Lisa Rienermann
Der Katalysator
Dass sich Menschen von ihrem Glauben einschläfern lassen, hat man schon lange nicht mehr gehört
Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff
24.08.2015

Hört nicht auf das Gerede vom ewigen Leben! Habt keine Furcht vor Göttern, sie können euch nichts anhaben, schrieb der römische Philosoph Lukrez. In Wahrheit komme nach dem Tod gar nichts. Im 13. Jahrhundert soll sich Kaiser Friedrich II. ähnlich geäußert haben: Mose, Jesus und Mohammed seien machtgierige Betrüger im Priestergewand gewesen.

Vor wenigen Jahren galt ein anonymes „Traktat über die drei Betrüger“ in Frank­reich als heimlicher Bestseller: An den Religionsgründern sei nichts Göttliches, und die Idee, man werde im Jenseits belohnt und bestraft, sei etwas für Dumme.

Ist das so? Für den Nationalökonomen Karl Marx, der den Vergleich mit dem Opium prägte, war die Religion mehr als nur ein plumper Betrug. Schließlich gibt die Religion den Menschen eine Sprache, mit der sie ihr Glück und ihr Elend beschreiben können. Sie benennt Gottverlassenheit, Sünde, Hartherzigkeit und Hoch­mut. Sie überliefert Visionen von Gerechtigkeit und Gnade – nur eben nicht, um die Menschen revolutionär zu stimmen. „Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist“, schrieb Marx in seiner „Kritik der Hegel-schen Rechtsphilosophie“.

Statt die Menschen zu ermuntern, gegen die Ursachen ihrer Not anzukämpfen, vertrös­te die Religion aufs Jenseits. Marx fuhr fort: „Die Religion ist das Opium des Volkes.“ – So lautet das Zitat richtig, nicht: „Opium für das Volk“, was Wladimir Iljitsch Lenin später daraus machte: die Religion als geistiger Fusel, ersonnen für ausgebeutete Arbeiter.

Politisieren Pfarrer gar zu viel?

Da schaute Marx etwas genauer hin. Doch was er allgemein „der Religion“ anlas­tete, traf vor allem auf Protes­tanten im 19. Jahrhundert zu. Pfarrer ermahnten die Armen, ihr Elend geduldig zu ertragen: Das Gottesreich sei rein geistlich, predigten sie. In Staat und Politik gelte nur das Recht der Obrigkeit. Ein Christ müsse ein treuer Untertan sein. Revolution sei Rebellion gegen Gott. Gerechtigkeit gebe es erst nach dem Tod. Bis in die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg waren solche Sprüche von den Kirchenkanzeln keine Seltenheit.

Heute steht die Religion allerdings unter dem gegenteiligen Verdacht: Dass sie den Menschen nicht einschläfert, sondern aufwiegelt. Und dass sie den Zorn der Be­nachteiligten verstärkt, statt ihn zu bändigen. Schon seit den 1970ern klagen Zeitgenossen, Pfarrer würden zu viel politisieren, statt einfach nur das Evangelium zu predigen. Spätestens seit den Attentaten vom 11. September 2001 gilt die Religion sogar als Brandstifterin. An die einschläfernde Wirkung des Opiums denkt beim Thema Religion heute kaum noch jemand.

Marx’ anderer Satz gilt nach wie vor: „Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur.“ Sie verleiht dem Menschen eine Sprache, sein Elend zu beschreiben. Und sie zeigt ihm, wie das Leben gelingen kann. Einige lassen sich davon zu Gewalt anstacheln. Zahllose andere motiviert dies zu humanitären Großtaten. Als 1994 Hutu-Milizen wahllos Volksangehörige der Tutsi mordeten, beides Christen, versteckten viele Muslime Verfolgte bei sich zu Hause, ­oft unter Lebensgefahr. Muslimische Afrikaner fühlen sich oft mehr ihrer Religion und deren Geboten verbunden, Christen zu­weilen leider mehr ihrer Ethnie.

Natürlich gibt es in jeder Religion Fanatiker mit rückständigen Rechtsvorstellungen. Doch häufiger lassen sich Gläubige bestärken, gleiche Rechte für Benachtei­ligte einzufordern. Vorm Schöpfer sind alle Men­schen gleich, sagen Christen und Muslime in Indien, Mali und Guatemala. Und be­gehren gegen soziale Ungleichheit auf.

Nein, Karl Marx’ Metapher vom betäubenden Opium scheint heute gar nicht mehr auf die Religionen zu passen. Eher wirken Religionen wie Katalysatoren, wie Stoffe, die chemische Reaktionen mal beschleunigen und mal verlangsamen. Häufig helfen Religionen Menschen, sich zu emanzipieren und sich mutig für Freiheit und Gerechtigkeit einzusetzen. Leider ­prägen sich uns ihre Taten nicht so ein wie die der religiösen Fanatiker.

Permalink

Lenin nennt wie Marx Religion immer "Opium des Volks", eine Droge, die das Volk, nicht eine höhere Instanz, aktiv einsetzt. Siehe z. B. Lenin, Werke, Bd. 10, S. 71 (http://www.red-channel.de/LeninWerke/LW10.pdf). Also selbst als Geistlicher auch bei weltlichen Dingen genauer hinschauen!

Permalink

"Häufig helfen Religionen Menschen, sich zu emanzipieren und sich mutig für Freiheit und Gerechtigkeit einzusetzen. Leider ­prägen sich uns ihre Taten nicht so ein wie die der religiösen Fanatiker."

Wer hat denn diesen Text verfasst, uninformiert, kein wissenschaftlicher Ansatz. Allein hiet ein Kommentar zu verfassen ist die Mühe nicht wer. #Religion=Christentum
Emanzipieren???

Der Text „Der Katalysator“ meint, dass Religionen heutzutage häufig Menschen hälfen, sich zu emanzipieren und sich mutig für Freiheit und Gerechtigkeit einzusetzen. Wahrscheinlich meint er damit z. B. die Verurteilung des russischen Angriffs auf die Ukraine, Spenden für die Ukraine und Ablehnung des „radikalen Pazifismus“ in der EKD. Ganz schön rebellisch, mutig und emanzipiert. Das hätte es also zu Karl Marx' Zeiten in der evangelischen Kirche nicht gegeben.

Permalink

In dem Podcast auf dieser Seite wird wie im Text behauptet, die Religion heute sei – anders als in der Darstellung Marx‘ und Lenins - keine Herrschaftsreligion und nicht aus der Oberschicht entstanden, sondern von unten, in der Krippe, bei weniger Privilegierten.
Aber genau das sagten Marx und Lenin: Religion sei Opium des Volks, ein Mittel des Volks, um sich mit Glauben an Schimären über die geistlosen Zustände hinwegzumogeln.

Neuen Kommentar hinzufügen

Der Inhalt dieses Feldes wird nicht öffentlich zugänglich angezeigt.

Plain text

  • Keine HTML-Tags erlaubt.
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.
Wählen Sie bitte aus den Symbolen die/den/das Flugzeug aus.
Mit dieser Aufforderung versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt.