Leipzig-Grünau
In den 80ern und heute: Noch hat der Leipziger Stadtteil Grünau sein Image nicht vollends zum Positiven wandeln können
Maria Klenner und Harald Kirschner
Grünau lebt!
In der DDR versprach „die Platte“ Luxus für ­jedermann. Arbeiter und Akademiker wohnten Tür an Tür. Heute stehen die Wohnblocks am Stadtrand eher für sozialen Abstieg. Das soll aber nicht so bleiben. Ein Besuch in Leipzig
21.11.2016

Heimat ist das hier nicht, da muss Harald Kirschner gar nicht lange überlegen. Aber ein Ort zum Leben, zum Arbeiten, ein Ort, der inspiriert. Mit seiner Frau bewohnt Kirschner eine Maisonette-Wohnung mitten im Plattenbau – 16. Stock, 130 Quadratmeter auf zwei Etagen. Vor seinen Augen ragen Hochhäuser empor, schlängeln sich Plattenbauten in Pastellfarben durch sattes Grün. Am Horizont zeichnet sich die Silhouette Leipzigs ab. Seit mehr als drei Jahrzehnten blickt Kirschner aus diesen Fenstern in die Welt. Kirschner ist Fotograf. Er hat Grünau mit seiner Arbeit ein Denkmal gesetzt.

Für viele war „die Platte“ Anfang der achtziger Jahre ein Symbol des Fortschritts. Die Bauweise erlaubte es, Häuser aus vorgefertigten Betonmodulen schnell zusammenzustecken – und so dringend benötigten Wohnraum zu schaffen. Rund 90 000 Menschen sollten in der Großraumsiedlung leben. Die meisten, die damals nach Grünau zogen, waren glücklich, die Gründerzeithäuser in der Leipziger Innenstadt mit ihren porösen Decken, den Etagenklos und den Kohleheizungen zurückzulassen. Grünau bot die sozialistische Version vom Luxus für jedermann. Balkon, warmes Wasser, Toilette. Hier wohnte der Professor neben dem Schlosser und „pinkelte ins gleiche Klo“, wie viele Grünauer noch heute sagen.

Berlin-Marzahn, Halle-Neustadt, Leipzig-Grünau – die Plattenbausiedlungen stehen heute für sozialen Abstieg. Nach dem Ende der DDR sind viele Menschen weggezogen, nicht nur die Professoren. Grünau ist seit der Jahrtausendwende fast um die Hälfte geschrumpft. Mehrere ­Blöcke wurden abgerissen, insgesamt rund 8 000 Wohnungen. Jahrelang hat die ­Stadtverwaltung den Abriss subventioniert. Die meisten, die seither kamen, taten das, weil es günstig ist. Jeder dritte Haushalt in Grünau-Mitte ist auf Arbeits­losengeld angewiesen, viele der Einwohner befinden sich in prekären Beschäftigungsverhältnissen oder müssen ihre Rente beim Sozialamt aufstocken.

Abgeblätterte Decken, durchgelegene Matratzen

Besucher sehen hier erst mal die Klischees: Arbeitslose, Hängengebliebene, dem alten System Hinterhertrauernde. Sie sehen Menschen, die Rollatoren über Asphalt schieben, junge Mütter und Väter mit aschfarbenen Gesichtern und Kinder, deren Lebensweg vorgezeichnet zu sein scheint. Schaukelnde Kinder auf Spielplatzanlagen vor Hochhauskulisse – das sind Bilder, die man immer dann in der Zeitung sieht, wenn es mal wieder Neuigkeiten zu Hartz IV oder Kinderarmut gibt.

###mehr-galerien###Der Fotograf Harald Kirschner hat den Wandel in Grünau über Jahrzehnte begleitet. Den Kinderwagen mit der kleinen Tochter schiebend, fotografierte er Anfang der achtziger Jahre einen sehr lebendigen Alltag. Seine Bilder zeigen Jugendliche in Jeansjacke mit Zigarette im Mund, Familien, die sich ihren Weg durch die Betonwüste bahnen, Nachbarn beim Plausch vor der Platte und spielende Kinder auf Baugerüsten, Sandbergen und im Schlamm. Grünau war in den ersten Jahren eine riesige Dauerbaustelle. Schlammhausen nannten die Bewohner ihre Siedlung.

Jahrzehnte später dokumentierte Kirschner auch den Abriss der Wohn­blöcke, die Spuren, die die Bewohner hinterlassen haben: Blümchentapete, abgeblätterte Deckenvertäfelungen und durchgelegene Matratzen. Es war ein „Langzeitprojekt in Eigenauftrag“, sagt er.

Damals wie ein Sechser im Lotto

Die Kirschners hatten vorher in einer Ladenwohnung in der Leipziger Südvorstadt gelebt – mitten im Leben, in un­mittelbarer Nähe von Kinos, Theatern, Cafés und Künstlerfreunden. Aber ohne Küche und Bad. Sie zogen nach Grünau aus Mangel an Alternativen.

Die meisten alteingesessenen Grünauer erzählen eine andere Geschichte. Sie erzählen davon, wie sie ihr Glück kaum fassen konnten, als ihnen hier eine Wohnung zugewiesen wurde.

Klaus Wagner, dicke Brillengläser, far­bige Socken, sächsischer Dialekt, gehörte zu den Ersten, die in die Platte zogen. Es war der 12. Juli 1979, als er erstmals die ­Tür zu seiner Wohnung aufschloss. 70 Quadratmeter, Balkon, warmes Wasser, Zentralheizung für Wagner, seine Frau und den Sohn. Es sei wie ein Sechser im Lotto gewesen.

Von den zahllosen Fenstern schaute immer ein beschützendes Auge hinab

Dass die Familie den Zuschlag für die Wohnung bekam, war kein Zufall und auch kein Glück. Wagner war damals Mitglied der SED und Berufsfunktionär der Freien Deutschen Jugend – und hatte als solcher ein Vorrecht auf eine Wohnung.

Die Autorin

###drp|Yqivep2hgCkPFgP05z3wWgAS00159140|i-43|Foto: Privat|###Stefanie Nickel war öfter in Grünau. Anfangs sah sie einen Koloss – und dann einen Ort voller individueller Geschichten

Nach dem Mauerfall gerät das Leben von Klaus Wagner aus den Fugen. Er verliert den Job. Der Hochschulabschluss an der Humboldt-Universität ist plötzlich wertlos. Als Lehrer kann er in einem vereinten Deutschland nicht mehr arbeiten, so erzählt er es. Wagner geht auf die 50 zu, als er einen Job als Tankwart annehmen muss. Später wechselt er in einen Baumarkt, wird schließlich dessen Leiter. Wagner beginnt zu reisen, mit seiner Frau tourt er in den neunziger Jahren durch Südamerika, geht mehrmals den Jakobsweg nach Santiago de Compostela. Grünau bleibt seine Heimat.

Wenn die Alteingesessenen über die Anfangsjahre in der Siedlung sprechen, tun sie es meist mit einer gewissen Wehmut. Sie erzählen von hilfreichen Nachbarn und gemischten Hausgemeinschaften. Sie erzählen von Feten im Partykeller und davon, wie die Kinder allein zur Kita oder zur Schule gehen konnten. Von den zahllosen Fenstern schaute immer ein beschützendes Auge hinab. Und der Abschnittsbevollmächtigte sorgte für Ordnung im Viertel.

Stasi, Zeugen Jehovas – oder die evangelische Gemeinde?

Was viele nicht erzählen: Die Hausgemeinschaften waren gespickt mit Spitzeln und Stasimitarbeitern. Der Staat regelte, wer eine Wohnung in der Platte bekam. Die DDR überließ nichts dem Zufall, auch nicht, wer eine Tür weiter wohnte. Die ersten Neuankömmlinge kamen aus den sogenannten Kohledörfern, jenen Ortschaften, die dem Braunkohleabbau weichen mussten. Für sie war der Umzug nicht freiwillig. Dann folgten die Stasimitarbeiter, die Lehrer, die Dozenten, die SED-Mitglieder und viele, viele Familien. Grünau war kinderreich wie kein anderer Stadtteil.

Mitte der Achtziger wurde Matthias Möbius, damals Ende zwanzig, Pfarrer in der evangelischen Pauluskirchgemeinde. Vorher war er in der Leipziger Hausbesetzerszene aktiv gewesen, die Platte hatte ihn magisch angezogen. „Ich wollte unbedingt wissen, was sich dahinter verbirgt.“

Die Fotografin

###drp|hyhF_Rta4DzPVh23lg2mFxzV00159141|i-43|Foto: Privat|###Marie Klenner hat beim Foto­grafieren entdeckt, wie viele sich hier engagieren – besonders für den Nachwuchs

Er sollte es schnell herausfinden. Denn Möbius musste sich seine Gemeinde selbst zusammensuchen. Konfessionsangaben gab es in den Melderegistern der DDR nicht. Möbius und sein damaliger Kollege schrieben Klingelschilder ab und arbeiteten die Wohnungen dann Block für Block ab. „Falls Sie zur Kirche gehören, würden wir Sie gern besuchen“, so ihr Standardsatz. Immer waren sie allein unterwegs, immer hielten sie einige Meter Abstand von der Tür. So machten sie sich nicht des Vorwurfs schuldig, hausieren zu gehen, und wurden auch nicht mit der Stasi oder den Zeugen Jehovas verwechselt. Denn die kamen immer zu zweit.

Die Kirchengemeinde in Grünau wuchs rasch – bis sie schließlich rund 7 000 Mitglieder hatte. Sie bot Identität, Zugehörigkeit, wurde zu einem kulturellen Zentrum.

Besonders wichtig war das für die ­Menschen aus den Kohledörfern. Sie schleppten alles heran, was sie nicht zurücklassen wollten – viele Pflanzen und sogar Grabsteine. In der Gemeinde fand alles seinen Platz. Auch die Kirchenglocke der Pauluskirche stammt aus einem Dorf, das es seit Jahrzehnten nicht mehr gibt.

"Unser Viertel wird zum sozialen Brennpunkt"

Heute sind die Treppenhäuser der Plattenbauten ein Treffpunkt für Jugendliche. So schön der Blick von oben auch ist, der Weg hinauf in seine Maisonette-Wohnung ist für den Fotografen Harald Kirschner zum Spießrutenlauf geworden. Die Wände im Treppenhaus sind übersät von Schmierereien. Besucher müssen manchmal Erbrochenem, Zigarettenstummeln und ­Fäkalien ausweichen. Im Aufzug hinterlassen Unbekannte Nachrichten. „Wir wissen, wo euer Auto steht.“ Oder: „Wir kriegen euch.“ Eine Jugendgang wird das wohl gewesen sein, sagt Kirschner. „Wir haben schon mal überlegt wegzuziehen, aber im Alter wird man bequem.“

Auch Klaus Wagner findet: „Unser Viertel wird zunehmend zum sozialen Brennpunkt.“ Seine Frau verlässt nach Einbruch der Dunkelheit das Haus nicht mehr. Immer wieder ist von Jugendgangs die Rede, von Kleinkriminellen, die hier randalieren, stehlen.

In manchen Wohnblöcken werden abends die Haustüren abgeschlossen – ungewöhnlich für Mehrfamilienhäuser. An den Straßen ist auf Schildern zu lesen: „Lassen Sie keine Wertsachen im Auto.“

Leipzig ist ein bisschen Hypzig

Die Angst der Grünauer ist auch der AfD nicht entgangen. Die Partei sucht zunehmend den Kontakt mit den Bewohnern. Bei einem Sommerfest präsentierte sich die Partei mit einem Auto mit dem Kennzeichen AH-1818. In Neonazikreisen wird mit dieser Kombination auf die Ini­tialen von Adolf Hitler und deren Posi­tion im Alphabet angespielt. „Die AfD kokettiert immer wieder mit Signalen nach ganz rechts außen“, sagt der Leipziger ­Politikwissenschaftler und Parteien­forscher Hendrik Träger. Wie groß das Wählerpotenzial ist, zeigen die Kommunalwahlen in Berlin. In Marzahn und Lichtenberg kam die Partei aus dem Stand auf zweistellige Ergebnisse. In Grünau dürfte die AfD auf eine ähnliche Wähler­klientel treffen, vermutet Träger.

Antje Kowski guckt optimistisch in die Zukunft, schon berufsmäßig. Sie ist die Quartiersmanagerin und arbeitet im Auftrag der Stadtverwaltung daran, dass sich der Ruf des Viertels verbessert. Kowski kennt jeden im Stadtteil, und jeder kennt Frau Kowski. Leicht ist es nicht, einen ­Termin mit ihr zu bekommen. Ständig klingelt ihr Telefon. Sie nennt sich selbst die Spinne im Netz: Bei ihr laufen alle Fäden zusammen. Deswegen, so sagt sie, wohne sie auch nicht in Grünau. So könne sie zumindest zu Hause abschalten.

Im vergangenen Jahr wurde die jahrelange Abriss-Subventionierung gestoppt. „Grünau hat sich gesundgeschrumpft.“ Der Leerstand in der Platte liegt derzeit bei weniger als fünf Prozent. Das hänge auch damit zusammen, dass der Wohnraum in Leipzig langsam knapper und teurer wird, so Kowski. Leipzig ist das kleine Berlin. Ein Ort für die Jungen, in dem man auch nach Studium und Feierei leben kann. Leipzig ist ein bisschen Hypzig.

Anstehen, um zu putzen

Das Amt für Stadtentwicklung will Grünau besser anbinden. Es werden Radwege zu den hippen Stadtteilen wie Leipzig-Plagwitz gebaut, Konzepte für eine Belebung der leerstehenden Ladenzeilen ausgearbeitet und Gespräche mit der jungen Leipziger Kreativszene geführt. Ist es möglich, in leerstehenden Gebäuden Wohnprojekte zu realisieren? Welche innovativen Ladenkonzepte passen hierher? Der alternde Stadtteil, so die einhellige Meinung, muss stärker durchmischt werden. Es braucht mehr soziales und auch kulturelles Leben.

Und mehr Orte der Begegnung. Es gibt in Grünau ein, zwei Kneipen, ein griechisches Restaurant, ein Theater und das Allee-Center, ein Großeinkaufscenter mit Baumarktcharme. Keine Disco, keine Bars, keine netten Cafés. Aber das Heizhaus. In der alten Industriehalle treffen sich Kinder und Jugendliche zum Skaten. Sven Bielig leitet die Einrichtung. Er steht im Vorraum, schenkt sich einen Kaffee ein und guckt durch eine Glasscheibe in die Skater­halle.

Dort kurven ein paar Jungs um die Rampen. Jeden Tag in der Woche hat der Jugendtreff geöffnet. „Hier wollen viele rein“, sagt Bielig. „Wir sind cool.“ Wer hier skaten will, muss ein paar Euro zahlen. Für alle, die sich das nicht leisten können, hat Bielig ein Angebot. Sie müssen sich ein­bringen im Heizhaus, saubermachen zum Beispiel. „Es ist der Wahnsinn, bei uns ­stehen die Kinder an, um zu putzen“, sagt er. „Wenn die Eltern das hören, können sie es oft kaum glauben.“

Endlich kommen wieder Besserverdienende

Sven Bielig wohnt nicht in Grünau. Dabei ist der Mittdreißiger genau der Typ, den man gern aus der Kernstadt ins Grün-Urbane locken würde. Aber: „Hier passiert ja nichts“, sagt Bielig. „Ich weiß gar nicht, was die ganzen Leute hier abends machen.“

Bielig selbst arbeitet dran, dass sich das ändert, und viele andere tun das auch. Antje Kowski, die Quartiersmanagerin, oder Mat­thias Möbius, der Pfarrer. Die Pauluskirchgemeinde ist seit dem Mauerfall um mehr als die Hälfte geschrumpft. „Früher kamen wir mit den Taufen kaum hinterher“, sagt er. „Heute stehe ich ständig auf dem Friedhof.“ Und er begegne öfter dem Anspruch, dass die Kirche etwas bieten müsse, schöne ­Musik und Kaffee, und das Ganze ohne Eintritt. „Diese Versorgungsmentalität ist mir zuwider“, sagt Möbius. „Beteiligungsgemeinde“ nennt er das, was die Pauluskirchgemeinde wieder werden soll und wofür er wirbt.

Dass sich etwas tut, sieht man auch am Rande des Kulkwitzer Sees, eines Naherholungsgebiets von Leipzig. Da sind die ersten Neubauten Grünaus entstanden. „See-Terrassen“ heißen die weißen Würfel, die so auch in den Vororten von Berlin, Düsseldorf oder München stehen könnten. Der Quadratmeterpreis liegt mit acht Euro weit über dem Durchschnitt in Grünau.

Die Wohnungen seien vermietet gewesen, bevor sie überhaupt gebaut waren, sagt Antje Kowski. Es kommen also wieder Besserverdienende nach Grünau, nicht nur Menschen, die auf den Hartz-IV-Regelsatz für Wohnungen angewiesen sind. Gut für die Mischung: „Grünau lebt.“

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