Aliullah Nazary, ehmalige Ortskraft der Bundeswehr in Afghanistan. Hier: am Hamburger Hafen
Aliullah Nazary blickt auf den Hamburger Hafen. Seine Familie ist in Afghanistan - und wird dort von Taliban bedroht.
Gordon Welters
"Wir finden dich!"
Aliullah Nazary half den deutschen Soldaten in Afghanistan als Übersetzer und floh anschließend nach Deutschland. Nun bedrohen die Taliban seine Familie, und er will sie ebenfalls herholen. Asyl für die Helfersfamilien? So haben sich die deutschen Behörden das nicht vorgestellt
10.02.2015

Eigentlich könne er nicht klagen, sagt Aliullah Nazary. ­Die Behörde zahlt ihm die Miete für seine Einzimmerwohnung am Stadtrand von Hamburg – plus 351 Euro pro Monat. Deutsch spricht er fast fließend, und wenn er ein Wort nicht kennt, fragt er sofort nach. Er hat große Pläne: Sobald er den Sprachtest für Zuwanderer bestanden hat, will er Politik­wissenschaft studieren und Journalist werden. Der 27-Jährige gehört zu den 257 früheren afghanischen „Ortskräften“, die von Aufständischen bedroht werden und bereits nach Deutschland ausgereist sind. Er war zwei Jahre mit deutschen Militärberatern und afghanischen Soldaten auf Patrouille, war in Hinterhalte geraten und hatte im gepanzerten Fahrzeug erlebt, wie draußen Sprengfallen losgingen. Er hatte zu den Deutschen gestanden, nun stehen die Deutschen zu ihm.

Aber Nazary will mehr. Er will nun auch Familienangehörige nach Deutschland holen. Sein Onkel, seine Eltern und sein Bruder werden jetzt, stellvertretend für ihn, bedroht, sagt er. „Und ich mit meiner Arbeit bei der Bundeswehr bin daran schuld.“ Doch das deutsche Aufenthaltsgesetz, Paragraf 27 Absatz 3, schließt – nach Ermessen der Behörden – den Nachzug von Angehörigen aus, wenn sie auf Sozialleistungen angewiesen sind. Nazary kommt aus einer einfachen Familie: Der Vater führt ein Geschäft. Die Mutter kann weder lesen noch schreiben. Sein Onkel war es, der ihn auf die private Englischschule schickte und ihn 2010 überredete, sich bei der Bundeswehr zu bewerben. Aliullah Nazary zeigt auf seinem Smartphone das Foto eines kräftigen Mannes, Anfang 30, mit dichtem Haar. „Er hat es bis zum Agrarminister unserer Provinz gebracht“, sagt er.

Zwar bietet die Bundesregierung jeder „individuell gefährdeten Ortskraft“ die „Aufnahme in Deutschland zusammen mit ihrer Kernfamilie“ an. So steht es jedenfalls im Fortschrittsbericht der Bundesregierung über die Entwicklung in Afghanistan. 580 Kinder und Partner seien bisher mitgekommen. Doch nach Deutschland darf eigentlich nur, wer als „gefährdet“ gilt.

Eine Stimme am Telefon: "Wir finden dich"

Das nachzuweisen ist schon für die Ortskräfte selbst schwierig. Sie haben keinen pauschalen juristischen Anspruch, in Sicherheit gebracht zu werden. Was mit ihnen und ihren Familien passiert, ist also vor allem eine Ermessensfrage. Was das heißt, lässt sich an Nazarys Aufnahmeverfahren verdeutlichen. Die ersten Drohanrufe erreichten Aliullah Nazary Anfang 2013. Da bereitete die Bundeswehr bereits ihren Abzug aus Afghanistan vor und hatte seinen Vertrag gekündigt. Nazary zählte dennoch nicht zu den „akut gefährdeten“ Mitarbeitern. Sein Name kam erst auf die Liste derer, die nach Deutschland ausreisen dürfen, als man im Oktober 2013 „latent gefährdete Ortskräfte“ berücksichtigte. Da stand Nazarys Porträtfoto bereits auf Webseiten der Taliban. Trotzdem musste er weitere vier Monate auf das Visum warten.

Die Monate des Wartens wurden seinem Freund Dschawad Wafa zum Verhängnis. Am 24. November 2013 wurde er tot im Kofferraum eines blauen Toyota Corolla aufgefunden, die Hände mit Kabeln auf dem Rücken zusammengebunden, über dem Kopf eine Plastiktüte, um den Hals ein Draht. Bis Mitte November 2014 prüften Mitarbeiter des Verteidigungs-, des Entwicklungs- und des Innenministeriums und der Deutschen Botschaft insgesamt 1 163 sogenannte Gefährdungs­anzeigen. 529 Ortskräfte erhielten die Zusage zur Ausreise, etliche von ihnen sind bereits in Deutschland. Aber die Mehrheit der Anträge wurde abgelehnt.

Als Nazary im Februar 2014 das Flugzeug bestieg, ging es ­seiner Familie noch gut. Erst im Sommer, als die Taliban vorrückten, geriet die Familie ins Visier der Regierungsgegner. Sein Onkel Ghulam wickele sich ein Tuch vor das Gesicht, wenn er das Haus verlasse, erzählt Nazary. Taliban verfolgen ihn, rufen ihn an. Seit Wochen. Warum hast du deinen Neffen nicht davon abgehalten, mit der Bundeswehr zu kollaborieren, fragen sie. Sie verlangen, dass er für die Taliban kämpft, sagt Nazary. Ein unbekannter Anrufer habe gesagt: „Wir finden dich“ – weshalb Ghulam seinen Job kündigte. Er wolle seine Frau und das Kind nicht gefährden. Nun ziehe er von Haus zu Haus.
An einem Vormittag im Sommer rief Nazarys Vater Zakir in Deutschland an. Auch er sagte: „Ich werde erpresst.“ Ein unbekannter Anrufer habe von ihm Geld verlangt und mitgeteilt, er finde ihn schon, wenn er nicht zahlt. „Die Leute denken, er sei ein reicher Mann, weil sein Sohn in Deutschland lebt“, erzählt Nazary. „Hätte ich von Anfang an gewusst, was mit mir und meiner Familie passiert, hätte ich nie für die Bundeswehr ge­arbeitet“, sagt Nazary heute. Dass afghanische Großfamilien nach Deutschland strömen und die sozialen Sicherheitssysteme aus dem Gleichgewicht bringen, sei unrealistisch, sagt Tom Koenigs von der Partei Bündnis 90/Die Grünen. Koenigs ging 2006 als Sondergesandter der UN nach Afghanistan und leitete die dortige Unterstützungsmission für zwei Jahre. Auch Bundeswehrgeneräle fordern inzwischen, afghanischen Mitarbeitern und ihren Angehörigen schnell und unbürokratisch zu helfen. Denn wenn sich einmal herumspreche, dass Deutschland seine Ortskräfte im Stich lasse, habe die Bundeswehr bei künftigen Auslandseinsätzen ein er­hebliches Problem.

Eigentlich wollten die deutschen Behörden besonders fair sein. Noch gerechter als die USA, die Sonder-Einwanderungsvisa an ehemalige Mitarbeiter verteilt. Doch das deutsche System ist vor allem eines: kompliziert. Die Betroffenen müssen nachweisen, dass ihre Arbeit für die Deutschen tatsächlich auch Grund für ihre Gefährdung ist. Taliban ver­sehen Drohbriefe aber nicht mit detaillierten Begründungen, Stempel und Unterschrift.

"Du solltest abends nicht mehr aus dem Haus gehen“

Aliullah Nazary

###drp|lB9hrnNNS2qXwd8Slwhh6rKT00089292|i-40|Foto: Gordon Welters|###

 

 

 

 

„Jetzt hat mein Onkel seinen Job aufgegeben, weil er meinetwegen verfolgt wird“

Wenn Nazary in seiner Einzimmerwohnung sitzt und mit seinem Bruder über Skype spricht, dann klingt seine Stimme besonders kräftig. Er beugt sich vor und fragt: Wie geht es dir? Wie geht es unse­rem Vater? Wo schläft der Onkel diese Nacht? Wie geht es seiner Frau und seinem Kind? Er wirkt dabei angespannt und runzelt die Stirn.

Der Nachbar – ein reicher Mann – sei bereits zum zweiten Mal entführt worden, informiert der Bruder über Skype. Sein Vater sei den ganzen Tag im Geschäft. „Er macht sich große Sorgen.“ Auch er selbst fühle sich jetzt unwohl, wenn er an die Uni gehe, wo er Computerwissenschaft studiert. Jeder weiß: Er ist der Bruder von Aliullah, der für die Bundeswehr gearbeitet hat und jetzt in Deutschland lebt. „Du solltest abends nicht mehr aus dem Haus gehen, in Ordnung?“, sagt Aliullah Nazary zu seinem Bruder.

Wie es seinem Bruder wohl in Hamburg erginge? Wie würde seine Mutter zurechtkommen? Würde sie, die des Lesens nicht mächtig ist, jemals Deutsch lernen? Nazary ist sich nicht sicher, ob sie tatsächlich nach Deutschland käme, selbst wenn sie die Möglichkeit dazu hätte. Aber er will es seiner Familie wenigs­tens anbieten können.
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Ein Gebot der Anständigkeit, aber nicht die ganze Gesellschaft, sondern die Bundeswehr muss für die Helfer und ihre Familien aufkommen und sorgen.

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Es ist ein Skandal, wie die deutsche Bundesregierung mit den Bundeswehrhelfern aus Afghanistan umgeht.
Mehr ist dazu nicht zu sagen. Obwohl man natürlich seitenweise Kommentare dazu schreiben könnte.

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