Alfred Gailmann
Rentner Alfred Gailmann: „Wenn du erst mal auf dem Abstellgleis bist, gehst du zugrunde.“
Majken Rehder
„Frauen wollen Wassermänner“
Und Männer eher Pferde. Der Berliner Rentner Alfred Gailmann verdient sich ein Zubrot mit Nagelschere und schwarzem Tonpapier
25.11.2015

 Alfred Gailmann kennt hier jeden auf der Straße. Der 76-Jährige lebt in Berlin-Mitte zwischen Hipstern, ­Lebenskünstlern und Akademikerfamilien. Während um ihn herum die Leute an Latte Macchiato nippen, trinkt er wie zu DDR-Zeiten unbeirrt seinen „Kaffee komplett“.

„Neue Häuser, neue Anstriche und mehr Rummel, das gefällt mir“, sagt Alfred Gailmann. Das kleine „Café Lois“ an der Ecke ­Linienstraße / Gormannstraße, wo einst „ein runder Parkplatz war und man knietief in der Hundekacke stand“, ist sein Marktplatz und Gerüchteküche.

Alle paar Minuten reißt er auf der Straße den Arm hoch und spricht jemanden an. Plaudern ist seine Passion, beobachten sein Kapital. Und dann setzt sich der Mann, der in der DDR Volks­polizist war, in seinem Wohnzimmer an den Couchtisch und erfasst die Welt mit einer Nagelschere: im Scherenschnitt.

Für seine Kunden schneidet er wilde Pferde, sanfte Esel und brüllende Löwen aus schwarzem Tonpapier. Seine präzisen Scherenschnitte sind in Berlin-Mitte bekannt. „Die gesamte Belegschaft und unsere Stammkunden sind schon eingedeckt“, bemerkt der Kellner grinsend, während er Gailmann ungefragt Kaffee serviert.

Jeden Tag einen Scherenschnitt

Männer wollen Pferde, sagt der Alte, Frauen Wassermänner, Journalistinnen Esel und Ärzte gefährliche Tiere. Gailmanns Lieblingstier ist die Ameise – gut organisiert und arbeitsam. ­Etwa 1000 Arbeiten will der Mann mit Mütze und Kippe im Mund bereits gefertigt haben. Er verkauft sie für fünf Euro das Stück.

Seine Leidenschaft begann zu DDR-Zeiten auf einem Weihnachtsmarkt. Dort bot ein Mann Porträts aus Tonpapier an. ­Gailmann dachte, das kann ich auch, und übte ein ganzes Jahr. Sein Arbeitsplatz ist die Wohnung vis-à-vis dem Garnisonsfriedhof. Seit 1955 lebt er dort. Auf einem kleinen Tisch liegen Scheren in unterschiedlichsten Ausführungen durcheinander. Tonpapier stapelt sich auf dem Couchtisch.

Gailmann sammelt auch Postkarten. 150 000 hat er kategorisiert und archiviert. „Ich will alle Staaten haben und Sondergebiete und auch Motive für Scherenschnitte.“

Jeden Tag macht der Rentner einen Scherenschnitt. Die Arbeit ist sein Lebenselixier. „Wenn du erst mal auf dem Abstellgleis bist, gehst du zugrunde.“

Die Kinder stehen mit großen Augen da, wenn der alte Mann mit Rauschebart, Mütze und Jutesack die Linienstraße ent­langschlurft. „Wann kommst du endlich?“, fragen manche. Und: „Wie oft müssen wir noch schlafen?“ Für sie ist der Alte der Weihnachtsmann.

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