Anne Vagt
Lasst sie nicht allein!
Um gewalttätige Islamisten muss sich die Polizei kümmern, aber die "Generation Allah" ist ein Fall für uns alle, sagt Ahmad Mansour
01.01.2017

Kurz nach den Pariser Attentaten im November 2015 erhielt ich eine E-Mail von einem Lehrer aus Nordrhein-Westfalen. Er erzählte von Zuständen an seiner Gesamtschule, die ihm Sorgen machen. Manche seiner muslimischen Schüler hatten die Schweige­minute für die Opfer der Attentate boykottiert: 130 getötete und rund 350 verletzte Menschen. Er berichtete von Schülern, die sich plötzlich massiv von anderen abgrenzten und Mitschüler abwerteten. Er machte sich Sorgen und suchte Hilfe. Ob ich eine Fortbildung oder einen Vortrag in ihrer Schule halten könne?

Ahmad Mansour

Ahmad Mansour ist Psychologe und Extremismusfachmann. Er schrieb das Buch "Generation Allah: warum wir im Kampf gegen religiösen Extremismus umdenken müssen".

E-Mails und Briefe wie diese bekomme ich häufig. Lehrer ­wollen, dass jemand von außerhalb der Schule ihnen zuhört, ihre Zweifel bestätigt. Wenn ich dann die Schulen besuche, merke ich oft vor allem, wie viel Neugier und Offenheit bei den Jugendlichen und ihren Lehrern besteht und wie viel Potenzial es gibt, mit den Jugendlichen zu arbeiten, egal, ob die Sorgen ihrer ­Lehrerinnen und Lehrer berechtigt sind. Zugleich wird klar: Diese Aufgabe ist groß, ein bundesweites Konzept für den Schulunterricht fehlt komplett. Das müssen Schulbehörden, Politiker und Fachleute jetzt liefern.

Im Juli 2016 beherrschten erneut grausame Attentate die Schlagzeilen. In Nizza, Würzburg und Ansbach setzten junge Männer die islamistische Ideologie in Gewalttaten um und verbreiteten Angst, Verunsicherung und Wut in der Gesellschaft. Im selben Monat berichteten deutsche Zeitungen von einem anderen – auf den ersten Blick bedeutungslosen – Vorfall an einer Hamburger Schule: Aus religiösen Gründen verweigerte ein muslimischer Schüler seiner Lehrerin den Handschlag. Die Schulleiterin ­akzeptierte die Entscheidung des Schülers. Das allerdings führte zu großer Unruhe in der Schule und dazu, dass mehrere Lehrer dem Abiball aus Protest fernblieben.

Ein Denken, das leicht in Islamismus umschlagen kann

Ich finde es gut, dass auch solche Vorfälle endlich an medialer Aufmerksamkeit gewinnen. Sie sind schon längst weit verbreitet und führen unter anderem in der Pädagogik zu vielen Heraus­forderungen. Es ist Zeit für eine grundsätzliche Debatte über diesen Wertekonflikt. Für unseren sozialen Frieden ist sie, auch wenn sie schwerfallen mag, existenziell.

Wer versucht, seine islamistische Ideologie mit Gewalt und Angst durchzusetzen, ist ein Fall für Polizei und Sicherheits­kräfte. Aber für eine andere, viel größere Gruppe sind wir alle zuständig, da liegt die Verantwortung bei der ganzen Gesellschaft. Es sind Jugendliche, die vielleicht zwar den Salafismus ablehnen, aber die Werte unserer Gesellschaft und unserer ­Demokratie nicht teilen. Dass Frauen und Männer gleichberechtigt sind oder dass Eltern ihre Kinder ohne Gewalt erziehen müssen, stellen sie für sich selbst in Frage; sie nehmen sich die Freiheit, allein über ihre eigenen Lebensmaximen zu entscheiden, auch über ihr Sexualverhalten und den Umgang mit ihrem Partner. Diese "Generation Allah", wie ich sie nenne, bildet die Basis für den Radikalismus.

Wenn ich von dieser Generation spreche, meine ich dieje­nigen, die nicht im Fokus des Verfassungsschutzes sind, für die aber ideologische Inhalte und Werte wie selbstverständlich Teil ­ihrer Identität geworden sind. Mitunter mögen es nur Bruchstücke eines Weltbildes sein, aber bereits diese legen den Grundstein für ein Denken, das leicht in Islamismus umschlagen kann: Es bildet sich eine Persönlichkeit heraus, die viel mit patriarchalischen Strukturen, mit ­einer tabuisierten Sexualität, mit strengen Geschlechterrollen zu tun hat.

Schule ist der zentrale Ort für diese Aufklärungsarbeit

Ich rede von einem Gottesbild, das durch Angst und Strafe gekennzeichnet ist; von einer heiligen Schrift, die nicht interpretiert werden darf, sondern einfach einzuhalten ist. Ich rede von Antisemitismus, Feindbildern und Verschwörungstheorien. Jugendlichen, die sich davon gefangen nehmen lassen, müssen wir unsere Aufmerksamkeit widmen. Noch sind die allermeisten zu erreichen.

Die Schule ist der zentrale Ort für diese Aufklärungsarbeit. Das heißt natürlich nicht, dass sie der einzige Ort ist – Integration ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe –, aber nur in der ­Schule haben wir die Möglichkeit, junge Menschen mit unterschiedlichen familiären, sozialen und religiösen Hintergründen über einen längeren Zeitraum zusammenzubringen und sie für unsere demokratische Gesellschaft und Werte zu interessieren und zu gewinnen. In Deutschland und überall in Europa ­müssen wir verstehen, dass Schulen nicht nur Bildung vermitteln, sondern dass sie für "marginalisierte Gruppen" vor allem dem ­sozialen Lernen, der Sozialisation dienen und zwar oft als einzige Institution.

Hier können, hier müssen Kinder erfahren, dass es Raum für Denken und Fragen, Spielen und Lernen gibt, dass Kritik aufregend und Demokratie spannend sein kann. Hier können sie sich mit ethischen und politischen Fragen beschäftigen. Das gilt für den Unterricht ebenso wie für Arbeitsgruppen, Projekte, gemeinsame Reisen. Sich aus religiösen Gründen bei Klassenreisen auszuklinken, darf keine Option sein.

Lehrer müssten in Fortbildungen ihr Wissen über den Islamismus erweitern

Wer einmal gelernt hat, seine eigene Position zu hinterfragen, ist weitaus besser immunisiert gegen Extremisten. Die Schulen müssen kritisches Denken einüben. Nicht nur Lehrer, wir alle müssen in einer differenzierten Art und Weise über politische Ereignisse wie den Bürgerkrieg in Syrien und den Nahostkonflikt reden und dürfen solche heiklen Themen nicht übergehen. Denn viele Jugendliche sind aktiv auf der Suche nach Erklärungen für diese Kriege und politischen Auseinandersetzungen. Finden sie sie nicht an der Schule, suchen sie sie woanders, oft im Internet. Dort ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass sie auf zugespitzte, undifferenzierte Informationen stoßen.

Die Lehrer ihrerseits müssen wir in die Lage versetzen, auf Islamismus und Radikalisierung im Denken und Verhalten ihrer Schüler klug und kreativ einzugehen. Oft bekommen Schulbe­hörden und Fachleute viel zu spät mit, dass Lehrer verzweifelt und überfordert sind. Eintägige Fortbildungen reichen kaum aus, die Konflikte zu lösen. Besser wäre es, wenn Lehrer bereits in der Ausbildung und dann weiter in Fortbildungen mehr Wissen über den Islamismus erwerben könnten und sensibilisiert würden für Veränderungen ihrer Schülerinnen und Schüler.

Es geht hier nicht darum, ein Handbuch über den Islamismus auswendig ­zu lernen, sondern die Lehrer in eine Diskussionskultur zu bringen, damit sie mit ihren Schülern respektvolle und ge­winnende Gespräche über Werte führen können. Ebenfalls wichtig ist es, Lehrer sensibel zu machen für die ersten An­zeichen einer Radikalisierung, damit sie in der Lage sind, rasch zu intervenieren.

Ist es nicht ohne­hin Wahnsinn, Schüler nach Konfessionen zu trennen?

Es muss auch endlich einen besseren Religionsunterricht an unseren Schulen geben. Kinder dürfen nicht in der Abwertung anderer Religionen aufwachsen – und etwa glauben, dass Christen oder Juden nie in den Himmel kommen. Oder dass das Herumlaufen ohne Kopftuch ein Mädchen zur "Schlampe" macht.

Das Hamburger Modell des "Religionsunterrichts für alle" macht vor, wie es gehen kann. Doch, es handelt sich weiterhin um bekenntnis­gebundenen Religionsunterricht nach Artikel 7 des Grundgesetzes, der sich aber an alle Schülerinnen und Schüler, egal welchen Glaubens, richtet. Bei diesem interreligiösen Ansatz erfahren Kinder voneinander, übereinander und erleben direkt in ihrer Gruppe die Vielfalt des Glaubens. Ist es nicht ohne­hin Wahnsinn, Schüler nach Konfessionen zu trennen? Was soll das bewirken, in einer modernen, offenen und globalen Gesellschaft?

Interreligiöser Unterricht bietet auch die Möglichkeit, den Islam – und alle Religionen – in der historischen Entwicklung zu sehen. Religiöse Auffassungen und ethische Haltungen ­haben sich in der Geschichte oft verändert. Diese Einsicht ist eine ­wichtige Grundlage des Religionsunterrichts. Zweifeln, Fragen, Neugier, das Bilden einer eigenen Meinung gegenüber dem ­Exklusivitätsanspruch der Religionen: Darum muss es gehen.

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