum Spazierengehen, Spielen und Essen ab. Die meisten Mütter bleiben nicht lange, und auch Jans Mutter zieht in einer Woche nach Berlin. Es ist der letzte Spaziergang vor ihrer Abreise. Schwester Erika hat keine Kinder, obwohl sie früher mindestens sechs Jungs wollte. „Es hat ja fast geklappt – mit Jan sind es jetzt ein Mädchen und vier Jungs“, scherzt die Diakonisse der Sarepta-­Schwes­ternschaft.

„Ecka! Bagga!“ Aufgeregt zieht Jan an Schwester Erikas Hand und deutet auf die drei Bagger in der Baugrube vor ihnen. Als er auf einem Fahrersitz Platz nehmen darf, wird er still. „Sag Danke und Tschüss!“ Auch wenn er „Danke“ noch nicht so verinnerlicht hat wie „Erika“ und „Bagger“, sind solche Wörter der Diakonisse wichtig: „Ich weiß nicht, was die Kinder zu Hause lernen, aber ich versuche, ihnen etwas von meinen Werten mitzugeben.“ Vor zwölf Jahren hat die gelernte Kinder­krankenschwester das erste Mal eine Patenschaft auf Zeit übernommen. Laura war ein Wirbelwind, zu ungestüm für die älteren Diakonissen. Mit ihr lernte Schwes­ter Erika, unter jeden Stein zu schauen, auf Spielplätzen Abenteuer zu erleben. Nach einem Jahr zog Lauras Mutter weg. Der Abschied kam überraschend.

"Man muss die Kinder loslassen und in Gottes Hand geben"

Mit Jan geht sie zum Abschied noch­ ­einmal zur backsteinroten Zionskirche, dem zweithöchsten Punkt in Bethel. Schwester Erika schnauft auf den letzten Metern.„Mit Kindern brauche ich kein Fitnessstudio“, sagt die Rentnerin. Am Eingang nimmt sie Jan auf den Arm. Zusammen streicheln sie die zwei Engelköpfe an der Tür. „Komm! Heute zünden wir für deine Mama und dich eine Kerze an, damit es euch gutgeht in Berlin.“ Immer wenn ein Kind wegzieht, braucht Schwester Erika eine Pause. Zwei, drei Monate, um die Seele hinterher­kommen zu lassen, wie sie sagt. In dieser Zeit verschwinden Holzeisenbahn und Stofftiere vom Teppich im Wohnzimmer, werden zu den anderen Spielsachen verbannt, die im Keller oder auf dem Kleiderschrank lagern.

„Man muss sie loslassen und in Gottes Hand geben“, sagt Schwes­ter Erika. Bisher hat der Kontakt zu keiner Mutter gehalten. Zu unangenehm sei ihnen vermutlich die Erinnerung an diese schwierige Zeit in ihrem Leben. Alle Mütter im Alice-Salomon-Haus sind alleinerziehend. Meist ist das Kind nicht geplant, die Mutter noch jung und vom Jugendamt in die Einrichtung vermittelt. Einige nutzen die Unterstützung, um trotz des Kindes eine Ausbildung machen zu können. Im Durchschnitt bleiben sie ein bis zwei Jahre. Einmal brachte Schwester Erika einer Mutter nach dem Auszug noch ein selbst gemachtes Fotoalbum vorbei und machte ein Foto von dem Jungen. Es steht in ihrem Bücherregal.

Der Kinderwagen rattert über den Kies. Jan schläft, und kurz vor seinem Zu­hause kämpft Schwester Erika mit sich. „Ein Abschied geht nicht ohne Tränen“, sagt sie. Aber vielleicht wird ja dieses Mal alles anders. Mit Jans Mutter hatte sie guten Kontakt, hat ihr beim Umzug geholfen, ist mit zum Bewerbungsgespräch für eine zweite Ausbildung im Beauty- und Wellnessbereich gefahren. Seit ein paar Wochen besitzt Schwester Erika ein Smartphone, und sie und Jans Mutter schreiben sich. Vielleicht pfeift an Jans zweitem Geburtstag ihr Handy und sie sieht, wie er sich über ihr Geschenk freut: einen Plüschschaf-Rucksack, gefüllt mit Spielsachen. Zum Abschied bekommt auch er zwei ­Fotoalben. Sie sind voll mit Bildern aus der gemeinsamen Zeit. Auf der letzten Seite steht ein Segen. Und ihre Kontaktdaten. Nur für alle Fälle.

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