Schiff vor Tacloban
Julia Reichardt
Am 8. November 2013 schleuderte ein Taifun acht Frachter in die Armenviertel der philippinischen Hafenstadt Tacloban. Eines der Schiffe steht noch zwischen den Wellblechhütten – Spielplatz und Touristenattraktion für die einen. Furchtbare Erinnerung für die anderen
08.06.2015

Bald soll er wieder schwimmen, der Frachter RKK Uno. Aber jetzt liegt er fast trocken in der Bucht, gestützt von Zementsäcken und Holzscheiten, und unten spielen Kinder im Sand. Von der Kommandobrücke aus blickt man auf ein Meer von armseligen Hütten. An die violett gestrichene Schiffswand hat jemand auf Englisch geschrieben: „Wir brauchen Essen und Reis.“

Bong Barranda

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Vom Kapitänsdeck aus, seinem Lieblingsplatz auf dem gestrandeten Frachter RKK Uno, übersieht Bong Barranda das ganze Viertel

Bong Barranda, 40, mag das Schiff, es hat ihm Arbeit gebracht. Zusammen mit zwölf anderen Arbeitern macht er die RKK Uno jetzt wieder seetüchtig. Er hat keinen Helm, sein rechter Schneidezahn ist abgebrochen, an den Füßen trägt er orangefarbene übergroße Badeschlappen. Damit klettert er über die rostige Hängeleiter aufs Deck.

Während der Mittagspause gleicht der Frachter einem Piratenschiff. Männer dösen in Hängematten, vom Kran wehen Handtücher und Hemden, Hunde streunen durch die Gänge. Am Bug kochen Arbeiter über offener Flamme. „Knochen über Bord werfen! Achtet auf Sauberkeit!“, steht an der Schiffswand. Dichter Rauch weht herüber, er beißt in den Augen. 

„Der Frachter hatte Zement geladen,“ sagt Barranda. Er führt durch die RKK Uno, als wäre er der Eigentümer. In einer Kajüte mit Holzpritsche, aufgebrochenen Schiffsplanken und verklebtem Bugfenster macht er oft Mittagspause. In seiner Hütte sei es stickig, im Frachter kühl. Barranda legt sich auf die Pritsche und verschränkt die Arme hinterm Kopf. Der Wächter sagt, dass er nachts, wenn die Hunde bellen, manchmal tote Kinder aus dem Meer steigen sehe. Sie weinten und hielten Kerzen in der Hand. Barranda verlor zwei Neffen im Taifun – durch einen anderen Frachter.

Barranda steigt die Leiter zur Kommandobrücke hinauf. Gekappte Kabel hängen aus den Wänden. Im Steuerstand klaffen große Lücken. Drei Tage war das Schiff unbeaufsichtigt. „Die Leute plünderten Steuer­rad, Kabel, Navigations-, Elektro- und Kommunikationsgeräte. Die Fensterscheiben ließen sie drin, sie wären zerbrochen.“

Fünf Euro am Tag

Von hier kann man die Bucht überblicken, bis zu den schönen Mädchen im Nachbarviertel, man kann sogar in die Hütten hineinschauen. Barranda lacht und klatscht in die Hände: „Hier ist mein Lieblingsplatz.“

Nach der Mittagspause muss Barranda am Rumpf des Frachters wieder Holz hacken. Im November 2014, ein Jahr nach dem Taifun Yolanda, hatten sie das Schiff mit einer Hydraulikpumpe von der Straße gestemmt, auf Räder gestellt und zum Meer gerollt. Da ruht der Schiffsriese nun. Ein Arbeiter taucht aus dem Wasser auf, ­T-Shirt und Shorts kleben an seinem Körper, ein Schlauch hängt aus dem Mund. „Er sägt jeden Tag zwei Stunden unter Wasser am Schiff“, sagt Barranda, „ich habe Angst, dass irgendwann der Tank explodiert.“

Neben der RKK Uno lassen zwei Männer ihre Hähne gegeneinander kämpfen. Hühner, sagt Bong Barranda, mit Hühnern hat er früher sein Geld verdient. Und wenn der Frachter weg ist, muss er wieder Hähnchen grillen. Hähnchenfüße, Eingeweide, Schweineleber. Er war froh, als man ihm die Arbeit auf dem Frachter anbot und ein festes Gehalt: fünf Euro am Tag.

Bald schleppen sie das Schiff zurück in den Heimathafen Cebu. Barranda hat seinen Namen an die Schiffswand geschrieben. „So erinnern sie sich an mich in Cebu“, sagt er. Bevor das Schiff das Barangay (auf Deutsch: das „Viertel“) verlässt, will er sich ein Andenken holen: ein Metallrohr, an dem er seinen Hahn festbindet.

Erwin Coquilla hasst das Schiff. Er sitzt rund 200 Meter vom Frachter entfernt in Hütte 123 auf seinem Bett, neben ihm seine Frau mit Baby. Coquillas Oberarme sind tätowiert, grauer Flaum bedeckt ­seinen Kopf, er ist 38, sieht aber zehn Jahre älter aus. Immer wieder beugt sich Co­quilla zu seiner kleinen Tochter und küsst sie. Sie ist nach dem Taifun geboren.

Die Kinder gelten bis heute als vermisst

Kurz vor dem Wirbelsturm hatte er in seiner Hütte die Warnung im Radio gehört. Die See war aufgepeitscht, eine Welle ging über Land und riss ihn aufs Frachter­deck. Er schnappte nach Luft, spuckte Wasser, und als er die Augen öffnete, lag ein fremdes totes Kind neben ihm.

Der Taifun Yolanda

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Der Taifun Haiyan, auf den Philippinen Yolanda genannt, war mit Böen von 275 Stundenkilometern vermutlich der stärkste, der jemals gemessen wurde. Mehr als 6000 Menschen starben, Hunderttausende mussten ihre Häuser verlassen.

Taifune entstehen, wenn warme feuchte Luft aufsteigt und ein Sog entsteht, der aufgrund der Erddrehung zu rotieren beginnt. Schon 1996, 17 Jahre vor Yolanda, warnte der Klimaforscher Huw Davies davor, dass die Intensität tropischer Stürme zunehme. Grund: die steigende Wassertemperatur der Weltmeere. Hilfe für die Taifunopfer: oxfam.org/philippines

Nach dem Taifun ging er auf die Kommandobrücke. Dort stand die Besatzung in Rettungswesten. Sie gaben ihm Reis und Wasser. Dann suchten sie gemeinsam nach Überlebenden. Sie fanden Coquillas Frau unterm Schiff und zogen sie am Seil an Bord. Er zeigt die langen Narben an den Beinen seiner Frau. Als sie sich an Deck in die Arme fielen, wussten sie: Ihre beiden Kinder hatten nicht überlebt. Trotzdem suchten sie einen Monat lang in den Schuttbergen nach ihnen. Das ­Barangay 70 glich einem Schlachtfeld. Die Hütten waren weggespült, die Frachtschiffe blockierten die Straße, Anwohner transportierten Hilfsgüter in Menschenketten über die Frachter hinweg. Es stank nach Verwesung. Coquillas Frau holt ein Paar rosafarbene Kinderbadeschlappen aus dem Nebenzimmer und einen Plastik­schlüsselbund für Babys, sie gehörten ihrer zweijährigen Tochter. „Als ich die Sachen fand, dachte ich, die Kinder seien in der Nähe“, doch bis heute gelten beide als vermisst. Sie machte Gott Vorwürfe. Warum hat sie überlebt, warum nicht die Kinder?

Erwin Coquilla und seine Frau wollen, dass der neue Priester in der Gemeinde ihre Tochter tauft. Gemeinsam mit zwanzig anderen Paaren stehen sie in der St.-John’s-Kirche um den Altar. Die Kirchwände sind hellgrün, Licht und Wärme strömen herein. Vögel zwitschern.

Coquillas Tochter trägt ein weißes, mit Goldpailletten besticktes Taufkleid, auf ihrer Stirn ein rotes Lippenstiftkreuz. „Es soll das Böse abwenden“, sagt seine Frau. Der Priester legt seine Hände über den kleinen Kopf. Mit dem Zeigefinger zeichnen die Eltern das Kreuz auf der Stirn nach. Jerella haben sie sie genannt – nach Jeremy und Princess Ella, ihren toten Geschwistern.

Anschließend feiern sie zwischen Blech, Sperrholzwänden und gesammeltem Schrott, nur fünf Meter vom Meer ­entfernt. Die Taufe haben sie sich was kosten lassen. Es gibt Torte mit blauen Zuckergussrosen, Fisch, chinesischen Rotwein, Reis. Coquillas Frau sagt: Erst seit ­Jerellas Geburt habe sie den Tod der an­deren Kinder akzeptieren können.

Unterm Bett holt sie einen Eimer und zwei Rucksäcke hervor. „Die sind für die nächste Evakuierung.“ Beim Taifun im vergangenen Dezember konnten sie schon mal üben. Das Evakuierungszentrum sei überfüllt gewesen, sagt Coquilla, statt­dessen fahren sie nun den Berg hinauf zum Haus ihrer Verwandten. Ihr Mann hat sich vom Entschädigungsgeld ein ­Tricycle gekauft, um Passagiere zu fahren und Schrott einzusammeln. Damit sind sie beim nächsten Taifun schneller davon.

Arnel Erandio hat alles verloren. Erandio, 44, weißes T-Shirt, Schnurrbart, eine Sonnenbrille im kurzen dunklen Haar, hockt auf dem Rasen der Memorial Gardens, eines Massengrabs in Tacloban. Hunderte Holzkreuze stecken im Gras, drum herum Hügel, das Meer ist weit. Erandio zündet vier rote Kerzen vor den vier Kreuzen an. Die Namen, mit schwarzem Marker aufs weiße Holz geschrieben, sind verblasst. Er hatte damals die Lichter des Frachtschiffs von weitem gesehen. Sie flackerten auf dem dunklen Meer. Frau und Kinder hatte er aus der Holzhütte zur Tante gebracht, ihr Haus war aus Zement, dort waren sie vor dem Taifun sicher. Dachte er.

Erandios Frau lag tot unter dem Frachter

„Manel spielte Basketball“, sagt Erandio. Bei einem Schönheitswettbewerb in seinem Viertel wählten sie seinen Sohn zum Prinzen. Seine Tochter Mariel las viel. Maria Ninia, die Jüngste, war erst 13 Jahre alt. Und seine Frau, Marie Lou, arbeitete auf dem Fleischmarkt, „damit wir die Ausbildung der Kinder zahlen konnten“. Was schimpfte sie, wenn er abends zu spät nach Hause kam! Erandio zieht schnell die Sonnenbrille vor die Augen. Der Wind bläst eine Kerze aus. Erandio zündet sie wieder an. 

Als er wieder in seiner Hütte ist, setzt er sich im Schneidersitz auf einen Plastikstuhl. Zwischen den Aluminiumtöpfen auf den Wandbrettern huschen Mäuse hin und her, im großen Bett schläft ein Junge. ­Erandio reiht eine Zahnstocher­dose, einen Stift und ein Feuerzeug auf dem Tisch vor sich auf. „Das sind die Häuser“, sagt er. „Und das der Frachter.“ Er rammt einen Kamm dagegen, dass alles umfällt.

Erst rettete er Menschen. Später führte ein Nachbar ihn zu seiner toten Frau. ­Sie hatte unterm Frachter gelegen, Nägel ­hatten das Gesicht zerschlitzt. Erandio nahm sie in die Arme, am liebsten hätte er sich ins Meer gestürzt. Doch er dachte, man würde die Kinder noch finden. Einige Tage später fand man sie. Ihre Gesichter konnte er nicht mehr erkennen, er identifizierte sie an der Kleidung.

Eines Tages guckte eine Jugendfreundin aus Manila durchs Seitenfenster. Sie war da, um ihre kranke Mutter zu pflegen. Sie wusste nicht, was ihm zugestoßen war, räumte auf, wusch, kochte. „Ich liebe ihre Fisch­suppe mit Krabben“, sagt Erandio. Fünf Monate später zog sie mit ihrem Sohn ein. Ihr Junge erinnere ihn an seinen ­eigenen Sohn, sagt er. Es sei nicht immer leicht, sagt seine neue Partnerin. „Oft vergleicht er mich mit seiner verstorbenen Frau und sagt mir, ich hätte einen anderen Charakter.“

"Der Frachter hat auch Gutes gebracht"

Shirlaine Todo, 28, würde das Schiff gerne in Tacloban behalten. Shirlaine hat schwarzes, glattes, rückenlanges Haar, pedikürte rote Fußnägel. Fünf Meter vor ihrer schiefen Hütte ragt eine lila Stahltapete empor, die Frachterwand. Um acht in der Früh beginnt vor ihrer Hütte das Donnern, wenn die Arbeiter an der RKK Uno den Generator anwerfen.

„Der Frachter hat auch Gutes gebracht“, sagt sie. Vor dem Taifun wohnte sie am anderen Ende des Barangays. Keines der Schiffe traf ihre Hütte, trotzdem hat man ihr hundert Euro Entschädigung gezahlt und weitere hundert in Aussicht gestellt, falls ihre Hütte beim Abtransport der RKK UNO beschädigt würde. Dem Nachbarn habe man Arbeit auf dem Frachter ange­boten, er wurde gefeuert. „Jetzt ist er neidisch auf mein Geld.“ Vom Entschädigungsgeld habe sie sich ein Schwein gekauft und es für mehr als das Doppelte wieder verkauft, als im Dezember 2014 ein neuer Taifun ihre Hütte samt Krämerladen zerstörte. Vom Gewinn baute sie die Hütte wieder auf. Ihre Sachen deponierte sie ­vorübergehend auf dem Frachter. Ein Vorarbeiter verliebte sich in sie. Er hatte schon früher immer in ihrem Laden Getränke gekauft. Von ihm erwarte sie nun ein Kind.

###autor###Der Catholic Relief Fund baut Hütten für die Taifunopfer, abseits vom Meer. „Vielleicht sind sie in fünf Jahren fertig“, hofft Shirlaine Todo. Sie redet gegen den Generatorenlärm an, während sie in einem Bottich vor ihrer Hütte Fische putzt. Seit ­Tagen habe sich ihr Freund, der Vorarbeiter, nicht blicken lassen. 

Sie trocknet sich die Hände und holt ein Foto aus ihrer Hütte. Ein amerikanischer Fotograf hat das Bild gemacht, sagt sie. ­Eine Woche später, als ihr kleiner Sohn eine Lungenentzündung hatte, rief sie ihn an. Der Fotograf bezahlte ihr die Krankenhauskosten. Ein australischer Tourist, der die RKK Uno sehen wollte, kaufte in ­ihrem Laden eine Cola, gab ihr statt 50 Cent stolze 20 Euro. Sogar ein ­Soziologenteam von der Ateneo de Manila University kam. Hundert Euro zahlten sie ihr für das Interview. „Wenn das Kind zur Welt kommt“, sagt sie, „wollen sie
wiederkommen und mir nochmals hundert geben.“ Schade, dass das Schiff bald weg ist.

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