Heiko M.
Heiko M. will nicht, dass sich das Trauma auch noch an seine Tochter weitervererbt
Patrick Runte
Vater war im Krieg - der Sohn irgendwie auch
Die Eltern litten und schwiegen. Er litt mit und wusste nicht warum. Erst jetzt fühlt er sich frei
Tim Wegner
03.06.2015

Heiko M.,57:

Ich bin geschichtslos aufgewachsen. Meine Eltern sagten mir nichts über die 32 Jahre ihres Lebens vor meiner Geburt 1958. Wenn ich meine Mutter fragte, warum sie keine Verwandten hat, brach sie heulend zusammen. Das dürfe ich nie wieder fragen! Wenn ich sie nach dem Krieg fragte, weinte sie, sagte noch „Krieg ist nicht auszuhalten, ganz schrecklich“, dann verstummte sie. Mein Vater antwortete gar nicht, er schaute schweigend aus dem Fenster. Ich fühlte mich schuldig. Es war mir alles unheimlich.

Materiell sorgten meine Eltern gut für mich – meine Mutter stellte in Gaststätten Automaten auf, vermietete Autos, makelte Häuser, mein Vater war Sportlehrer. Emotional aber war Wüste. Meine Eltern dachten, wenn das Dach heil ist, dann ist es auch innen kuschelig. Das war der Irrtum dieser Generation.

Der Vater sollte jemanden erschießen

Nach dem Tod meiner Mutter machte ich mich auf die Suche bei Standesämtern und erfuhr: Meine Mutter war ein uneheliches Kind, wuchs die ersten drei Jahre in einem Säuglingsheim auf, kam dann zu Adoptiveltern, die jedoch starben, als sie 14 war. Sie hatte wohl immer Panik, dass ihre Herkunft rauskommt. Ihr Arbeitsdienst-Pflichtjahr machte sie mit 17 auf einem Hofgut – das war nur zwei Kilometer entfernt von Bergen-Belsen. Dort waren damals russische Kriegsgefangene unter freiem Himmel mit Stacheldraht eingezäunt, Tausende verhungerten. Sie muss das gesehen haben. Da konnte ich nachfühlen, was immer ­zwischen uns gestanden hat. Ich habe meiner Mutter verziehen.

Bei meinem Vater ging das nicht. Er wollte keine Nähe. Ich bin mit ihm sogar mal in seine alte Heimat gefahren, nach Ostpreußen, zum Haus seiner Familie. Da wohnten jetzt verarmte, warmherzige Russen. Sie hatten noch die Tapeten von damals, den Herd. Mir liefen die Tränen runter – stellvertretend für ­meinen Vater. Er drehte sich rum, „so, jetzt hab ich das gesehen“, ging raus und schnauzte mich an, warum ich weine.

Er war mit 14 in eine Lehrerbildungsanstalt gekommen, da zogen die Nazis ihren Führungsnachwuchs heran, paramilitärisch, man durfte keine Schwäche zeigen. Mit 17, 18 wurde er zur Partisanenbekämpfung in Polen eingesetzt. Das muss sehr verlustreich gewesen sein, denn die Einheit musste neu aufgestellt werden. Ich hab ihn gefragt: Hast du geschossen? Er schwieg und schaute aus dem Fenster. Später mal hat er gesagt: Der Offizier wollte, dass ich jemanden erschieße, ich hab natürlich daneben geschossen. Er war so verkapselt in sich! Da war Schmerz, das spürte ich deutlich, aber er wollte den nicht zulassen.

Ich habe jetzt etwas zu verlieren

Als mein Vater wegen seiner Krebserkrankung nur noch ­wenige Monate zu leben hatte, wollte ich ihn begleiten. Ich wollte keine Abrechnung, sondern einfach gemeinsam Rückschau ­halten, Abschied nehmen. Ich brachte Fotos mit, fragte ihn, erzählte auch von mir. Nichts. Er hat das Erinnern verweigert. Es war ihm alles egal – sein Leben, sein Sterben, sein Sohn. Ich ließ mich psychologisch beraten. Bei einem Besuch kurz vor seinem Tod legte ich, weil er mit Worten offensichtlich nicht zu erreichen war, meine Hand auf seinen Arm. Da stieß er mir mit dem Ellen­bogen in die Rippen: „Musst du mir das unbedingt schwermachen?“

Ich war tief verletzt. Auch wenn er nicht bösartig war, sondern unfähig. Ab da war mir aber auch klar: Ich hab alles getan, was ich tun konnte – und damit bin ich frei. Ich fühle mich nicht mehr schuldig für das schlechte Verhältnis zu meinen Eltern. Sie sagten immer: Warum bist du so komisch, warum bist du nicht wie die anderen? Aber ich weiß jetzt: Ich bin nicht schuld an ihrem Leid. Und seitdem hat sich ganz viel verändert.

Ich konnte mich endlich wieder bewegen – innerlich, aber auch äußerlich. Denn es gab ein neues Medikament gegen Rheuma. Mit 19 war bei mir Rheuma diagnostiziert worden. Ich habe wirklich gekämpft, dass ich am Leben teilnehmen kann. Aber zuletzt konnte mich kaum noch bewegen, nach 500 Metern war ich am Ende. Ich hatte auch immer mehr Übergewicht. Und dann, vor zwei Jahren, lief ich morgens um fünf los, damit es keiner sieht, ich ging Kilometer um Kilometer, und mir liefen die Tränen.

Ich habe jetzt etwas zu verlieren. Und ich hoffe, dass ich für meine Tochter einen Deich gebaut habe. Damit das Entsetzen nicht von Generation zu Generation weitervererbt wird.

Protokoll: Christine Holch

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