Fotomontage: Arzt und Therapeut Jacob Levy Moreno
Jacob Levy Moreno (1889-1974), österreichischer Arzt, begründete eine "Religion der Begegnung"
Marco Wagner
Ein Narr, der für Humanität kämpft
Der charismatische Arzt und Therapeut Jacob Levy Moreno schenkte der Welt das Psychodrama. Sein Motto: "Erst wags, dann wägs"

Keiner will mitspielen. Lädt der rote Plüschsessel auf der Bühne etwa nicht dazu ein, Platz zu nehmen? Läge da nur nicht diese vergoldete Krone mitten auf der Sitzfläche. Die mag niemand aus dem Publikum im Wiener Komödienhaus so ohne weiteres aufsetzen, um als König die Geschicke des Volkes zu lenken. Stattdessen breitet sich ein Zischen aus unter den Menschen, die an diesem ersten Aprilabend des Jahres 1921 ins Theater gekommen sind, um einen „Narrenabend des Herrn der Welt“ zu erleben.

Der düster blickende, schwarz gekleidete Mann auf der Bühne, der unablässig vor sich hin monologisiert, verärgert sie. Auch die Theaterkritiker zerreißen Jacob Levy Moreno. Doch der lässt sich nicht entmutigen. Im Stegreiftheater findet der jüdische Arzt seinen Weg, der der Welt eine neue psychotherapeutische Methode bescheren wird. Sie zielt darauf, Konflikte und Verletzungen gemeinsam mit Mitspielern darzustellen, so mit anderen Augen sehen zu lernen und Neuanfänge zu wagen. Ihr Name: Psychodrama.

Auch in seinem eigenen Lebenslauf zeigt sich Jacob Levy Morenos große Fanta­sie und Gestaltungskraft. Er ist ein charis­matischer Mann, der die Frauen liebt und Geschichten erzählt, die nicht immer stimmen. Als Medizinstudent hat er 1915 in einem Flüchtlingslager in Niederöster­reich das Elend von Tausenden Flüchtlingen aus dem Trentino erlebt. Sie sind nach dem Kriegseintritt Italiens im Ersten Weltkrieg gegen Österreich-Ungarn aus ihren Dörfern zwangsevakuiert worden. Verachtet von der Bevölkerung leben sie nun in eiskalten Baracken auf Stroh. Wenn es Milch gibt, schimmert sie bläulich-gelb, viele Kinder sterben.

Auf der Suche nach kosmischer Kreativität

Als Lagerarzt verdient Moreno Geld für sein Medizinstudium. In Wien hat er schon vor dem Ersten Weltkrieg jüdische Flüchtlinge aus Galizien unterstützt, 1913 eine Selbsthilfegruppe für Prostituierte gegen Polizeischikanen und Zuhälter initiiert. All diese Erfahrungen lässt er später in eine von ihm entwickelte sozial­wissenschaftliche Methode einfließen: Sie misst die Beziehungen zwischen Menschen in Gruppen, um sie therapeutisch zu verändern. Jacob Levy Moreno träumt von einer Gesellschaft, in der alle Menschen ihre schöpferischen Kräfte entfalten können.

Moreno gründet 1918 die Zeitschrift „Daimon“, in der Franz Werfel, Max Brod und Ernst Bloch schreiben, gab sich eine Zeit lang als wandelnder Prophet mit Bart und knöchellangem grünem Mantel, erfindet mit fünf Mitstudenten die „Religion der Begegnung“, um nach dem Vorbild Jesu Nächstenliebe zu leben und Arme und Flüchtlinge zu unterstützen. Wenig später empfängt er eine religiöse Vision, in der er sich mit dem Kosmos vereint fühlt und die er wie im Rausch an die Wände seines Hauses in Vöslau schreibt. 1925 emigriert

Moreno angesichts zunehmender anti­semitischer Ausschreitungen und Gewalt­taten in die USA. Schon 1894 waren seine Eltern, Mitglieder der jüdischen Gemeinde, von Bukarest nach Wien geflohen. Moreno ist rastlos, auch in den USA. Ihn treibt das Bewusstsein, dazu aus­erwählt zu sein, eine therapeutische Weltgesellschaft umzusetzen. Er erforscht die Beziehungen in Gefangenengruppen in Sing Sing, der großen Haftanstalt im Bundesstaat New York, und die Gruppenstrukturen in Schulen. Arme therapiert er kostenlos, Reiche gegen Honorar. Seine Verfahren finden in den USA und Europa Anerkennung. Er lehrt, bildet aus, gründet Fachzeitschriften und internationale Vereinigungen für Gruppenpsychotherapie und Psychodrama.

Das Psychodrama, eine Methode, beim Spielen und Ausagieren von Konflikten zu Lösungen zu kommen, war etwas vollkommen Neues und wurde Vorbild für viele weitere therapeutische Verfahren, auch das Bibliodrama ist von ihm beeinflusst. Beim Bibliodrama werden biblische Geschichten nachgespielt, um die Motive und Empfindungen der Beteiligten besser zu verstehen. Morenos Triebfedern, nämlich Kreativität und Spontaneität, sind heute so wichtig wie damals. „Erst wags, dann wägs“ hieß ein Leitsatz, der ihn sein Leben lang antrieb, Grenzen zu überschreiten – immer auf der Suche nach „kosmischer Kreativität“, die die Menschen verbindet.

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Guten Tag,
zunächst einmal danke ich der Verfasserin für diesen informationsreichen Text!
Ich habe heute das Einstiegseminar zu einer Langzeitfortbidung in Psychodrama absolviert.
Diese Therapieform ist packend, spannend, persöhnlich, ergreifend und unsagbar wertvoll für die Gesellschaft!
Der öffentliche Diskurs beschreibt die meist fehlenden Psychosozialen- und Sozial- Emotionalen Kompetenzen von Kindern und Jugendlichen. Nun kann diese Art der Arbeit wirklich "dramatisch" Veränderung herbeiführen und soziales Lernen ermöglichen. Ich bin Dankbar, dass ich diese Form der Arbeit kennenlernen und bald auch vertiefen darf.

Mit freundlichen Grüßen!

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