Lisa Rienermann
Hört nicht auf das Gerede vom ewigen Leben! Habt keine Furcht vor Göttern, sie können euch nichts anhaben, schrieb der römische Philosoph Lukrez. In Wahrheit komme nach dem Tod gar nichts. Im 13. Jahrhundert soll sich Kaiser Friedrich II. ähnlich geäußert haben: Mose, Jesus und Mohammed seien machtgierige Betrüger im Priestergewand gewesen.
Vor wenigen Jahren galt ein anonymes „Traktat über die drei Betrüger“ in Frankreich als heimlicher Bestseller: An den Religionsgründern sei nichts Göttliches, und die Idee, man werde im Jenseits belohnt und bestraft, sei etwas für Dumme.
Statt die Menschen zu ermuntern, gegen die Ursachen ihrer Not anzukämpfen, vertröste die Religion aufs Jenseits. Marx fuhr fort: „Die Religion ist das Opium des Volkes.“ – So lautet das Zitat richtig, nicht: „Opium für das Volk“, was Wladimir Iljitsch Lenin später daraus machte: die Religion als geistiger Fusel, ersonnen für ausgebeutete Arbeiter.
Politisieren Pfarrer gar zu viel?
Da schaute Marx etwas genauer hin. Doch was er allgemein „der Religion“ anlastete, traf vor allem auf Protestanten im 19. Jahrhundert zu. Pfarrer ermahnten die Armen, ihr Elend geduldig zu ertragen: Das Gottesreich sei rein geistlich, predigten sie. In Staat und Politik gelte nur das Recht der Obrigkeit. Ein Christ müsse ein treuer Untertan sein. Revolution sei Rebellion gegen Gott. Gerechtigkeit gebe es erst nach dem Tod. Bis in die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg waren solche Sprüche von den Kirchenkanzeln keine Seltenheit.
Heute steht die Religion allerdings unter dem gegenteiligen Verdacht: Dass sie den Menschen nicht einschläfert, sondern aufwiegelt. Und dass sie den Zorn der Benachteiligten verstärkt, statt ihn zu bändigen. Schon seit den 1970ern klagen Zeitgenossen, Pfarrer würden zu viel politisieren, statt einfach nur das Evangelium zu predigen. Spätestens seit den Attentaten vom 11. September 2001 gilt die Religion sogar als Brandstifterin. An die einschläfernde Wirkung des Opiums denkt beim Thema Religion heute kaum noch jemand.
Marx’ anderer Satz gilt nach wie vor: „Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur.“ Sie verleiht dem Menschen eine Sprache, sein Elend zu beschreiben. Und sie zeigt ihm, wie das Leben gelingen kann. Einige lassen sich davon zu Gewalt anstacheln. Zahllose andere motiviert dies zu humanitären Großtaten. Als 1994 Hutu-Milizen wahllos Volksangehörige der Tutsi mordeten, beides Christen, versteckten viele Muslime Verfolgte bei sich zu Hause, oft unter Lebensgefahr. Muslimische Afrikaner fühlen sich oft mehr ihrer Religion und deren Geboten verbunden, Christen zuweilen leider mehr ihrer Ethnie.
Natürlich gibt es in jeder Religion Fanatiker mit rückständigen Rechtsvorstellungen. Doch häufiger lassen sich Gläubige bestärken, gleiche Rechte für Benachteiligte einzufordern. Vorm Schöpfer sind alle Menschen gleich, sagen Christen und Muslime in Indien, Mali und Guatemala. Und begehren gegen soziale Ungleichheit auf.
Nein, Karl Marx’ Metapher vom betäubenden Opium scheint heute gar nicht mehr auf die Religionen zu passen. Eher wirken Religionen wie Katalysatoren, wie Stoffe, die chemische Reaktionen mal beschleunigen und mal verlangsamen. Häufig helfen Religionen Menschen, sich zu emanzipieren und sich mutig für Freiheit und Gerechtigkeit einzusetzen. Leider prägen sich uns ihre Taten nicht so ein wie die der religiösen Fanatiker.
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