Lisa Rienermann
Gleichzeitig gerecht und Sünder
Extreme religiösen Ideale führen bisweilen zur Doppelmoral. Zum christlichen Menschenbild passt das nicht
Portrait Eduard KoppLena Uphoff
21.05.2016

Ein Lehrer fragt ein Kind vor der gesamten Klasse: „Ist es wahr, dass dein Vater oft betrunken nach Hause kommt?“ Was der Lehrer da andeutet, ist wahr, aber das Kind sagt Nein. Es lügt. Es spürt: Die Frage des Lehrers ist ein Übergriff, ein unberechtigter Einbruch in seine Familie. Den darf es abwehren. Seine Worte sind unwahr, aber dass es die Familie schützt, ist berechtigt. Schuld an dieser Lüge, so sagt Dietrich Bonhoeffer, der dieses Beispiel in seiner „Ethik“ beschreibt, ist der Lehrer, nicht das Kind.

Das achte Gebot der Bibel lautet: Du sollst nicht lügen! Das hört sich eigentlich ziemlich klar an. Doch Pastor Henning Kiene meint, dass es ganz so streng nicht ist. Manchmal müsse man erst langsam an die Wahrheit herangeführt werden - und in ganz speziellen Situationen solle man sogar lügen bis zum Schluss.
Eine Lüge kann eine bewusste, eine gezielte Täuschung sein – vom gekauften Doktortitel bis zur Vorbereitung von Terror, vom Steuerbetrug bis zur falschen Zeugenaussage vor Gericht. Sie kann aber auch ein Lavieren an der Grenze des Legalen sein – wie bei den Offshore-Geldgeschäften, über die der frühere ARD-Börsenexperte Frank Lehmann sagte: „Der Ehrliche ist der Dumme.“ Zu Lügen im weitesten Sinn kann man aber auch Selbstinszenierungen rechnen, die die Tatsachen massiv verfälschen: deutlich geschönte Lebensläufe in Bewerbungsmappen. Sicherlich: Jeder und jede möchte möglichst gut aussehen und einen guten Eindruck machen. Aber das kann man auch maßlos überdehnen.

Eine besondere Lügengeschichte findet sich im Neuen Testament. Weil sie so wichtig ist, wird sie in allen vier Evangelien erzählt. Petrus, einer der treuesten Anhänger Jesu, beobachtet das Gerichtsverfahren gegen ihn vom Hof des Hohenpriesters aus. Dort wird er von einer Magd und einem Knecht als Gefolgsmann Jesu erkannt und zur Rede gestellt. Doch Petrus lügt geradeheraus: „Ich kenne diesen Menschen nicht.“ Dass er es kurz darauf bereut, macht seine Lüge nicht ungeschehen, aber es verändert die moralische Schuld.

Begünstigt der Glaube die Bereitschaft zum Lügen? Diese These geistert immer mal wieder durch Debatten und Buchveröffentlichungen. Die Überlegung dahinter: Je höher die ethischen Ideale sind, desto eher kommt es zum Scheitern – auch an der Wahrheit. Die stets harmonische Ehe, eine durch nichts zu irritierende Feindesliebe, bis zur Selbstquälerei gehende Bescheidenheit: Irgendwann ist die Grenze zum Selbstbetrug und zur Lüge überschritten. Es gerät aus dem Blick, wie versöhnlich, wie barmherzig zum Beispiel Bibel und Koran sind. Das Verbot im Dekalog, „falsch Zeugnis“ abzulegen, lässt sich auch so interpretieren.

Luther hatte Sympathie für den "fröhlichen Sünder"

In der Bibel gibt es einige Fehleinschätzungen (Lügen möchte man sie noch nicht nennen), zum Beispiel die abwertenden Bemerkungen über die Pharisäer, eine religiös-politische Partei. Diese erscheinen als falsch, heuchlerisch, unehrlich und als Leute, die andere Juden notorisch als nicht fromm genug kritisieren. Das entspricht nicht ganz der historischen Realität, denn viele Pharisäer waren sehr gebildete und reflektierte Menschen. Die zugespitzte ­Kritik an ihnen soll nur deutlich machen: Humanität, wie sie Jesus zeigte, ist wichtiger als die wortgenaue Einhaltung religiöser Gesetze.

Wofür sind die Engel da?

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Der Reformator Martin Luther hat eine kluge Formel für den Umgang mit überzogenen Selbstbildern und Zynismus gegenüber anderen gefunden. Er zeigte in einer seiner Tischreden seine Sympathie für den „fröhlichen Sünder“. Das war keine Einladung, moralisch bedenkenlos über die Stränge zu schlagen, sondern mit sich selbst barmherzig zu sein und vor allem auf die Güte Gottes zu hoffen. Ein Mensch, so Luther, sei „simul iustus et peccator“, gerecht und Sünder zugleich. Er muss nicht auf Biegen und Brechen sich selbst und der Welt beweisen, wie gut und moralisch perfekt er ist. Er würde es sowieso nicht schaffen.

Menschlich mit Fehlern umgehen, statt den Perfekten zu spielen, das ist die biblische Empfehlung zum Umgang mit sich selbst und anderen. An die Entwicklungsmöglichkeiten der anderen glauben. Von anderen nicht mehr fordern, als man selbst erfüllen kann. Das alles ist zusammengefasst in dem schönen Satz: „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch!“ (Matthäus 7,12).

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Sehr geehrter Herr Kopp und Redaktion
„Lügen Christen öfter?“
Meinen Sie „Lügen Christen des Öfteren?“ oder „Lügen Christen öfter als Andere ?“
Sie schreiben: „Es gerät aus dem Blick, wie barmherzig zum Beispiel Bibel und Koran sind.“ [Anmerkung der Redaktion: Hier wurden Sätze gelöscht.] Ein durch das Fernsehen bekannter Mann hat gesagt: „Der Islam ist überall friedlich, wo er nicht an der Macht ist.“ Ihr dem Islam gegenüber vorauseilender Gehorsam wird sich in irgend einer Form bitter rächen. In einigen deutschen Städten werden mit Rücksicht auf Muslime keine Weihnachtsbäume mehr aufgestellt. In England wird in den Nachrichten nicht mehr von 'vor oder nach Chr.' gesprochen, sondern wie zur Nazizeit vor oder nach der Zeitenwende. [Anmerkung der Redaktion: Dieser Satz wurde gelöscht.]
Mit passenden Grüßen
Inge Neinens, Hamburg

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"Gleichzeitig gerecht und Sünder" geht nicht. Ein Mensch kann nicht wirklich gerecht sein. Er kann sich darum bemühen, und es gelingt ihm mehr oder weniger gut, aber das ist auch schon alles. Es ist auch nicht so, dass die Bibel hier Empfehlungen ausspricht, wie Herr Eduard Kopp es behauptet. Es ist vielmehr so, dass die Bibel ein sehr das Leben umspannende Werk ist und auf alles eine Antwort zu geben versteht, weshalb es noch lange nicht die einzig CHRISTLICHE Antwort ist. Die Lebensweisheit ist es, die hier zum Vorschein kommt, und diese ist UNIVESELL. Um etwas über die Lüge zu erfahren muss man weder die Bibel aufschlagen, noch evangelisch sein, denn jedes Kind lernt irgendwann einmal den Umgang mit der Lüge kennen, was kulturell unterschiedlich sein kann, aber grundsätzlich eine universelle Wahrheit darstellt. Spätestens die Wissenschaft dürfte hier alle offenen Fragen klären.
Luther hatte wohl für "den fröhlichen Sünder" Verständnis, doch was heißt das ?
Schon allein in der Ehe dürfte Luther für die Wenigsten von Bedeutung sein ! Und in persönlichen Zusammenstößen von Kompetenzen, zwischen Patient/ Klient und Arzt, bzw. Autorität und Abhängigen, da spielt Luther eine sehr zwiespältige Rolle.
Wie wollen Sie, Herr Kopp, solche Beziehungen auf ein, zugegeben, wünschenswertes Mass, erheben ?
Moral ist für die Katz`, und etwas für Zeitungsredakteure, die sich einen schönen Lenz machen, auf Kosten der Dummen !
Aber ich mag die Schlawiner. Die anderen, die "Perfekten" , soll doch der Teufel holen !
Doch das Beste kommt noch: wenn nämlich " der fröhliche Sünder " einen anderen "fröhlichen ..." in den sichern Tod , oder andere kleine oder große Laster, befördert, wen erfreut es dann?
Grundsätzlich bin ich erfreut, mich so tolerant hierüber auslassen zu können, weil nicht jedem ist es vergönnt, in glücklicher Beziehung zu leben.

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