Collage: Lee Miller (1907 –1977)
Lee Miller (1907 –1977): Mit dem Foto­apparat fing sie Kriegszerstörung und die Kapitulation 1945 ein
Marco Wagner
Vom Model zur Kriegsreporterin
Lee Miller war Covergirl von „Vogue“, später dokumentierte sie die Abgründe des Krieges und der Naziherrschaft
Portrait Eduard KoppLena Uphoff
27.07.2015

Es ist eine Aufnahme, bei der der Fotografin die Hände gezittert haben müssen. Häftlinge des befreiten KZs Dachau stapeln auf dem Anhänger eines Lastwagens ausgemergelte Leichen. Aufgenommen hat das Foto eine junge Amerikanerin, Lee Miller. Diese Erfahrungen in Deutschland 1945 werden ihr Leben von Grund auf ändern.

Dass Lee Miller einmal als Kriegsreporterin unterwegs sein würde, hätte sie wenige Jahre zuvor selbst kaum für möglich gehalten. Ihre Welt war die der Modezeitschriften. Die New Yorkerin war seit ihrem 21. Lebensjahr als Model auf der Titelseite der amerikanischen „Vogue“ zu sehen. Später wurde sie selbst Fotografin und Autorin des Magazins. Durch ihren Vater, der sie sehr verehrte, sie aber schon als Kind und bis zu ihrem 23. Lebensjahr für Model- und Aktaufnahmen benutzt hatte, ­entdeckte sie ihre eigene Liebe zur Fotografie.

In der Schule war sie eine unangepasste Schülerin. Lee Miller ist trotz ihrer vielbewunderten mädchenhaften Schönheit eine kühl und entschlossen handelnde Frau und für rasche Entschlüsse und überraschende Kehrtwendungen in ihrem Leben bekannt. „Aus irgendeinem Grund möchte ich immer lieber woanders hin“, schrieb sie einmal über sich selbst.

1929, zweiundzwanzigjährig, sucht sie im lebendigen Paris den Kontakt zu den Surrealisten. Neugierig und selbstsicher bewegt sie sich im Kreis der Künstler um Man Ray, den sie bald liebt und mit dem sie experimentell fotografiert, die Maler Pablo Picasso, Roland Penrose und Max Ernst, die Varietékünstlerin Colette, den Autor Jean Cocteau.

Zwischen Dokumentation und politischer Aktionskunst

Durch den Neuanfang in Frankreich versucht sie auch, eine schreckliche Erfahrung ihrer Kindheit hinter sich zu lassen: Mit sieben Jahren war sie sexuell missbraucht worden, vermutlich durch ein Familienmitglied. Sie leidet an Gonorrhoe, muss quälende Behandlungen über sich ­ergehen lassen.

1932 ist sie wieder in New York und eröffnet ein Fotostudio. 1934 heiratet sie einen Ägypter und lebt mit ihm in Kairo, kehrt – einmal mehr von ihrer Unruhe getrieben – 1937 nach Paris zurück, um 1939 nach London zu Roland Penrose, ihrem späteren Ehemann, zu ziehen und für die britische „Vogue“ zu arbeiten.

Ihre innere Unruhe ist auch einer der Gründe dafür, dass sie sich schließlich als Kriegsreporterin bewirbt. Nur wenige Frauen gibt es in diesem Job. 1944 begleitet sie – als einzige weibliche Kriegsreporterin – die amerikanischen Truppen bei ihrem Vorrücken in Europa. Ihre Fotos und Berichte für die „Vogue“ sind zeitlose Dokumente der Friedenssehnsucht. Viele ihrer Fotos werden berühmt: ein Feldlazarett am Omaha Beach; der Napalmeinsatz bei der Schlacht um Saint Malo; kahlgeschorene französische Frauen, die der Kollaboration mit den Deutschen beschuldigt werden; die ausgemergelten Häftlinge und die Toten der Konzentrationslager Buchenwald und Dachau; der Leipziger Nazi­bürgermeister, der sich mit seiner ­Familie das Leben nahm; Hitlers Berghütte Adlerhorst, von der SS in Brand gesteckt; die Befreiung von Torgau durch die russische Armee. Nicht alle diese Aufnahmen sind rein dokumentarisch, wie Lee ­Miller immer behauptet. Historiker sehen in ihnen auch politische Aktionskunst.

Wut auf die Deutschen

Die Kriegserfahrungen fügen Lee ­Miller tiefe seelische Wunden zu. Jahre­lang ist sie depressiv, ein Arzt diagnosti­ziert eine Kriegsneurose. Sie wird zur Trin­kerin. Trotz ihrer psychischen Leiden quält sie sich, weiter journalistische Beiträge zu verfassen, so sehr, dass ihr Mann an die Chefredakteurin der britischen „­Vogue“ schreibt: „Ich flehe dich an: Bitte Lee nicht mehr, etwas zu schreiben.“ Gerade die Aufnahmen der ausgemergelten KZ-Toten scheinen zu ihrem Trauma beigetragen zu haben. Über ihre Kriegserfahrungen hat Lee Miller später fast nie gesprochen. Aber ihre Wut auf alle Deutschen verhehlte sie nie.

Lee Miller hat der Menschheit ikonenhafte Fotografien hinterlassen. 18 Kisten voller Fotos und Manuskripte fand man nach ihrem Tod 1977 in ihrem Landhaus. Sie dokumentieren den Weg einer emanzi­pierten Frau, die vor allem eins nicht wollte: ihr Leben mit mittelmäßigen ­Dingen vertun.

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