Zerstörtes Haus in der Ukraine
Hinter der ­beschlagenen ­Tür im Bezirk Petrow, Donezk, sucht dieser Mann mit seinen Töchtern Schutz vor Bomben
Pieter-Jan De Pue/laif
Krieg in Europa
Im Osten der Ukraine tobt er schon zwei Jahre und treibt Hunderttausende in die Flucht. Eine Caritas-Mitarbeiterin über die schwere Krise im Südosten Europas
Foto: Caritas International
02.05.2016

Er sei erstaunt über die westeuropäischen Zeitungsmeldungen nach den Anschlägen von Paris und Brüssel, schrieb mir der Präsident der Caritas Ukraine, Andrij Waskowycz. Dort war zu lesen: „Der Krieg ist in Europa angekommen.“ Wer in der Ukraine lebt, weiß: Europas erster großer Krieg des 21. Jahrhunderts begann schon im März vor zwei Jahren – mit der Be­setzung der Krim und ihrer Annexion. Und er weitete sich aus, auf die östlichen Gebiete der Ukraine.

###autor###Andrij Waskowycz listete Mitte März in seiner Mail auch die traurige Bilanz ­dieses Krieges auf: 9187 Tote, 21 085 Verletzte und anderthalb Millionen Binnenflüchtlinge. Nach Angaben der Vereinten ­Nationen brauchen drei Millionen Menschen humanitäre Unterstützung. Das ohnehin schon minimale soziale Sicherungssystem der Ukraine ist extrem belastet – mitten in ­einer schweren politischen Krise.

Ich kenne diese Zahlen und die vielen damit verbundenen sozialen Probleme. Ich arbeite mit ukrainischen Kollegen zusammen, die sich an den lokalen Protesten in Donezk engagiert haben und vielleicht nie wieder zurückkehren können. Ich kenne Familien, die wegen unterschiedlicher ­politischer Ansichten zerrissen sind, oder die wegen der neuen Grenzen gar nicht mehr zusammenkommen.

Und dennoch wundere ich mich selbst noch, wie wenig sichtbar die humanitären Folgen dieser Krise im Alltag der Hauptstadt sind. Wie kann es sein, dass nicht mehr Leute als sonst an Suppenküchen anstehen, dass nirgends große Lager und Zeltdörfer stehen, und dass sich selbst die Zahl der Obdachlosen kaum erhöht hat? Ich wundere mich, obwohl ich den Grund längst weiß. Die Flüchtlinge sind fast alle untergekommen.

Mit Holzheizung und Kartoffeln lässt sich nur eine begrenzte Zeit überleben

Viele Flüchtlinge haben bereits zwei Winter bei Verwandten oder Bekannten überstanden. Als die ersten Vertriebenen ankamen, fuhren zudem Menschen mit Schildern zum Bahnhof: „Wir sind ­bereit, jemanden aufzunehmen.“ Manche Flüchtlinge konnten vom Ersparten eine ­Wohnung mieten. Andere haben leer­stehende Häuser in den mehr oder minder idyllischen Dörfern bezogen.

In ihrem Haus im nördlichen Bezirk Kiew, Donezk, sind Wohnungen zerstört. Im nahe gelegenen Flughafen wird noch immer gekämpft
Ein Sommerferienhäuschen wurde zur neuen Heimat von Oxanas Familie. Sie hatten zuvor in Donezk ein recht sorgloses europäisches Mittelschichtsleben geführt, mit einer eigenen, gut renovierten Wohnung, einem Wagen und Urlaubsreisen ins Ausland, sie war finanziell abgesichert. Nun lebt Oxana mit ihren Kindern in der Nähe des Fleckens Swjatogorsk nahe der Stadt Slowjansk, wo sich besonders viele Flüchtlinge aufhalten. „Nachdem wir uns einigermaßen eingerichtet hatten, habe ich nach weiteren Häusern gesucht und sie an andere Flüchtlinge vermittelt“, erzählt sie. Und: „Früher ging ich morgens ins Fitnessstudio, jetzt beginne ich den Tag im Wald, um Holz zu schlagen für unseren Ofen.“

Auch wenn die Menschen Wohnungen gefunden haben, die Krise spitzt sich zu. Viele leben ohne fließendes Wasser, und sie ernähren sich extrem einseitig. Man kann sich nur eine begrenzte Zeit mit Holzheizungen, Kartoffeln und dem noch immer staatlich subventionierten Brot versorgen und sich auf die Hilfe und Solidarität der Mitbürger verlassen. Vor allem aber gibt es auf dem Land keine Arbeit, die Menschen können ihre Situation nicht nachhaltig verbessern.

Die meisten Ukrainer hatten nach ­dem Zerfall der Sowjetunion ihre Wohnungen privatisieren können. Die eigene Wohnung funktionierte als Quasi-Sozialversicherung. Wenn sie nun eine Wohnung anmieten, ohne jeden Mieterschutz, sind sie immer im Ungewissen: Können sie bleiben, werden die Mieten erhöht?

"Bettlägerige Alte wurden von Pflegern zurückgelassen"

Hilfsorganisationen versuchen Flüchtlingen dabei zu helfen, sich eine neue Exis­tenz aufzubauen. Doch gleichzeitig nehmen die Spannungen zu: Alteingesessene sehen die Binnenflüchtlinge zunehmend als Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt an. Oder sie beklagen, dass ihnen angeblich mehr geholfen wird. Hilfsprogramme für die Bedürftigsten der Lokalbevölkerung sollen solche Konflikte entschärfen.

Ein Therapeut berichtet mir außerdem von Menschen, die dringend psycho­logische Hilfe brauchen, sie sich aber nicht leisten können. Viele waren vor der Flucht oft tagelang unter Beschuss, in Bunkern. Der ukrainische Caritas-Präsident Andrij Waskowycz schätzt, dass unter ihnen ­etwa 400 000 Kinder sind, „60 bis 80 Prozent wurden Zeugen von Gewalt“.

In den von der Regierung kontrollierten Gebieten können Hilfsorganisationen die Menschen auf vielfältige Weise unter­stützen. Sogar in der Pufferzone hilft die Caritas materiell und auch bei der Reparatur der Häuser. Aber was ist mit den Menschen in den Gebieten, in denen die ukrainische Regierung keine Kontrolle mehr hat? Hier haben Organisationen wie die Caritas nur beschränkt Zugang. Dabei ist dort die Lage besonders prekär. Wir wissen nicht, ob die Leute mit Nahrungsmitteln versorgt sind. Auch ist viel medizinisches Personal und Pflegepersonal aus der Region geflohen. „Nach unseren Informationen sind oft auch bettlägerige Alte zurückgeblieben“, sagt Andrij Waskowycz. „Ich sorge mich sehr, was wir vorfinden werden, wenn wir wieder Zugang bekommen. Ob sie überhaupt noch leben.“

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