Illustration: Amelie Persson
"Gell, passt schon? Das ist zu wenig!"
Pädagogin und Mediatorin Heidi Heise über Nachbarstreits, Entschuldigungen und das Ziel der Erleichterung
Tim Wegner
18.12.2015

chrismon: Kann der Satz „Es tut mir leid“ helfen?

Heidi Heise: Ja, der Satz entlastet. Im besten Fall hilft er, Menschen aus ihrer Schuld zu befreien. Viele Beschuldigte wollen sich erklären. Angenommen, Ihnen fällt die Tasse eines Kollegen runter. Da sagen Sie sicher so was wie: „Oje, ich hatte nasse Hände, die ist mir leider weggerutscht.“ Das ist bei Straftaten nicht anders. Aber erklären ist nicht entschuldigen! Eine Tat ist nicht weg, nur weil ich sie erkläre und damit versuche, sie zu rechtfertigen! Ein Täter-Opfer-Ausgleich soll den Beschuldigten helfen, Einsicht zu zeigen und Verant­wortung für das zu übernehmen, was sie getan haben. Das verlangt den Beschul­digten mehr ab, als sich vor Gericht die Schuld nachweisen zu lassen. Und es gehört mehr dazu als ein „Es tut mir leid!“.

Nämlich?

Für Ed Watzke, einen Wiener Mediator, fängt eine glaubwürdige Entschuldigung idealerweise damit an, überhaupt erst mal benennen zu können, was passiert ist.

Das ist ja nun nicht so schwer.

Das fällt den meisten Menschen aber nicht leicht, weil sie klar zu ihrer Tat stehen müssen. Es reicht eben nicht, die Sache verkürzt darzustellen: „Mei, is halt passiert, war ned so schlimm, oder!“ – Nein, das muss genauer sein: „Als ich dich in der Disco mit meiner Freundin Clara sah, war ich stocksauer. Sie hatte mir erzählt, dass sie dich nett findet. Ich war betrunken und sagte zu dir, dass du eh keinen hochkriegst und ein blöder Arsch bist. Als du was erwidern wolltest, schlug ich dir ins Gesicht. Deine Nase blutete stark. Ich lief davon.“

Und dann?

Bekennen: Ich sehe ein, dass das falsch war. Und bedauern, wirklich bedauern! Dazu gehört auch der Perspektivwechsel – dass ich mich in den anderen hineinversetze: „Ich kann mir vorstellen, dass es nicht nur schmerzhaft, sondern auch demütigend war, als du da am Boden gelegen bist vor deinen Freunden und Clara.“ Als Nächstes käme ein Angebot zum Tatausgleich: „Ich frage mich, ob und wie ich das wiedergutmachen kann? Ich wäre bereit, ein Schmerzensgeld zu bezahlen. Und ich möchte wissen, welche Kosten dir noch entstanden sind? Ich habe gesehen, dass deine Sneakers voller Blut waren.“ Erst der letzte Punkt ist die Bitte an den anderen, meine Entschuldigung anzunehmen. Ich kann mich nicht selbst entschulden.

"Meist können wir nur die Spitze des Eisbergs in einem Konflikt bearbeiten"

Und der Satz dafür lautet?

Genau so: „Ich bitte dich, meine Entschuldigung anzunehmen.“ Worte wie „Sorry!“ oder „Gell, passt scho“ – das ist zu wenig. „Es tut mir leid“ ist besser als nix, auch wenn es nicht als Bitte formuliert ist. ­Mindestens so wichtig wie die Worte sind aber Gesten, Körpersprache und Mimik. Dass es von Herz zu Herz geht.

Welche Fälle landen bei Ihnen?

Alles, was zwischen Menschen schieflaufen kann und was dann zu Straftaten führt. Zwischen 50 und 70 Prozent der Fälle sind Körperverletzungen und gefährliche Körperverletzungen. Wir haben es mit der ganzen Bandbreite an Delikten zu tun, bei denen Menschen persönlich geschädigt werden – Beleidigungen, Bedrohungen, Sachbeschädigungen und vieles andere.

Wie viel Zeit nehmen Sie sich für ein ­Gespräch zwischen Täter und Opfer?

Vor einem gemeinsamen Gespräch führe ich mit dem Beschuldigten und Geschädigten getrennte Vorgespräche. Die dauern jeweils ein bis zwei Stunden. Jeder kann seine Sichtweise darstellen, um damit den Dampf etwas rauszunehmen. Sind die Weichen für ein gemeinsames Gespräch gestellt, dauert das dann mindestens eineinhalb, maximal zweieinhalb Stunden. Was wir bearbeiten können, ist meist nur die Spitze des Eisberges in einem Konflikt.

Haben Sie dafür ein Beispiel?

Zwei Brüder kriegen sich in die Wolle, weil  eine Schubkarre voller Mist im Stall steht. Der Ältere sagt: „Du lässt mich immer deine Arbeit machen!“ Es kommt zur Schubserei, es gibt ein Hin-und-Her-Gezerre. Der Jüngere sagt: „Ich wurde gewürgt!“ Und zeigt den Bruder an. Der wiederum sagt bei der Polizei aus: „Stimmt, ich war wütend, ich hab ihn aber nur am Hemd gepackt und gegen die Wand gedrückt, nicht gewürgt.“ Klar, dass es bei den beiden eigentlich nicht um eine Schubkarre ging.

Sondern?

Darunter lag eine Wahnsinnsfamiliengeschichte. Der Vater schlug Mutter und Kinder. Der ältere Sohn hatte sich immer verantwortlich gefühlt und Mutter und Geschwister beschützt. Er saß bei mir und weinte. Er war verzweifelt. Über seine ­damalige Überforderung – und darüber, dass er sich immer noch für alles verantwortlich fühlte, der Bruder sein Verhalten aber als übergriffig erlebte.

"So viel Aufwand für so was Belangloses!"

Was können Sie gegen so eine Geschichte ausrichten?

Die Brüder konnten all das erstmalig aussprechen. Dem Jüngeren war es möglich, sich ein kleines Stück weit in die Schuhe des Älteren zu stellen und dessen Leistung anzuerkennen. Das hat die Fronten aufgeweicht. Der große Bruder konnte sich entschuldigen, der kleine Bruder zeigte Verständnis für das, was den Großen belas­tet hatte. Außerdem haben wir – auf der Sach­ebene – vereinbart, wie die beiden die ­Arbeiten im Stall aufteilen können.

Sie verlangen den Opfern aber ganz schön viel Verständnis für das ab, was der Täter gemacht hat!

Es tut mir leid

###drp|LOCt7krLURS2NUsV668o4ZAY00131757|i-40||###Das sagt sich schnell – und doch oft schwer, wenn man es ernst meint. Drei Menschen erzählen in der chrismon-Ausgabe 01/16, was ihnen der Satz bedeutet hat. Und warum er nicht auf die lange Bank gehört

Jemanden zu verstehen heißt ja nicht, damit einverstanden zu sein. Aber es hilft, besser einzuordnen, was einem passiert ist, wenn man bereit ist, ein Stück zurück­zutreten und die Situation auch aus der Sicht des anderen zu beurteilen.

Ich hatte mal ein Ehepaar bei mir, das in ein Mietshaus gezogen war. Sie haben sich ganz nett und offen bei den Nachbarn vorgestellt. ­Eine Hausbewohnerin grüßte von Anfang an gar nicht und ging dann noch dazu über, das Paar zu beleidigen und den Stinke­finger zu zeigen. Es kam zur Anzeige wegen Beleidigung. Die beschuldigte Nachbarin erschien zum Vorgespräch. Ich erlebte eine extrem verschlossene Frau mit einem großen Bedarf an Abgrenzung und Rückzug. Sie hatte sich von den freundlichen Absichten der Nachbarn bedrängt und überrumpelt gefühlt.

Saß sie auch noch mit dem Paar zusammen, das sie beleidigt hatte?

Nein, das war ihr nicht möglich, aber sie schrieb einen Brief: „Mir ist bewusst, dass ich durch mein Verhalten zur Verärgerung beigetragen habe. Das tut mir leid. Ich bitte Sie, meine Entschuldigung anzunehmen. Ich bitte Sie auch, dafür Verständnis zu haben, dass ich ein größeres Bedürfnis nach Abgrenzung habe als andere Menschen – und deshalb keinen Kontakt wünsche.“ Ich ­leitete den Brief an die Nachbarn weiter. Das Ehepaar war erstaunt und erfreut, weil sie sowohl eine schlüssige Erklärung für die Beleidigung hatten – und auch eine aufrichtige Entschuldigung. Das war für alle ein gelungener Täter-Opfer-Ausgleich: Der Ausgangskonflikt ist gelöst, beide Seiten werden ihr Verhalten verändern und dadurch Folgekonflikte verhindern. Aber man könnte auch sagen: so viel Aufwand für so was Belangloses!

"Das ist der Sinn: Erleichterung"

Wer sollte das sagen? Streit mit Nachbarn kann belastend sein.

Dazu noch eine Geschichte: Ein Mann, der regelmäßig Nachtschichten macht, ist ­wütend. Er ärgert sich über Kinder, die ­laut im Hof Ball spielen, wenn er endlich schlafen kann und will. Er reißt das Fenster auf und beschimpft die Kinder. Die Eltern der Kinder zeigen ihn an, dabei sieht er sich als Opfer, weil er sich so drangsaliert gefühlt hatte von dem Lärm. Ihm habe ich gesagt: „Sie entschuldigen sich nicht für ­Ihre Gefühle und dass Sie sich gestört fühlten – Sie entschuldigen sich nur für Ihre Handlung!“ Das tat er – weil die Eltern an einer Aussprache nicht interessiert waren – schriftlich. Dass da jemand war, der ihm zugehört und nachgefragt hatte, erleichterte ihm die Einsicht in sein Fehlverhalten.

Gibt es Fälle, bei denen Sie dachten: „Die setzen sich nie an einen Tisch!“?

Immer mehr Verfahren haben mit Straftaten im Internet zu tun. Das hier auch: Ein Mann und eine Frau lernten sich online über eine Partnerbörse kennen. Sie schrieben sich Mails. Die Frau wollte dann aber keinen Kontakt mehr, sie hatte jemand an­deren kennengelernt. Der Mann schrieb ihr daraufhin fordernde, vulgäre Mails. Die Frau zeigte ihn an. Ich führte mit beiden ein Vorgespräch. Der Mann ist dabei vor Scham über sein Verhalten fast unter den Tisch gekrochen. Weil er mir aber vertrauen konnte, erzählte er, die Frau habe ihm geschrieben, er sei fett und hässlich. Das hatte ihn sehr gekränkt. Im Prinzip hatte er also zurückgeschlagen und sie verletzen wollen.

Die beiden waren sich nie begegnet, ich hielt ein Schlichtungsgespräch für sehr unwahrscheinlich. Er hatte die Idee, der Frau einen Entschuldigungsbrief zu schreiben. Das machte er auch, damit war es ihm sehr ernst. Danach kam die Frau zum Vorgespräch. Zu meiner Überraschung wünschte sie sich ein gemeinsames Gespräch mit der Begründung: „Der soll mir in die Augen schauen. Dann weiß ich, ob sein Bedauern ehrlich gemeint ist!“

Und?

Die Frau hat sich auch mit ihrem Anteil an der Geschichte konfrontieren lassen. Sie erklärte ihm, dass sie ihn habe loshaben wollen. Die Art und Weise, wie sie das angestellt hatte, bedauerte sie. Der junge Mann konnte seine Sichtweise darstellen und sich entschuldigen. Sein Schlusssatz war: „Ich bin so erleichtert!“ Und genau das ist der Sinn – Erleichterung. Auf ­beiden Seiten! Egal, wie ein Verfahren vor Gericht ausgegangen wäre: Täter und ­Opfer wären auf ihren Gefühlen sitzen­­ge­blieben – auf der Wut, der Hilflosigkeit, der Scham, der Verletzung, aber auch dem Bedauern. So konnten sie sich hier die Hand geben. Vom ­Fenster aus sah ich, dass sie unten noch zusammen eine geraucht haben. Wie eine Friedens­pfeife.

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