Catherine Smith
"Gott lacht, wenn wir Pläne machen"
Oft geschieht etwas wunderbar Unerwartetes, findet Kate DiCamillo. Das wird dann Stoff für Ihre Kinderbücher
20.03.2017

chrismon: Frau DiCamillo, Sie waren fünf, als Ihr Vater von zu Hause wegging. Wie sind Sie als Kind damit fertiggeworden?

Kate DiCamillo: Gar nicht. Mein Vater hat die Familie verlassen. Ich habe ihn besucht, und er hat uns besucht. Aber er hat nie wieder mit uns zusammengelebt. Das war ein großer, uner­klärlicher Verlust. Und niemand hat je direkt mit mir darüber gesprochen. Als Grundschulkind war ich oft krank. Ich glaube, ich versuche immer noch mit diesem Verlust  fertigzuwerden.

Kate DiCamillo

Kate DiCamillo, geboren 1964, ist eine der erfolgreichsten Kinderbuch­autorinnen der USA. Sie wuchs in Florida auf und lebt jetzt in Minneapolis.

Ähnlich ergeht es der Figur Opal aus ihrem ers­ten Kinderroman „Winn-Dixie“.

Abgesehen davon natürlich, dass Opals Mutter und nicht ihr Vater weggegangen ist. Aber Opal findet einen Hund, den sie „Winn-Dixie“ nennt und der sie trösten kann.

Warum schreiben Sie Kinderbücher über die traurigen und dunklen Seiten des Lebens?

Weil Kinder in derselben Welt leben wie wir. Weil Traurigkeit und Dunkelheit immer um uns herum sind. Und weil es besser ist, wenn wir ihnen gemeinsam begegnen, offen und direkt.

"Raymies Schmerz ist sichtbarer als der von Opa"

Wie reagieren Kinder auf Ihre Bücher?

Sie schreiben mir Briefe. Fantastische Briefe. Briefe, die von Freude erzählen und von Traurigkeiten. Briefe, in denen Kinder mir anver­trauen, wie es in ihren Herzen aussieht. Ein Kind hat mir einmal geschrieben, dass „Winn-Dixie“ immer neben seinem Bett liegt. Und wenn es nachts aufwacht, liest es darin und beruhigt sich dann. Das ist wunderschön.

„Winn-Dixie“ ist noch in der Ich-Form ge­schrieben, alle Ihre Bücher danach in der ­dritten Person. Warum?

Einerseits erlaubt diese Perspektive Abstand zur eigenen Geschichte. Als Autorin kann ich gleichzeitig aber auch näherrücken. Man hat viel mehr Kontrolle, wenn man in der dritten Person schreibt. Und mehr Möglichkeiten. Es ist wie ein Blick von oben und von außen. Ein genauer Blick. 

Zum Beispiel in „Little Miss Florida“, Ihrem ­neuesten Buch. Da brennt Raymies Vater mit einer Zahnarzthelferin durch.

Ja. Und „Little Miss Florida“ dringt bis zum emotionalen Kern der Dinge vor. Raymies Schmerz ist viel sichtbarer als der von Opal in „Winn-Dixie“.

Raymie kann kaum aushalten, dass ihr Vater weggegangen ist. Dann trifft sie zwei Mädchen, die es auch nicht leicht haben.

Ja, aber sie gehen anders mit ihren Sorgen um. Jedes dieser Mädchen ist ein Teil von mir. ­Raymie ist das sorgenvolle und beobachtende Kind, das ich einmal war. Beverly ist so mutig und freundlich, wie ich gerne sein wollte. Und Louisiana hat keine Eltern mehr, ihre Großmutter kann sie kaum ernähren, aber sie trägt Glitzerkleider und nimmt das Leben leicht. Sie verkörpert meine hoffnungsvollste Seite. 

Die drei sind Konkurrentinnen beim Little-Miss-Florida-Wettbewerb. Raymie möchte gewinnen, damit ihr Vater sich wieder an sie erinnert. Aber dieser Plan scheitert. Durch Zufall  schafft sie es dennoch in die Zeitung.

Ja, die Dinge entwickeln sich nicht immer so, wie wir wollen, aber dafür geschieht oft etwas Wunderbares, mit dem wir nicht gerechnet ­haben. Raymie ist Rettungsschwimmerin, sie rettet Louisiana vorm Ertrinken, und die Lokalzeitung berichtet darüber.

"Ein richtiger Freund? Jemand, der beständig ist"

Glauben Sie an Gott?

Ja. So ist es. Und manchmal lacht er, wenn wir Pläne machen. 

Die Mädchen entwickeln dann doch Empathie füreinander.

Ja. Sie hören einander zu. Sie begreifen, dass jede von ihnen tief verletzt ist. Und schließlich tragen sie die Verletzungen der anderen mit. Und das macht sie wieder fröhlich.

In Ihren Büchern sind eher Freunde als Eltern eine Hilfe für die Kinder. Warum?
Für mich waren Freunde so wichtig. Sie haben mich auch ein Stück mit aufgezogen. Sie haben mir gezeigt, wie man in der Welt sein kann. ­Meine erste Freundin nach unserem Umzug nach Florida hieß Allison Lantz. Das war im Kinder­garten. Sie hatte sich selbst das Lesen beigebracht. Ich war so beeindruckt von ihr.

Was ist denn ein richtiger Freund, eine richtige Freundin?

Jemand, der beständig ist. Jemand, mit dem ich lachen kann. Und jemand, der mir zeigt, wie man der Welt begegnen kann.

Und was ist eine Heldin?

Eine, die sich traut, sie selbst zu sein. Das kann man lernen. Viele meiner Helden überwinden ihre Angst.

473 Absagebriefe

Sie hatten einen recht schwierigen Start als Autorin.

Ja. Nach dem Literaturstudium habe ich mir ­einen schwarzen Rollkragenpullover gekauft und behauptet, ich wäre Autorin. Dumm war nur, dass ich bis dahin nie etwas geschrieben hatte. Stattdessen hatte ich viele seltsame Jobs. Und dann hatte ich das Glück, in die Kinderbuchabteilung eines Antiquariats zu geraten. Ich war fasziniert. Ich fing an, jeden Morgen um vier Uhr aufzustehen und zwei Seiten zu ­schreiben. So entstand mein erstes Manuskript. Aber bevor ein Verlag das endlich annahm, hatte
ich exakt 473 Absagebriefe bekommen.

Warum haben Sie trotzdem weitergemacht?

Ich hatte einfach das Gefühl, dass es das war, was ich im Leben tun sollte. Ich dachte: Begabt kann ich mich nicht machen, aber ich kann an mir arbeiten. Und ich kann unermüdlich dafür sorgen, dass meine Arbeit bekannt wird. Es gibt bestimmt viele Leute, die brillanter sind als ich, die aber eben nicht so stur am Ball blieben.

In vielen Ihrer Bücher taucht ein Bibliothekar oder eine Bibliothekarin auf. Warum?

Ohne die Weisheit, Liebenswürdigkeit und den Trost von Bibliothekaren und guten Geschichten hätte ich als Kind nicht überleben können. Auch Raymie aus „Little Miss Florida“ hat ihren Bibliothekar in der Schule. Er heißt Mr. Option und drückt ihr für die Sommerferien ein Buch über Florence Nightingale in die Hand, die erste Krankenschwester der Geschichte.

Das liest sie aber nicht.

Nein, sie ist eingeschüchtert von den gewaltig guten Taten dieser Frau. Aber auf dem Titelblatt trägt Florence Nightingale eine Lampe. Und Raymie lernt, dass es viele Weisen gibt, eine Lampe zu tragen und Licht zu verbreiten.

Deshalb haben Sie das Buch im Englischen auch „Raymie Nightingale“ genannt, nicht „Little Miss Florida“. 

Genau. Raymie findet eben ihre eigene Art zu helfen. Mit ihren Freundinnen und dank ihnen.

"Etwas, das tiefer und weiser ist als ich selbst"

Lesen Sie viel?

Mehr als alles andere bin ich eine Leserin. Ich fühle mich ganz komisch, wenn ich kein Buch in der Hand habe. Und zu 85 Prozent lese ich moderne Literatur für Erwachsene. Die restlichen 15 Prozent sind Kinderbücher. Aber da wähle ich sehr genau aus. 

Was bedeutet Ihnen Schreiben?

Alles. Schreiben ist meine Art, die Welt und mich selbst zu verstehen und mich mit etwas zu ver­binden, das tiefer und weiser ist als ich selbst. Fast wie eine spirituelle Erfahrung. Und es ist auch toll, auf diese Weise mit zehnjährigen Kindern auf der ganzen Welt in Beziehung zu stehen.

In Ihrem neuen Roman „Little Miss Florida“ schreit eine alte Frau in einem Altenheim ­immer wieder verzweifelt: „Nimm meine Hand!“ Niemand tut es.

Ein Bild für alle diejenigen, die sich verzweifelt nach einer helfenden Hand sehnen. Und davon gibt es viel zu viele auf der Welt. – Beim Schreiben denke ich nicht über die Wirkung solcher Metaphern nach. Da folge ich einfach meinen Charakteren. – In „Little Miss Florida“ kommt schließlich doch noch dieses tapfere kleine Mädchen, Beverly Tapinski. Sie nimmt die verknöcherte Hand der armen alten Alice Nibbely und drückt sie. Beverly ist so mutig. Ich bewundere so etwas.

Ein Kind hilft. Warum nicht die Erwachsenen?

Wir Erwachsenen haben Angst, das Falsche zu tun, also tun wir gar nichts. Es scheint so einfach zu sein, eine Hand zu drücken, aber dafür braucht man sehr viel Mut.

Und noch was?

Empathie natürlich. Und die können wir von der Literatur lernen. Das liebe ich. Es gibt sogar Studien darüber.

In „Despereaux“ haben Sie es so definiert: „Wenn ein langes Messer auf deinen Rücken gerichtet ist, dennoch zu versuchen, einen Moment an die Person zu denken, die das Messer hält – das ist Empathie, lieber Leser.“

Ach ja, das hatte ich schon beinahe ganz ver­gessen. Aber es gefällt mir! Bringt die mit dem Messer da nicht gerade die Prinzessin in den Kerker? Ich glaube, dass Literatur uns beibringt, Gefühle differenziert wahrzunehmen. Aber wir können uns auch etwas von geliebten Menschen abgucken, die mutig handeln.

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