Mahmoud Yossry
Kairos wilde Männer
Kaum irgendwo auf der Welt werden Frauen so häufig belästigt wie in Ägypten. Junge Männer in Kairo halten die rigide Moral für das Problem
22.02.2016

99,3 Prozent aller Ägypterinnen gaben 2013 in ­einer Umfrage der Ver­einten Nationen an, dass sie bereits sexuell belästigt worden seien. 96,5 Prozent be­richteten von physischen Übergriffen, fast ebenso viele von obszönen Kommentaren und davon, dass Männer sie in der Öffentlichkeit anstarren würden. Sexuelle Belästigung ist auf Ägyptens Straßen an der Tagesordnung. Wie das aus der Perspektive der Frau aussieht, dokumentiert das Video „Creepers on the Bridge“, das sich im Internet auf den Video­portalen youtoube.com und vimeo.com abrufen lässt.

Was geht im ägyptischen Mann auf der Straße vor? Der ägyptische Filmemacher Mahmoud Yossry, 27, und sein Freund Mohamed sind dem nachgegangen. „A Man Since Long Time“ („Ein Mann seit langer Zeit“), so nennt Yossry seinen Kurzfilm. ­Junge Männer reden über ihre sexuellen ­Bedürfnisse und über ihre teils absurden Fantasien. Sogar Mahmoud Yossry gibt zu: Er wünscht sich einvernehmlichen Sex vor der Ehe. Aber auch er würde nur eine Frau heiraten, die noch eine Jungfrau ist.

Mahmoud und Mohamed kennen sich seit Kindertagen. Mahmoud studiert an der Filmhochschule Kairo, Mohamed arbeitet als Ingenieur. Wie für unverheiratete Ägypter üblich, wohnen sie noch bei ihren Eltern. ­Beide haben keine Freundin. Sie trauen sich, öffentlich auszusprechen, was viele andere insgeheim denken. Oft lachen die jungen Männer in seinem Kurzfilm und machen Witze – ob aus überspielter Scham oder Selbstironie ist nicht zu erkennen.

"Allmählich denke ich, dass ich nie Sex haben werde"

Mahmoud: Mich quält seit langem eine innere Unruhe, die ich auch bei anderen Männern wahrnehme. Zum Beispiel bei Mohamed. Ich habe ihn eines Tages einfach darauf angesprochen, danach noch andere Freunde und Kommilitonen – so kam mein Filmprojekt ins Rollen. Alle hatten sofort Lust mitzumachen. Endlich über diese innere Unruhe zu sprechen: sexuelle Frustration. Frustriert sind sogar die, die mit Zustimmung der Eltern eine Freundin haben, denn in unserer Gesellschaft bedeutet das nicht automatisch, dass man dann auch Geschlechtsverkehr miteinander hat.

Mohamed: So gut wie kein Mädchen wird ihrem Freund gestatten, vor der Ehe Sex mit ihr zu haben, sogar wenn sie verlobt sind. Wenn sie es täten und erwischt würden, wäre das ein Skandal – und eine Schande für das Mädchen.

Mahmoud: Außerdem wäre es eine große Sünde in unserer Religion.

Mohamed: Sexuelle Bedürfnisse zu haben, ist doch etwas Natürliches. Warum soll ich sie unterdrücken?

Mahmoud: Seit ich 15 bin, bin ich ein Mann und könnte Sex haben. Aber allmählich denke ich, dass das nur ein Traum ist und nie passieren wird.

Mohamed: Ich hatte schon einmal Sex, aber nicht in Ägypten, und auch keinen richtigen Geschlechtsverkehr. Wenn ich an einem Punkt stoppe, wird es mich trotzdem befriedigen. So begehe ich nicht die große Sünde. Die korrekte Lösung ­wäre Heirat. Aber nicht jeder ist dazu bereit – zumindest nicht in diesem Alter.

Mahmoud: Die meisten Männer schauen Pornos und masturbieren, solange sie keine Frau oder Freundin haben. Im Film geben das alle zu.

Was sagen Ihre Eltern und Geschwister dazu, dass Sie junge Männer dabei filmen, wie sie über Pornografie und Mas­tur­bation sprechen?

Mahmoud: Meine Eltern haben den Film noch nicht gesehen. Weil ich mich schämen würde – und sie sich vermutlich ebenso. Bei meiner Schwester Heba ist das anders: Sie ist fünf Jahre älter als ich und Regisseurin. Sie hat sich den Film ange­sehen und findet ihn gut. 

Wenn jemand etwas ändern kann in Ägypten, dann Männer wie sie

Freitag ist der islamische Sonntag. Am ­Donnerstagabend nach 23 Uhr machen sich Mahmoud und Mohamed fertig zum Aus­gehen. Draußen ist es immer noch warm, auf den Gehwegen herrscht ein Gewimmel und auf den Straßen hupen die Autofahrer, das ägyptische Wochenende beginnt. 

Mit dem Auto fahren Mahmoud und Mohamed ein paar Straßen weiter und biegen dann auf einen großen Parkplatz ein. Unter einer schummrigen Laterne stehen ihre Freunde. Alle sind sportlich und gepflegt ­gekleidet. Karim ist Architekt, Ahmed Tierarzt  – er ist als Einziger verlobt. Ein anderer, auch er heißt Ahmed, ist Apotheker.

Mohamed: Wo wir hingehen, da sind ­keine Frauen. Wir sitzen bis drei oder vier Uhr morgens zusammen. Wir reden, ­machen Witze und trinken Kaffee – nichts Besonderes.

Karim: Wir treffen uns seit unserer Kindheit hier. Es kostet nichts, wir sind an der frischen Luft, und beim Kiosk an der Ecke können wir einen Happen kaufen, wenn wir Hunger bekommen.

Ahmed, der Tierarzt: Seit ich verlobt bin, arbeite ich 18 Stunden am Tag. Als junger Akademiker verdient man nicht die Welt in Ägypten. Auch wenn viele Mädchen inzwischen ihr eigenes Geld verdienen, ist es immer noch Aufgabe des Bräutigams, die Wohnung zu kaufen und auszu­statten. ­Ohne die finanzielle Unterstützung ­meiner Eltern könnte ich mir eine Heirat nicht leisten. Leider wollen sie dann auch ihre Vorstellungen durchsetzen.

Ahmed, der Apotheker: Ein neuer Trend erleichtert die Sache etwas: Eine Wohnung kaufen, okay, aber sie muss keine 200 Quadratmeter haben. 120 genügen, oder 90.

Die Freunde gehören zu den 90 Prozent ­Muslimen im Land, sie sind Männer aus der Mittel­schicht und gebildet. Sie alle leben nicht streng nach dem Koran, aber ohne Sex und Alkohol. Wenn jemand etwas ändern kann in Ägypten, dann Männer wie sie.

Nach der gescheiterten Revolution fühlen sie die soziale Kontrolle und die berufliche Perspektivlosigkeit umso mehr

Warum kämpfen Sie nicht für Veränderungen?

Karim: Sollen wir gegen unsere Familien und die ganze Gesellschaft kämpfen? Ich lebe nur einmal – und das Leben hier ist hart genug. Nach der gescheiterten Revolution fühlen wir die soziale Kontrolle und die berufliche Perspektivlosigkeit umso mehr. Ich würde lieber heute als morgen nach Europa auswandern.

Weitere Freunde kommen hinzu, erzählen von ihren Erlebnissen, scherzen, lachen. Später gehen alle zu ihren Autos, um noch in ein Kaffeehaus zu fahren. Da ist nicht viel los, nur an einem Tisch sitzen noch ein paar Männer und rauchen Wasserpfeife. Die Freunde rücken für sich drei Tische zu­sammen. Erst um drei Uhr morgens brechen sie auf und fahren nach Hause.

Kaum zwölf Stunden später sehen sich Mahmoud und Mohamed auf dem Laptop Szenen aus Mahmouds Film an. Zu sehen sind die Freunde, wie sie auf der Straße ­junge Frauen in engen Jeans anstarren und mit ihren Blicken verfolgen. In einer anderen Einstellung sitzen sie abends vor dem Fernseher und schauen auf MTV ein Video an, in dem sich Frauen in Tanga-Bikinis räkeln.

Mahmoud: Die meisten Männer hätten gern eine Liebesbeziehung mit einem Mädchen, wissen aber nicht, wie sie eine Freundin finden können. Weder dürfen wir ein fremdes Mädchen auf der Straße ansprechen, noch haben wir platonische Freundinnen, über die wir andere Mädchen kennenlernen. Schon in der Schule sagt man uns, dass Jungen und Mädchen nicht miteinander reden sollen. Wenn die Geschlechter in Ägypten ungezwungener miteinander umgehen dürften, würden Männer Frauen auch in ihrer Persönlichkeit wahrnehmen und sie mehr respektieren. Da wir keinen Sex haben dürfen, denken wir andauernd an Sex. Wir sehen Frauen nur noch unter dem Gesichtspunkt, wie wir Sex mit ihnen haben könnten, und fangen an, sie wie Objekte zu behandeln. 

"Die ständigen Gedanken an Sex lähmen alles andere"

Ein junger Mann in Mahmouds Film sagt: „Wir denken, bei einer Ehe ginge es nur um Sex, und der sei wie in Pornofilmen. Unsere Generation hat den Kopf voll mit diesem Müll.“

Psychologiedozenten an der American University in Kairo sagen, dass die Mehrheit ihrer männlichen Patienten aufgrund einer Pornosucht zur Therapie komme. Da Sexualkunde in den Schulen verpönt ist, Eltern vor der Aufklärung ihrer Kinder zurückscheuen, und Intimität und Zärtlichkeit in Fernseh- und Kinofilmen meist der Zensur zum Opfer fallen, sind Pornos oft die einzige Sexual­aufklärung.

Mohamed: Nach einem Porno hat man eine Strichliste, was man mit einem Mädchen später einmal alles machen will.

Mahmoud: Bis dahin lähmen die ständigen Gedanken an Sex alles andere. Ich möchte mich beruflich weiterentwickeln, kann mich aber nicht konzentrieren. Auf der Straße starre ich jedem Mädchen ­hinterher, auch wenn ich sie nicht hübsch finde.

Mohamed: Als ich in Europa war, habe ich viel weniger an Sex gedacht als in Ägypten, obwohl ich gar keinen Sex hatte. Der Lebensstil und die Atmosphäre dort ­haben mir ein sehr befriedigendes Gefühl verschafft. In Kairo sind zu viele Menschen, latente Aggressivität, Hitze und Luftverschmutzung. Das erzeugt viel Druck auf die Menschen und den Drang, sich durch Sex zu erleichtern.

"Bis sich etwas ändert, dauert es noch lange"

Das Internet sorgt für ein Ventil – und für neue Freiheiten im postrevolutionären Ägypten: Junge Männer und Frauen stellen auf Online-Plattformen Artikel und Kommentare zum Thema Liebe und Sex ins Netz. Mahmoud öffnet seinen Internetbrowser. Gemeinsam mit Mohamed surft er auf der Webseite einer angeblichen „Sexpertin“, bei der viele junge Ägypter und Ägypterinnen Rat suchen.

Das außereheliche Sexverbot hat zudem eine politische Dimension: Solange sich ­alles um die Moral dreht, bleiben die wirklichen Skandale im Hintergrund, die anhaltende sexuelle Belästigung von Frauen etwa.

Allein an vier Protesttagen nach dem ­Militärputsch im Juni 2013 hat die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch 91 Fälle von sexuellen Übergriffen auf dem Tahrir-Platz dokumentiert, darunter viele Massenvergewaltigungen. Viele Liberale erkannten darin den Versuch radikal Konservativer, die Frauen vom öffentlichen Leben fernzuhalten.

Der bekannte ägyptische Rapper Sadat schrieb einen Song. Sein Titel ist zugleich seine Botschaft: „Ich kann mit Frauen flirten, aber ich werde sie nie belästigen.“ Mahmoud führt den Titel auf seinem Smartphone vor. Er dreht die Musik extra laut auf.

Mohamed: Kurz nach der Revolution ­fingen einige Leute an zu propagieren, Sex ohne Trauschein sei normal. In Ägypten ist das jedoch die Meinung einer verschwindenden Minderheit. Die Einstellungen zur Sexualität sind so tief ver­wurzelt in der Gesellschaft, dass es noch lange dauern wird, bis sich daran wirklich etwas ändern wird.

Quelle: vimeo.com, Mahmoud Yossry

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