Ottilie Baader: Eine Person des Vertrauens
Marco Wagner
Eine Person des Vertrauens
Ein Arbeiterkind setzt sich an die Spitze der sozialdemokratischen Frauenbewegung: Ottilie Baader, eine mitreißende Rednerin
22.09.2015

Kriegsjahr 1870. Die wirtschaft­lich schlechte Lage bekommen auch die Näherinnen in den Berliner Wä­schefabriken zu spüren. Die Aufträge bleiben aus. Da schlägt einer der Direktoren seinen Arbeiterinnen einen Deal vor. Trotz des großen Risikos, die produzierte Wäsche nicht verkaufen zu können, will er sie weiter beschäftigen. Allerdings für den halben Lohn. Besser ­als nichts, oder?

Doch nicht mit Ottilie Baader. Die 23-Jährige droht mit Streik und reißt andere mit, auch wenn sie ihre Kündigung riskieren. „Wir beschlossen, lieber zu feiern, als für einen solchen Schundlohn zu arbeiten, von dem zu existieren nicht möglich war“, schreibt sie später. Der Unternehmer rückt schließlich von seinen Plänen ab.

Verantwortung zu übernehmen hat ­Ottilie Baader früh gelernt. 1847 kommt sie im polnischen Raków auf die Welt. ­Die Mutter stirbt früh an Tuberkulose. Ottilie übernimmt den Haushalt und die Erziehung der jüngeren Geschwister. Bald kann der Vater die fünfköpfige Familie nicht mehr allein ernähren, Ottilie muss mithelfen: Sie ist 13, hat vier Schuljahre hinter sich, als sie Näherin wird. Zwölf Stunden Arbeit täglich, drei Taler Monatslohn.

"Nur eine Arbeitsmaschine"

In den Jahren nach dem Arbeitskampf arbeitet Ottilie Baader, um Schikanen in der Fabrik zu entgehen, als Heimnäherin, auch das eine mühsame Arbeit. „Ich habe manchmal das Leben so satt gehabt, immer nur Kragen und Manschetten vor sich, man war nur eine Arbeitsmaschine und hatte keine Zukunftsaussichten“, schreibt sie. Kleine Lichtblicke: Der Vater liest ihr ­während des Nähens aus dem verbotenen „Kapital“ von Karl Marx vor, und sie beschäftigen sich mit den Schriften August Bebels.

Während seit 1878 das Sozialistengesetz, korrekt überschrieben „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“, für Entsetzen sorgt, die Löhne sinken, Mieten steigen, die Arbeiterschaft zusehends verarmt und Frauen in die Prostitution getrieben werden, entwickelt sich Ottilie Baaders politisches Engagement. 1897 spricht sie das erste Mal in der Öffentlichkeit und widersetzt sich dem Vater, der – zwar selbst sozialdemokratisch engagiert – die politischen Aktivitäten seiner Tochter zunächst nicht gutheißt. Ottilie Baader setzt sich für die Gleichstellung mit den Männern ein, für das Frauenwahlrecht und verbesserte Arbeitsbedingungen, die Organisation und vor allem die Rechte der Arbeiterinnen.

1890 fällt das Sozialistengesetz. Offiziell Mitglied einer Partei zu sein, bleibt Frauen allerdings bis 1908 verboten. Ottilie Baader beantragt erfolgreich, den für Funktionäre geltenden Begriff „Vertrauensmann“ durch „Vertrauensperson“ zu ersetzen und es ­somit auch Frauen zu ermöglichen, Funktionen innerhalb der Partei auszuüben. Im Jahr 1899 wird sie von der Berliner Ortsgruppe zu einer solchen Vertrauensperson gewählt, ein Jahr später zur „zentralen Vertrauensperson der Genossinnen Deutschlands“. Sie richtet das Frauenbüro der SPD mit ein – der Höhepunkt ihrer politischen Arbeit.

Der Aufstieg zur Funktionärin

Sie arbeitet ehrenamtlich, erst nach vier Jahren zahlt ihr die Partei ein Gehalt, zwei Jahre später bekommt sie ein Büro mit Sekretärin. Ottilie Baader ist eine der ersten hauptamtlichen Parteifunktionärinnen sowie Begründerin der ersten Frauenabteilung einer politischen Partei. Sie spricht auf über 500 Veranstaltungen in ganz Deutschland, nimmt mehrere Prozesse sowie Geldstrafen dafür in Kauf. Besonders mit der radikalen Sozialistin und späteren Kommunistin Clara Zetkin arbeitet sie eng zusammen. Sie bezeichnete Ottilie Baader später als „Kampfgenie“.

Neben diesem unermüdlichen politischen Einsatz kümmert sie sich um ihren kranken Vater und, seitdem ihr Bruder gestorben ist, um ihre Neffen. Eigene Kinder hat Ottilie Baader nicht. 1911 heiratet sie, doch stirbt ihr Mann nach wenigen Jahren.

„Mein Leben ist von klein auf Arbeit gewesen. Es ist kein besonderes Leben; so wie ich lebte und schaffte, haben Tausende von Arbeitermädchen meiner Zeit gelebt und geschafft“, schreibt sie in
ihren Lebenserinnerungen. Ottilie Baader stirbt im Jahr 1925. Sie zählt zu den wichtigsten Persönlichkeiten der sozialdemokratischen Frauenbewegung um die Jahrhundertwende.

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Sehr geehrte Damen und Herren, in dem interessanten Artikel über Ottilie Baader hat mich doch stutzig gemacht, daß sie "im polnischen Raków" geboren sein soll. Laut Online-Lexikon stammt sie aus Raake im Kreis Oels, Niederschlesien. Daß das heute in Polen liegt, bedeutet nicht, daß es damals auch so war. (Lebte Kant etwa "im russischen Kaliningrad"? Sprach Josua auf dem "Landtag zu Nablus"?) Diese Art, die Vergangenheit umzuschreiben, erinnert doch ein wenig an "1984".
Mit freundlichen Grüßen Ulrich Hartmann

Antwort auf von Hartmann Ulrich (nicht registriert)

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Sehr geehrter Herr Hartmann,

vielen dank für Ihre Anmerkung. Selbstverständlich ist es richtig, dass Frau Baader in Raake geboren wurde, dem heutigen Raków. Genau so findet es sich auch in zahlreichen Quellen. Dass in unserem Artikel von letzterem die Rede ist, sollte lediglich die geografische Verortung erleichtern - und keineswegs Geschichtsklitterung im Orwellschen Sinne darstellen. Wir hoffen, dass diese Spitze nicht ganz ernst gemeint war, fühlen wir uns doch tatsächlich über einen solchen Verdacht erhaben.

MIt freundlichen Grüßen,

Ihre chrismon-Redaktion.

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Sehr geehrte Damen und Herren der Redaktion,
insgesamt fand ich den Artikel über das Leben und Wirken Ottilie Baders sehr interessant und lehrreich; bis dahin hatte ich noch nie etwas von dieser Frau gehört, die doch in der deutschen Arbeiterbewegung unbestreitbar eine bedeutende Rolle gespielt hat. Desto ärgerlicher ist die (gewollte?) Oberflächlichkeit in der Formulierung: "1847 kommt sie im polnischen Rakow auf die Welt". Der unbefangene Leser muß daraus schließen, daß sie im Großherzogtum Polen (Russisches Reich), allenfalls noch in dem etwas salopp so genannten "Preußisch Polen", d.h. der Provinz Posen geboren sei. Insofern kann ich mich nur der Wertung des Lesers Ulrich Hartmann anschließen!
Das zweite was auffällt, ist die Aussage: "... seit 1878 ... die Löhne sinken, Mieten steigen, die Arbeiterschaft ... verarmt (zusehends)". Sicher gab es nach dem Wiener Börsenkrach 1873 eine tiefe (weltweite!) Rezession, aber nach wenigen Jahren ging es gerade im deutschen Kaiserreich wieder spürbar aufwärts, und von zusehends schlimmer werdenden Verarmung kann keine Rede sein. Im Gegenteil, die weitere Entwicklung bis zum Ersten Weltkrieg war gekennzeichnet von einem soliden Wirtschaftsaufschung, welcher das Kaiserreich (England überrundend!) an die Spitze Europas brachte.
Also, trotz aller "Erhabenheit", bevor man solche Artikel in die (chrismon -) Welt setzt, sollte man sich hinreichend sachkundig machen.
Mit freundlichen Grüßen, Rolf Rumrich

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