Kuh im Stall
Tine Casper
Wenn Milchbauern ihren Hof aufgeben müssen
Nummer 144 kalbt nie mehr
1960 gab es in Westdeutschland 1,5 Millionen Höfe, heute sind es im gesamten Bundesgebiet noch 250.000. Auch die Gepperts haben ihren Hof aufgegeben, als der Milchpreis im Keller war
Tim Wegner
17.08.2016
13Min

Kühen muss man sich vorsichtig nähern, sie sind schreckhaft. Also berührt Gabi Geppert kurz den linken Hinterlauf von Nummer 144, damit das Tier weiß, was jetzt kommt. Sie melkt an, bis die erste Milch spritzt, und säubert die Zitzen mit einem Papiertuch. Dann stülpt sie das Melkgeschirr über das Euter. Doch die Milch läuft nicht in den großen Tank, sondern in eine durchsichtige Kanne. Kuh 144 hat erst vor wenigen Tagen gekalbt, sie gibt noch Biestmilch, die besonders fettreich ist. Die ers­ten zehn Gemelke nach der Geburt dürfen nicht in die Molkerei, die bekommen die Kälber mit der Flasche im Nuckeleimer. Gabi Geppert, 51 Jahre alt und Milchbäuerin seit fast 20 Jahren, hält kurz inne und betrachtet das Plastikband am Hinterlauf des Tieres. Ehe sie zum nächsten weitergeht, sagt die Bäuerin: "Nummer 144 hat Sonntag zum letzten Mal gekalbt."

Die Gepperts leben in Ostfriesland auf einem Hof, auf dem nun alles Mögliche zum letzten Mal passiert, bis die Ställe leer sein werden. In eineinhalb Jahren wird Schluss sein, vielleicht ein bisschen früher, vielleicht später. Kühe geben nur Milch, wenn sie gekalbt haben. Dafür müssen sie immer wieder trächtig werden, etwa 100 Tage nach der letzten Geburt.

Aber Kuh 144 darf nicht mehr zu "Monster", dem Bullen im Nachbarstall. Und die anderen Kühe auch nicht. Ihre Milch wird versiegen, weil die Gepperts davon nicht mehr leben können. Die letzte Abrechnung der Molkerei wies einen Milchpreis von 21 Cent pro Kilogramm aus. 40 Cent bräuchten sie, um alle Kosten zu decken und Rücklagen für neue Investitionen zu bilden. Jetzt hofft Reinhold Geppert, 61 Jahre alt und schon sein Leben lang Milchbauer, auf die Rente mit 63.

Reinhold Geppert ist ein schlanker, drahtiger Mann mit Bart und Brille, ein Typ wie Pettersson aus "Pettersson und ­Findus". Früher hat er sich als Landwirt ­bezeichnet. Bauer, das klang für ihn wie ein Schimpfwort. Aber jetzt fühlt er sich doch als Bauer. "Weil es nach Stolz klingt." Sein Vater stand noch mit 78 Jahren im Melk­stand; diesen Plan hatte auch Reinhold Geppert für sein eigenes Leben. Vor knapp zwei Jahren hatte er einen Herz­infarkt, da kam er ins Grübeln. Trotzdem wollte er seiner Frau den Hof überschreiben und mit ihr weitermelken, bis Sohn Christian, heute 15 Jahre alt, übernehmen könnte. "Die Entscheidung, ob er das möchte, haben wir ihm abgenommen. Der Hof hat keine Zukunft. Wir schleichen uns raus", sagt Geppert. Neulich bekam er ­seine Lebensversicherung ausgezahlt. Jetzt beobachtet er, wie das Geld auf dem Konto immer weniger wird.

40 Hektar Land, die sie bald nicht mehr brauchen

Ein heißer Sommertag kündigt sich an in Klostermoor. Das Ehepaar Geppert frühstückt im Garten, ein seltenes Glück im Norden, wo es oft stürmt und regnet. Morgens um sechs Uhr waren sie melken gegangen, wie immer. Das Frühstück ist eine besondere Zeit, da planen sie den Tag und kommen noch mal zur Ruhe. Über Geppert rauscht ein Ahorn in der leichten Brise. Der Bauer weiß noch, dass Strafgefangene aus Meppen vor jedem der Höfe in der Nachbarschaft einen Baum pflanzen mussten, ein Beamter bewachte sie dabei, mit Karabiner im Anschlag. 1957 war das.

Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Gepperts aus Schlesien geflohen, dort waren sie Bauern gewesen, sechs Generationen lang. "Mit uns sechs Kindern galten meine Eltern als asoziale Flüchtlinge. Mein Vater fuhr Plumpsklos aus, das war ihm egal. Ihm war nur wichtig, dass er für uns sorgen kann." In der Nachkriegszeit beschloss der Landkreis, dem Moor die "Neue Siedlung Klostermoor" abzutrotzen und sieben Höfe anzulegen, mit je 16 Hektar Land. Für die Neubauern gab es güns­tige Kredite. Ein einflussreicher Beamter wehrte sich allerdings dagegen, das Land überwiegend an Vertriebene zu geben. Nur zwei geflohene Familien sollten zum Zuge kommen. Umso wichtiger war der Leumund. "Nehmt den Geppert, der läuft nicht davon", erzählten sich die Menschen damals in der Gegend, als das neue Land zu vergeben war. Reinhold Geppert, ein frommer Mann, der vor jeder Mahlzeit ein Tischgebet spricht, sagt: "Für meine Eltern war der Hof ein Geschenk Gottes." Als die Siedlung 50 Jahre alt wurde, haben alle Nachbarn gemeinsam Hefte gemacht mit Erinnerungsfotos. Ein Zeitungsartikel von damals ist auch darin, er schließt mit den Worten: "Das Klostermoor wird den Siedlern eine sichere Existenz bieten können." Drei der sieben Höfe sind aufgegeben.

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Noch eine Tasse Tee. Reinhold Geppert sagt, Landwirtschaft sei eine Lebensweise, weil Bauern sich der Natur unterordnen müssten. Nur das Melken ist eine Konstante, morgens um sechs, abends um fünf Uhr. Was dazwischen und danach passiert, entscheiden Wetter und Jahreszeiten. Gleich muss er raus auf die Weide fahren, die sie seit Jahrzehnten gepachtet haben. Grasschnitt schwadern, damit der Lohnunternehmer Siloballen pressen kann. Kuhfutter für den Winter. Die Sonne brennt, Geppert macht sich Sorgen, das Gras könnte zu Heu werden. Gabi Geppert, eine kleine Frau, die gern lächelt, sieht ihrem Mann hinterher, als er mit hochgeklapptem Schwader und orange­farbenem Blinklicht auf dem Traktor davonfährt. Das Schwadern gehört auch zu den Dingen, die zum letzten ­Mal passieren. Noch bewirtschaften die Gepperts 40 Hektar Land, aber wenn die Kühe weg sind, braucht es auch kein Futter mehr. "Als Reinhold los ist, um die Pacht zum Jahresende zu kündigen, bin ich noch einmal hinterher und habe ihn gefragt: ‚Willst du das wirklich machen?‘" Aber ihr Mann kehrte nicht mehr um.

"Ich kann meine ­Arbeit gut machen oder schlecht – es reicht ­sowieso nicht"

Die Stimme von Gabi Geppert klingt brüchig, wenn sie über Dinge spricht, die sie berühren. Sie hat einen sächsischen Akzent. 1997 heiratete sie auf den Hof ein. "Du und ein Bauer!", hatte ihre Mutter gestaunt. Dabei ist sie selbst ein Bauernkind. Ihre Eltern bewirtschafteten einen Hof in Sachsen, der aber in einer LPG aufgehen musste. Mutter und Vater wirkten auf Gabi Geppert wie angestellte Facharbeiter, nicht wie Landwirte. Sie selbst machte eine kaufmännische Ausbildung und arbeitete nach der Wiedervereinigung als Chef­sekretärin. Als sie nach Klostermoor kam, wurde ihr sofort die Maxime ihres neuen Lebens klar: alles für den Hof!

Ihr Mann ist zurück vom Feld, es ist Abend geworden. Sohn Christian hat die Kühe von der Weide geholt, Reinhold Geppert treibt immer zwölf von ihnen in den Melkstand. Je sechs Tiere können ­zwischen Eisenstangen stehen, die schräg wie Fischgräten angeordnet sind. Dazwischen führt eine Eisentreppe hinab zur Melkmaschine. Wasserschläuche baumeln von der Decke, damit wird später saubergemacht. Es kommt vor, dass eine Kuh ihre Fladen fallen lässt und der Mist auf die blaue Arbeitskleidung der Gepperts spritzt. Im Sommer macht die Hitze die Stallluft noch schneidender. Ja, hier stinkt’s.

Und doch kam Gabi Geppert gerade hier mit sich und dem Landleben ins Reine. Der Gleichklang aus Ansaugen und Loslassen, die pulsierenden Geräusche der Melkmaschine legten ein regelmäßiges "Pammpamm, Pammpamm, Pammpamm" über ihre Gedanken. Für vier Stunden am Tag hatte sie ihre Ruhe, obwohl sie mitten bei der Arbeit war. Manchmal war das wie Urlaub, sagt sie. Aber das ist vorbei. "Ich muss ausblenden, was ich hier mache, sonst würde ich darüber verzweifeln. Ich kann die Arbeit schlecht machen, ich kann sie gut machen, es ist egal – es reicht trotzdem nicht."

Es hapert an Alternativen zur Schließung

Natürlich wollen die Gepperts ihre Arbeit gut machen. 70 Melkkühe leben auf dem Hof, eine gibt im Schnitt 8000 Kilogramm Milch im Jahr. Heutzutage ist das Durchschnitt. Das liegt daran, dass Gepperts nicht nur leistungsstarke Tiere behalten. Die älteste Kuh ist 15 Jahre alt, auf anderen Höfen wird früher aussortiert. Und es liegt am Futter. Gepperts Tiere können tagsüber raus auf die Weide, die Stalltür steht offen. Sie bekommen Kraftfutter, aber nur gentechnik-freies. Auch wenn in der Molkerei, die ihre Milch holt, alles zusammengekippt und zu Käse verarbeitet wird – Gentechnik wollen die Gepperts nicht in ihrem Futter haben. Vielleicht wäre es wirtschaftlicher, aber das ist ihnen egal.

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Ihre Prinzipientreue kostet sie sowieso manchmal Geld: Männliche Kälber verkaufen sie – aber der Händler nimmt sie erst mit, wenn sie mindestens 14 Tage alt sind. Manche Landwirte flunkerten beim Geburtsdatum, weil an jedem Tag, an dem ein Kalb auf dem Hof bleibt, Kosten entstehen. "Wir haben uns vorgenommen, bei der Wahrheit zu bleiben. Und bei der kann man keine Kompromisse machen", sagt Gabi Geppert.

Es ist nicht so, dass die Gepperts sich alles gefallen lassen. Sie können wütend werden, kämpferisch. Sie haben schon viele gute Ratschläge gehört, alle Welt weiß, was Milchbauern wie sie in der Ver­gangenheit alles hätten besser machen können. Die Gepperts kontern direkt. Warum nicht umstellen auf Bio? Die Moorböden geben ohne Dünger zu wenig her. Vielleicht ginge es mittlerweile, aber dann müssten sie viel investieren. – Warum kein Hofcafé eröffnen oder eine Milchtankstelle für den Direktverkauf? Gabi Geppert hat schon Fortbildungen besucht, auf denen Dozenten dazu rieten. Aber der Vossweg, an dem ihr Hof liegt, ist eine Sackgasse. So was geht nur in der Nähe von Städten mit Kunden oder an touristischen Radwegen. – Warum nicht auf Ackerbau umstellen? Dafür sind die ­Böden zu schlecht. Hier ist nur Milchwirtschaft möglich.

"Ich könnte die Milchpackungen im Supermarkt aus dem Regal reißen"

Neulich hat Gabi Geppert einen Futter­mittelberater im Fernsehen erkannt. Ganz betroffen habe er geschildert, wie gedrückt die Stimmung unter den Land­wirten sei. "Ich habe mal eine Betriebsführung mitgemacht, da war er auch dabei und fragte einen unserer Gastgeber, warum er keinen größeren Stall baut." Viele Menschen haben den Bauern geraten, die Milchwirtschaft auszubauen. Auch die Gepperts haben gerechnet. Allein eine Sanierung des Melkstands und des Stalles hätte über 100 000 Euro gekostet, ein Neubau noch viel mehr. Sie kennen Landwirte, die Millionen investiert haben, während der "Goldgräberstimmung" noch vor wenigen Jahren, als es hieß, Milch werde zum Exportschlager. "Als es die Milchquote noch gab, war der Preis schon manchmal niedrig. Da sagt doch der gesunde Menschenverstand, dass etwas nicht stimmen kann."

Aber nun ist die viele Milch auf dem Markt und der Preis im Keller. Das verbittert Gabi Geppert, sie fühlt sich in ihrer Arbeit nicht wertgeschätzt. Und auch nicht als Bäuerin. Weihnachten hört sie im ­Radio immer, wie die Moderatoren sich bei den Menschen bedanken, die Heiligabend arbeiten: bei den Krankenschwestern, den Polizisten, den Soldaten im Auslands­einsatz. "Aber nie bedankt sich jemand bei uns."

Mehr zum Thema Milchwirtschaft: Was geschieht mit den männlichen Kälbern?

Sie will es sich nicht leichtmachen. Was wisse sie schon über das Leben der anderen Menschen, die sie im Supermarkt beim Einkaufen sehe? Die könnten sicher nicht immerzu über Landwirtschaft nachdenken. Aber dass Bauern von dem, was sie an Lebensmitteln produzieren, auch leben müssen, sei doch wohl klar. "Ich muss manchmal im Supermarkt aufpassen, dass ich die Packungen mit Milchprodukten nicht vor Wut aus dem Regal reiße. Oder Zettel hinten draufklebe: ‚Schämt euch!‘" Sie fängt an zu weinen. "Wo ist die Moral? Alle gucken zu, wie das hier gegen die Wand fährt." Sie besucht schon Kurse, damit sie wieder in ihren alten Beruf wechseln kann, wenn die Kühe erst mal weg sind. Manchmal steigt auch Erleichterung in ihr hoch, weil das permanente Müssen aufhört, die Verpflichtungen den Tieren gegenüber. "Die kleinen Höfe werden keine Nachfolger finden. Wer will denn das, sieben Tage die Woche im Stall stehen?"

Trügerische Goldgräberstimmung

Wer hat Schuld, dass die Gepperts aufhören müssen? Es ist nicht leicht, das herauszuhören. Der Bauernverband, weil er auf Wachstum gesetzt hat? Sie selbst, weil sie nicht mitwachsen wollten? Der Handel, weil er die Preise drückt? Die Kunden, die sich längst an günstige Lebensmittel gewöhnt ­haben? Die anderen Bauern, die immer noch mehr melken? Die Molkereien, die den Weltmarkt erobern wollen? Über die Molkereien ärgern sich Gepperts vielleicht am meisten. Dabei sind viele Molkereien Genossenschaften, sie gehören den Bauern, die auf Mitgliederversammlungen über den Kurs der Geschäftsführungen mitbestimmen können. Reinhold Geppert war sogar mal in einem Molkereivorstand, aber er sagt, das Amt sei kaum zu bewältigen. Tagsüber sei ja die ganz normale Arbeit zu tun.

Draußen ziehen dunkle Wolken auf, die Gepperts bekommen Gäste. Drei Bauernpaare aus der Gegend sind eingeladen, es gibt Tee, Kaffee und Kuchen. Reinhold Geppert erzählt von der Genossenschaftlerversammlung einer großen Molkerei. Er hatte einen Ordner neben sich auf den Stuhl gelegt, um die Geschäftsführung mit Fakten kritisieren zu können. Da kam ein Aufsichtsrat zu ihm. "Ach, Herr Geppert, wir wünschen uns doch alle eine ruhige, schnelle Versammlung." Reinhold Geppert sagt, hinterher gebe es immer ein großes Büfett. "Das ist doch Absicht, dass es nach Essen riecht, dann sind alle ge­nervt, wenn einer lange Reden hält."

Die Gäste sitzen um den Wohnzimmer­tisch der Gepperts herum und lachen über die Anekdote. Aber warum halten die Bauern nicht zusammen, wenn alle unter dem Preisverfall leiden? Ein Mann mit ­dicken, wuscheligen Haaren, in seinem Stall stehen 50 Milchkühe, grummelt: "Bauern kriegst du nie unter einen Hut." Nun reden sie das ganze Gewitter lang, das draußen vorüberzieht, viele Stunden. Ein Stakkato an Erlebnissen und Argumenten. Einer hat mit seiner Frau und den beiden Kindern über zwei Millionen Euro in einen neuen Stall für 250 Kühe und vier Melkroboter investiert. Er sagt, zur Wahrheit gehöre ja auch, dass der Milchpreis im Sommer 2014 mal bei 40 Cent gelegen habe, da sei die Goldgräberstimmung entstanden. Seine Frau nickt: "Wir haben nicht aufgepasst."

"Die Leute kaufen ­einen Grill für 800 Euro - und das Fleisch beim Discounter"

Ein anderer, der im Bundesverband Deutscher Milchviehhalter aktiv ist, erzählt, der Lieferstreik 2008 habe die Landwirte frustriert. Er schätzt, dass damals bis zu 70 Prozent der Milchbauern zehn Tage lang ihre Milch wegkippten, auch die Gepperts waren dabei, mit Tränen in den Augen. Der Handel erhöhte die Preise für Trinkmilch um zehn Cent, aber ein Jahr später bekamen die Bauern wieder weniger. "Seitdem denken viele: Es bringt ja nichts, wenn man zusammenhält", meint der BDM-Aktivist. Für ihn hat die Krise viel damit zu tun, dass Bauern Einzelkämpfer seien. "Man arbeitet den ganzen Tag für sich allein, man ist es gewohnt, nur auf den eigenen Betrieb zu achten. Man be­lauert den Nachbarn, weil man nicht wissen kann, was er plant."

Gabi Geppert erinnert sich, dass der Milchlaster beim Melkstreik 2008 trotzdem kam und absichtlich rückwärts auf den nachbarlichen Hof fuhr und stehen blieb. Niemand sollte sicher sein, ob der Nächste nicht doch Milch liefere und ein extra gutes Geschäft mache. Dabei gebe es doch Maßnahmen, die die Milchmenge um ein paar Prozent senken, wenn alle mitmachten, zum Beispiel: Die Kälber Vollmilch trinken lassen! Weniger Kraftfutter geben!

Je später der Abend, desto hitziger wird die Stimmung. Es gibt noch gut 70 000 Milchbauern in Deutschland, aber nur 150 Molkereien und fünf große Einzelhandelsketten. Erpressbar, ersetzbar und ausgeliefert seien die Bauern. Und der Handel bezahle seine Angestellten schlecht, es gebe einen großen Billiglohnsektor. "Die produzieren sich ihre Kunden, die Geiz geil finden müssen, die ganze Zeit selbst", sagt der BDM-Bauer. Nicht nur arme Kunden wollen billige Lebensmittel, wendet ein anderer ein: "Es gibt Leute, die kaufen einen Grill für 799 Euro. Und dann liegt ein Stück Hühnerbrust für einen Euro auf dem Rost."

Aber die Bürger und Verbraucher würden die Verantwortung nicht bei sich sehen, sondern mit dem Finger auf die Bauern zeigen, die mit teuren Trak­toren zur Demo fahren. "Heißt ja nicht, dass die Trecker auch alle abbezahlt sind", sagt Reinhold Geppert. Aber das Bild von den Bauern, die mit den Subventionen der Steuerzahler reich würden, halte sich. ­Alle am Tisch sind sich einig, dass sie lieber kein EU-Geld bekommen würden, dafür aber einen höheren Milchpreis.

Ein glimpfliches Ende, ohne neue Schulden

Gegen Ende des Abends haben die Frauen am Tisch eine Idee. Sie ­wollen demnächst zeitgleich ihre Einkaufswagen im nächstgelegenen "Edeka" voll mit Milch, Quark und Joghurt laden und an der Kasse den Betrieb aufhalten. "Tut mir leid, ich habe kein Geld, ich bin Milchbäuerin." Die Lokalzeitung würde sicher gern da­rüber berichten. – Als es draußen aufhört zu blitzen, brechen alle auf und bedanken sich bei den Gepperts: Es tue gut, mal zu hören, dass die anderen auch Sorgen hätten, sagen sie. "Viele sehen die Schuld bei sich und denken, die anderen können eben besser mit Geld umgehen", sagt Gabi Geppert.

Wie wird es sein, wenn der Hof aufgegeben ist? Natürlich stürzen dann nicht plötzlich alle Mauern ein. Das Haus bleibt stehen, die Gepperts werden weiter darin leben. Im Bauerngarten werden im Frühjahr die Blumen blühen. Der Ahorn wird neues Laub tragen. Aber die Ställe werden leer sein. Vielleicht vermietet Geppert sie dann quadratmeterweise an Wohnwagenbesitzer, als Winterquartier.

Es geht auf Mitternacht zu. Reinhold und Gabi Geppert stehen müde in der ­Küche. Reinhold Geppert weiß noch nicht, ob viele Tiere auf einmal vom Viehhändler zum Schlachthof gebracht werden. Oder ob sie nach und nach rausmüssen. Die Ruhe in seiner Stimme wirkt für einen Moment nicht mehr entschlossen, sondern unsicher.

"Ich darf nicht darüber nachdenken." Gabi Geppert sagt, ihr Glaube helfe ihr, das Ende der Milchwirtschaft zu ertragen. "Ich habe keine Angst vor dem, was kommt, ich muss nicht daran verzweifeln. Aber ich hätte nicht gewollt, dass unser Sohn eines Tages im Stall steht und verzweifelt." Reinhold Geppert stimmt ihr zu. Alles ­habe seine Zeit. Für seine Eltern sei es der richtige Zeitpunkt gewesen, das Geschenk anzunehmen und etwas aus dem Hof zu machen. Und für ihn sei es eben an der Zeit, die Geschichte zu einem glimpflichen Ende zu bringen, ohne neue Schulden.

Müde guckt der Bauer in seiner Küche umher und sagt: "Dann bin ich eben der Geppert, der wegläuft."

Und geht zu Bett.

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Die Refeudalisierung trifft selbstverständlich auch die Bauern, wo nur noch Millioneninvestoren auf Kosten ihrer ehemaligen, jetzt aber abgehängten Berufskollegen, die von den großen globalen Kapitalströmen einfach mitleidlos weggespült werden, eine Chance zum Überleben haben. Der Niedergang der bäuerlichen Familienbetriebe mag in bestimmten agrarindustriellen Unternehmen die Bilanzen verbessern, insgesamt gesehen aber ist es eine kulturelle Verarmung.

Friedhelm Buchenhorst, Grafing

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Der Artikel "Wenn Milchbauern ihren Hof aufgeben müssen" lässt doch so einiges fragwürdigerweise offen:
Um welche Forderung ging es im Milch"streik" 2008 konkret? (Wodurch sollte ein höherer stabiler Milchpreis erreicht werden?)
Warum wollten viele Bauern diese Forderung nicht unterstützen ? (Es fehlten im mittel je Tag 30%)
Es wurde nicht die angedrohte und ausgeübte Gewalt gegen Bauern angesprochen, wo sich nicht am Boykott beteidigt haben oder öffentlich Kritik an BDM und AbL äußern wollten. (gewaltsam geöffnete Tanks, massive Einschüchterungsversuche bei "Besuchen" der "Unsolidarischen", in den Schulen Aufforderungen nicht in den Pausen mit " Judaskindern"/Kindern von Nichtstreikern zu spielen,"ratgebende" Hinweise:"Wenn du dich gegenüber der Presse kritisch zum BDM äußerst überprüfe vorher deine Feuerversicherun, vielleicht wird sie bald gebraucht", ...)
Meiner Frau wurde seinerzeit beim Einkauf auf dem Parkplatz von einer vom Bauernhof abstammenden Frau erklärt, dass all diese Dinge gerechtferigt seien, "die unsolidarischen haben es so verdient", immerhin hat EKD -Agrarbeauftragter Clemens Dirscherl "Androhung und Ausübung von Gewalt"kritisiert: (auch"unsolidarische"haben ein Recht auf freie Meinung).
Da die lutherische Landeskirche Hannover sich "solidarisch mit den streikenden" erklärte informierte ich Bischh.Käßmann über Gewalt und Hintergründe. Ihr Büro verwies mich an einen Seelsorger. Dez 2015 erneute Solidaritätserklärung der Kirche mit BDM und AbL.

Antwort auf von Karl Milchbauer (nicht registriert)

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... ich suchte 2008 nicht nach einem Seelsorger , sondern wollte die Kirche sensibilisieren dafür dass sie sich mit einer Organisation solidarisierte mit radikalem Gedankengut( welche im Vorfeld des Streiks für die Organisation der PR ausgerechnet bei der NPD Rat suchte) . Diese Verhandlungen um PR-Beratung scheiterten an hohen Geldforderungen der NPD-Finanzierungs-Firma, nicht am "Ideologischen ". Diese Information über die PR-Firma bekam ich erst Jahre später, aber nach einer Verbindung zwischen BDM und NPD suchte eine "Die Zeit"-Redakteurin schon während dem Lieferboykott, da die NPD ausführlich und zustimmend in ihrem Parteiblatt über den BDM-Streik geschrieben hatte. Damals äußerte ich mich ihr gegenüber noch ungläubig über solch eine direkte Verbindung.
Zurück zum Seelsorger vom Kirchlichen Dienst...
...dieser hatte zwar einer äußerst ablehnende Haltung gegenüber dieser "Organisation mit der Wahl historisch belastetem Kürzel " , erkannte aber dass ich keinen Seelsorger suchte und fand sich daher nicht zuständig. Ich solle mich an den Brot-für-die-Welt-Beauftragten Uwe Becker wenden. Dieser stellte bei einem Treffen kurz und knapp fest dass :die Leute vom BDM alle prima Typen seien wo sich wunderbar für ihre Kollegen einsetzen ; unangebrachten Druck auf Nichtstreiker habe es nicht gegeben. Punkt. Behaupte ich etwas Anderes bräche er das Gespräch ab ! . Auch inhaltliche Positionierung kirchlicher Solidarisierung zu erklären lehnte er ab. Becker ist AbL-Mitglied.

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Kann Herr Dirscherl die Milchmengensteuerung einordnen ? Positioniert hat er sich ja. Der BDM hat auf Veranstaltungen vor dem "Streik"2008 die Bauern aufgefordert,Druck auf Streikbrecher auszuüben. Die Grenze des Drucks wurde wie folgt formuliert:"Macht nichts was uns die Presse versaut". Da dieser Wunsch ständig auf der Kippe stand erinnerte BDM-Symphatisant Clemens Dirscherl während des Boykotts:
https://www.topagrar.com/news/Home-top-News-Keine-Gewalt-gegen-Streikbre...
Anzumerken habe ich noch, dass Journalisten von NDR,NOZ,FAZ und anderen durchaus von "ungeheuerlichen Druckmitteln" aus zahlreichen Quellen wussten. Ein Journalist der Bersenbrücker Zeitung begründete sein Schweigen mit: "Wir wollen einen Streikerfolg nicht gefährden". "Ein solcher Umgang unter Bauern scheint mir üblich" begründete hingegen ein Journalist der FAZ das Schweigen über Gewalt.
Wenn die Fachleute der Kirche sich Einreihen mit Nazisten und Nationalisten sollte endlich mal jemand skeptisch werden bei der EKD.

Niemand muss ja die Ziele, Ideen und Aktionen des BDM unterstützen, auch nicht, wenn er Milchbauer ist. Allerdings ist es schon sehr traurig, wenn jemand meint, den BDM dadurch abqualifizieren zu müssen, dass er ihn in die Nähe von "Nazisten und Nationalisten", gar der NPD rückt! Ich denke, solche hanebüchenen Unterstellungen deuten auf einen tief sitzenden Hass hin. Vielleicht entsteht dieser aus Scham dafür, dass man sich selbst an den Streikaktionen 2008 nicht solidarisch beteiligt hat. Wie ist Ihre Situation heute, Karl Milchbauer? Sind Sie immer noch Milcherzeuger? Kommen Sie mit der Krise gut klar, oder müssen auch Sie sich eingestehen, dass die Einschätzungen von BDM und AbL nicht ganz falsch waren und dass ein Kriseninstrument, wie die beiden Verbände es immer gefordert haben, uns Milchbauern heute vieles erspart hätte? Gut, dass viele Vertreter der Kirche zu den Bauern stehen, die sich für ihre Rechte und den Fortbestand ihrer Betriebe eingesetzt haben und immer noch einsetzen. Was haben Sie getan, Karl Milchbauer?

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1. Brutal und gemein! Ob wir es wollen oder nicht, so ist nun mal jeder Markt, den wir alle auch selbst machen. Die Bauer erleben das, was nahezu alle anderen Branchen schon erleben mussten. Auch die Bauern selbst bilden da keine Ausnahme. Sie kaufen auch da ihre Betriebsmittel, den Dünger, den Harnstoff, das Saatgut, die Futtermittel, wo es am billigsten ist. Und warum soll man ihnen das verübeln, auch wenn diese Produkte dann in Deutschland mangels Nachfrage oder wegen fehlender Konkurrenzfähigkeit nicht mehr hergestellt werden. Das gilt auch für alle anderen Branchen, die am Hungertuche nagten und schon lange nichtmehr existieren. Nahezu die gesamte Textil- und Schuhindustrie ist diesem Prinzip zum Opfer gefallen. Warum sollten die Bauern eine Ausnahme sein? Aha, Brot und Butter die „heiligen Kühe“ der täglichen Versorgung! Deren Existenz bzw. Produktion muss doch unbedingt national gesichert sein! Und dann schaue doch mal jeder in seinen „Fresskorb“ und schätze, wie viel von dem Inhalt denn noch aus unseren Landen kommt oder zu unseren Sozialbedingungen hergestellt wurde. Egal ob es sich zusätzlich dann noch um Küchengeräte, Smartphones oder um den täglichen unnützen Kleinkram handelt. Wir selbst beschäftigen doch, um des billigen Produktes wegen, lieber jeden asiatischen „Sklaven“ als unsere teuren Landsleute. Und erst die Reisen! Da wird doch auf den Schiffen angesichts der „Billig-Heiner“ bzw. der dienstbaren Geister super gelebt.

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2. Brutal und gemein. Diese Feststellungen können von denen als anmaßend empfunden werden, die ihr eigenes Verhalten nicht hinterfragen möchten. Den durch und durch fairen Konsumenten, der nur die Produkte kauft, deren Herstellbedingungen er auch für sich selbst akzeptieren würde, den gibt es nicht. Fair trade ist nur ein Alibi und kann unser rücksichtsloses Konsumverhalten nicht einmal ansatzweise ausgleichen. Weltweit gibt es da kein gutes Vorbild. Es sei denn den eremitischen Kleingärtner ohne Außenkontakt.

Hallo OCKENGA
ihre Szenarien treffen auf den Bereich Milch nicht deutlich zu.
Die deutschen Milchbauern befinden sich bei den Milcherzeugungskosten global längst im Mittelfeld und sie produzieren seit der Jahrtausendwende weitgehend zu Weltmarktpreisen. Und im Mittel der Jahre verdienten sie dabei. Im Moment gibt es eine globale Überproduktion unter der weltweit Milchbauern fast überall unrentabel produzieren. Auslöser sind verschiedene Faktoren, am mengenmäßig bedeutendsten eine Nachfragebremse in China nach Bekanntwerden des geringen Wirtschaftswachstums. Aber auch mit kleinerem Anteil die "Entfesselung" in Europa nach Abschaffen der Milchquote , sowie die Gewöhnung an/Erwartung von weiteren Absatzzuwächse auf dem Milchweltmarkt bei global allen wichtigen Erzeugungsregionen. Wie schon erwähnt , deutsche Milcherzeuger befinden sich im Mittelfeld bei den Erzeugungspreisen, eine Verdrängung auf den Milchmärkten durch das derzeitige globale "Kräftemessen" im Preistief ist nicht ausgeschlossen aber auch nicht wahrscheinlich. Die deutschen/Europäer haben aber die Entwicklung wohl kurzfristig überschätzt und zu viele neue Stallkapazitäten in wenigen Jahren geschaffen. Auch durch die Förderungspolitik einiger Bundesländer wie Bayern oder sachsen, welche 40% von Netto der Baukosten durch den Steuerzahler beglichen. Die Situation sorgt für besonders hohen Wettbewerbsdruck auch unter deutschen Milchbauern.Gilt aber auch in Hochpreisphasen um Fläche und in der Vergangenh. Quote.

Zwar nicht deutlich aber doch unmißverständlich erkennbar sind die Parallelen. Wie sich doch die Bilder gleichen! Fast deckungsgleich ist auch die Beschreibung des Ölmarktes, die Winzer, neuerdings auch die im preisverwöhnten Frankreich und die Brauer singen ein ein ähnliches Lied. Wer sich dem Weltmarkt ausliefert, muß auch die Regeln des globalen Marktes akzeptieren. Kongruent sind die Situationen in den einzelnen Märkten selten, aber die Folgen sind immer die gleichen.

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Es hat mich sehr gefreut, dass das Thema Landwirtschaft in der Ausgabe Nr. 9 aufgegriffen wurde. Meiner Meinung nach erfahren Landwirte für ihre Arbeit von der Gesellschaft zu wenig Wertschätzung. Die Aussagen der beiden Leserbriefe unter dem Titel „Am Markt vorbei“ sind so nicht hinnehmbar. Man kann den Landwirten nicht vorwerfen, dass sie am Markt vorbei produziert haben und selbst Schuld an ihrer Lage sind. Die Zusammenhänge sind viel komplexer. Der Landwirt steht ganz am Anfang der Kette zwischen Erzeuger und Verbraucher und ist vom Handel abhängig. Schuld ist nicht allein die Überproduktion, sondern die gesunkene Nachfrage auf dem Weltmarkt (Importverbot von Lebensmitteln aus der EU und den USA durch Russland, gesunkene Nachfrage aus Asien), die den Preis bestimmt. Auf dem Weltmarkt korrelieren Preise für Agrarprodukte mit dem Ölpreis. Einige Landwirte haben kurz vor dem Ende der Milchquote, als der Milchpreis für kurze Zeit auf einem höheren Niveau lag, in neue Ställe investiert, um nach dem Ende der Milchquote effizienter produzieren zu können. Gleichzeitig haben aber auch schon während der Milchquote viele Betriebe ihre Kühe abgeschafft. Da Landwirte mit der Natur produzieren – Boden, Pflanze, Tier – können sie nicht so flexibel auf den Markt reagieren. Die Kuh muss weiter täglich gefüttert werden und sie gibt auch weiterhin täglich ihre Milch.

Vor kurzem haben wir Erntedank gefeiert. Landwirtschaft ist nicht nur Produktion, sondern auch ein Kulturgut. Es wäre schade, wenn wir das vergessen.

Martina Diehl, Wolfenbüttel

OHNE ZWEIFEL RICHTIG. Zitat Fr. Diehl: „Meiner Meinung nach erfahren Landwirte für ihre Arbeit von der Gesellschaft zu wenig Wertschätzung“. Das ist besonders traurig, wenn man die Lebensmittel-Vernichtungsquote von 50% (?) bedenkt. Das Beste was es gibt, das Leben als Produkt, wird hemmungslos im Abfall vernichtet. Warum? Weil Lebensmittel entschieden zu billig sind. Die industrialisierte Landwirtschaft hat das ermöglicht. Die Masse -auch anderer Produkte- macht sich selbst zum Wegwerfartikel. Allerdings müssen auch viele Lehrer die Missachtung ertragen. Den Polizisten ergeht es ähnlich. Den Soldaten auch. Landwirte sind, ob sie wollen oder nicht, ein Teil des Marktes. Dessen Regeln sind übermächtig. Auch die Landwirte kaufen da, wo es am günstigsten its. Ohne eine Rücksicht auf hiesige Arbeitsplätze. Wie alle anderen auch. Weil die Komplexitäten einfach unübersehbar geworden sind, wird jeder Markt von Berg und Tal geprägt. Deshalb kann auch eine Produktion vorübergehend am Markt vorbei erfolgen. Schweine- und Butterberge! Man kann den Landwirten nicht vorwerfen, dass „Sie selbst Schuld“ sind. Für eine Schuld fehlt die Absicht und die Möglichkeit, rechtzeitig Folgen zu kennen. Dieses Dilemma betrifft alle Marktteilnehmer. Wer kann schon ahnen, dass die Russen den Markt dicht machen und die Chinesen wieder das Milchpulver in Neuseeland kaufen können. Dort war massiv die Menge wegen einer Missernte eingebrochen. Als unsere Bauer davon profitierten, hat niemand geklagt. Landwirtschaft ist wesentlich mehr als nur ein Kulturgut. Es wäre schade, wenn wir das vergessen. Vergessen wird aber auch, wie viele Branchen es gar nicht mehr gibt. Ob man will oder nicht, die Landwirtschaft ist nicht mehr eine süße Almmelodie oder das traute Bild vom Bauern, der noch alle seine Tiere einen Namen gibt. Landwirtschaft ist eine industrielle Nutzung von natürlichen Produktionsmitteln! Heidiland ist abgebrannt! Das ist für die BRUTAL, die noch immer glauben, dass der Wohlstand als billiger gebührenloser Regen vom Himmel fällt.

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Wieder befremdet mich die "Selber schuld"-Haltung in einem Leserbrief. Dazu ein paar Gedanken, die ich mir bei einem ähnlichen Anlass gemacht hatte:

SELBER SCHULD!

Am wenigsten hatte ich das von Tim erwartet, der als Schüler ausgesprochen flippig war, wie wir damals sagten. Ein liebenswerter Chaot, der seine Englischlehrerin – also mich – schon mal auf dem Gepäckträger seines Fahrrades transportierte. Zur Belohnung habe ich mit ihm den Kriegsdienst verweigert. Inzwischen ist er allein erziehender Vater zweier Söhne, mit denen er kürzlich Go-Kart gefahren war. Der 16-Jährige ließ sich natürlich nichts sagen, nahm eine Kurve zu heftig und hatte sich dabei so übel gestoßen, dass die Schmerzen ihn daran hinderten, am nächsten Tag Ski zu laufen. - „Du hast hoffentlich nicht ‚Selber schuld!“ gesagt“, meinte ich zu Tim. Er grinste verlegen, blickte in die Luft und beteuerte wenig überzeugend: „Öh – nein!“

Zu Herbert passte diese selbstgerechte Haltung schon eher. Er hatte sich verfahren, was für die meisten Männer wohl eine Schande bedeutet, und um ihn abzulenken erzählte ich, was mir beim Anblick eines Hinweis-Schildes nach Much in den Sinn kam. Eine junge, schwangere Kollegin hielt es im lauten Köln nicht mehr aus. In Much fanden sie und ihr Mann ihre Traumwohnung, die obendrein auch noch preiswert war. Das bestätigte ihnen, wie überteuert die Mieten in Köln sind, und sie zogen zufrieden aufs Land. Erst dann merkten sie, was ihnen bei der Besichtigung wohl entgangen war: ihre Wohnung lag in der Flugschneise und war also immer wieder unerträglich laut.

Herbert schnaubte über so viel Dummheit: „Da erkundige ich mich doch vorher! Da werde ich doch misstrauisch, wenn eine Wohnung so billig ist! Das war doch bekannt, dass die Flugrouten anders geführt wurden! Da sind die doch selbst schuld!“ – Ihm habe ich in deutlicheren Worten als Tim klargemacht, dass ein Elend dadurch nicht geringer wird, wenn man es selbst verursacht hat.

Vor Gericht ist es natürlich besonders wirkungsvoll, wenn sich die Schuld an einer Straftat auf das Opfer abwälzen lässt: Der Wirt eines einsam gelegenen Gasthauses war niedergestochen worden, als er zwei junge Einbrecher überrascht hatte. Die immerhin reuigen jungen Täter sollten niedrige Strafen bekommen, weil keine Tötungsabsicht vorlag. „Der Verteidiger … führte an, der Wirt … habe sich fahrlässig verhalten, als er nach einem Einbruchsalarm nach dem Rechten sehen wollte, ohne die Polizei zu informieren.“ So hieß es dazu in unserem Lokalblatt.

Wirklich erschüttert war ich dann ausgerechnet bei der Lektüre von CHRISMON. Im Vormonat war von zwei sehr jungen Männern berichtet worden, die beide nach einem Kopfsprung in zu flaches Gewässer querschnittsgelähmt waren. Ihr Lebensmut und ihre Willenskraft hatten mich ungeheuer bewegt, deshalb war ich fassungslos über einen Leserbrief:

„Den beiden jungen Menschen wünsche ich gute Heilung, ja, Genesung. Doch vor über 40 Jahren lernte ich, im Rahmen der DLRG, dass man grundsätzlich nur mit den Füßen voran in unbekanntes Gewässer springt. Wussten die beiden das nicht?“

Im Englischen gibt es einen alten Spruch, der mir erst sehr spät begegnet ist, und den ich noch immer nicht angemessen übersetzen kann: „There but for the grace of God go I.“ Als erster soll ein frommer Mann in unruhigen Zeiten diese Worte beim Anblick von Todeskandidaten auf dem Weg zu ihrer Hinrichtung gesprochen haben; heute könnten sie einem in den Sinn kommen, wenn man z.B. einen Bettler sieht: Ich könnte an dessen Stelle sein, wenn Gott es nicht gut mit mir gemeint hätte. Es ist nicht unser Verdienst, wenn Fehler mal keine katastrophalen Konsequenzen haben. Und es ist niemandem damit gedient, wenn man ihn darauf hinweist, dass sein Unglück selbst geschmiedet ist.

Mit freundlichem Gruß,

Dagmar Eckermeier, Köln

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