weder von schweren Karossen noch von Männern am Steuer beeindrucken. Frauen fahren Frauen – ein ungewöhnliches Unternehmen, für das es keine Kastengrenzen gibt
"Lock", sagt Seema und guckt streng. Erfolgt keine sofortige Reaktion ihres Fahrgastes, wiederholt sie: "Lock, Mam!", gefolgt von einem knappen: „Seatbelt!“ Sicher ist sicher im indischen Verkehr. Erst wenn ihre Sitznachbarin alles brav ausgeführt hat, dreht Seema den Schlüssel im Zündschloss. Auf geht es in den Verkehrswahnsinn von Indiens Hauptstadt Neu-Delhi.
###mehr-galerien### Seema ist eine zuverlässige Taxifahrerin. Egal, wann und wo man sie hinbestellt: Seema ist da, mit ihrem kleinen, weißen Tata, ihrer türkisfarbenen Uniform, den Plastiksandalen an den bloßen Füßen, ihrem Wischlappen für die Armaturen, dem Putzeimer im Gepäckraum, dem kleinen verschrabbelten, am Aufladekabel hängenden Handy und ihrem „Lock, Mam“, bevor sie losfährt. Sie benutzt keinen Stadtplan, kein GPS, auch kein Smartphone mit Kartenfunktion. Wenn sie unsicher wegen der Adresse ist, telefoniert sie kurz.
Eine Frau am Steuer? Entgeistertes Kopfschütteln
Delhi
rund 16 Millionen Einwohner mehr als 11000 Einwohner pro Quadratkilometer (2011). Zum Vergleich Berlin (mit einer Bevölkerung von 3,5 Millionen): 3900 Einwohner pro Quadratkilometer
Eine Milliarde erhebt sich
Weltweite Aktion "One Billion Rising". Am Valentinstag findet ein weltweiter Aktionstag gegen Gewalt gegen Frauen und Mädchen statt. Karin Heisecke beantwortet die wichtigten Fragen zu "One Billion Rising"
#1billionrising auf Twitter
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Auch die vier starren ungläubig ins Frauentaxi. Seema bleibt vollkommen ungerührt, nutzt die Lücke, die der Mopedfahrer geschaffen hat und kämpft sich über den Bürgersteig bis ganz nach vorn direkt unter die Ampel. Links und rechts dicke schwarze SUV mit verdunkelten Scheiben, in einem sind auf der Rückbank Frauen und Kinder schemenhaft zu erkennen; in einem anderen sitzt ein Mann im dunklen Anzug und telefoniert, am Steuer jeweils ein männlicher Chauffeur. Als sich der Miniwagen frech an ihnen vorbeischiebt, schüttelt der eine Fahrer entgeistert den Kopf, der andere ignoriert Seema stur.
Autos in Delhi
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circa 7,5 Millionen sind angemeldet, jährlich kommen etwa 500000 dazu. Geschätzte Zahl der Autofahrerinnen: 5 bis 10 Prozent
Seema ist 24 Jahre alt und stammt aus einer „Colony“ im Süden Delhis, einem ehemaligen Slum, das sich zu einem Arbeiterwohnviertel weiterentwickelt hat. Seemas Eltern verkaufen Gemüse auf dem Markt, vier Geschwister leben noch zu Hause, dazu die Großeltern – neun Personen in zwei Zimmern. Immerhin: Diese zwei Zimmer gehören der Familie.
Als Seema vor fünf Jahren nach einer Infoveranstaltung der AZAD-Stiftung ihren Eltern mitteilte, dass sie nun unbedingt Auto fahren lernen wolle, sagte die Mutter entgeistert: „Was ist das für ein Beruf, Autofahren?“ Der Vater hätte lieber gehabt, dass sie in einem Callcenter arbeitet. Doch Seema hat sich durchgesetzt. Stolz erzählt sie, dass sie mit ihrem Einkommen der ganzen Familie hilft.
Schluss mit der Schüchternheit
Sie selbst ging nur bis zur achten Klasse zur Schule, ihre beiden kleinen Schwestern sind inzwischen in der neunten und zehnten. Und: Seemas Schwägerin wird jetzt auch Taxifahrerin. Seema hat also genau das gemacht, was die Stiftung sich von ihren Absolventinnen erhofft: Sie wurde „role model“, Vorbild.
Das erste Praxisjahr nach der Führerscheinprüfung gehört mit zur Ausbildung: Die Frauen arbeiten für zwölf Monate bei anderen feministischen Nichtregierungsorganisationen in Delhi oder für Ausländerinnen, die in der Stadt leben. So können sie in einem geschützten Rahmen weiter lernen: Orientierung mit und ohne Karten, Umgang mit ausländischen Fahrgästen, Verhalten in Konfliktsituationen, Pannenhilfe, Hygiene, Verkehrssicherheit.
Seema hat die zwölf Monate bei Jagori in Delhi verbracht, einer der großen und bekannten Frauenhilfsorganisationen im Land. Suneeta Dhar, Direktorin bei Jagori, hat Seema damals angelernt und erinnert sich genau: „Die Veränderung war unglaublich.“ Schüchtern und unscheinbar sei Seema zu Anfang gewesen. Und heute?
Wie Frauen in Indien leben
64 Prozent aller Inderinnen sind Analphabetinnen; 80 Prozent aller Männer. 61 Prozent aller indischen Frauen heiraten unter 16, obwohl das Gesetz die Volljährigkeit vorschreibt
Hochzeiten kosten oft mehrere Hunderttausend Rupien (2000–3000 Euro) und ruinieren viele Familien. Laut Gesetz ist die Mitgift längst verboten, heute heißt sie daher „Geschenk“. Auf dem Land werden jedes Jahr Tausende von Bräuten ermordet, weil ihre „Mitgift“ aufgebraucht ist..
Im Dezember 2012 erschütterte die grausame Gruppenvergewaltigung einer Studentin in Delhi Menschen nicht nur Indien, sondern auf der ganzen Welt. Zu dieser Zeit arbeitete Seema bei Jagori. Zusammen mit Kolleginnen besuchte sie fast täglich die großen Demonstrationen. Trotz der öffentlichen Empörung werden Männer aus höheren Kasten nur selten verurteilt, wenn sie Frauen aus niedrigeren Kasten vergewaltigen.
Manchmal wird es abends spät. Dann döst Seema im Auto, die Rückenlehne ist nach hinten geklappt, die Fenster stehen offen. Hat sie keine Angst, als Frau allein im Dunkeln auf der Straße unterwegs zu sein? Nein, hat sie nicht, sagt sie. Sie hat ein Pfefferspray im Handschuhfach und während ihrer Ausbildung ein paar handfeste Selbstverteidigungsgriffe gelernt. Für viel wichtiger jedoch hält sie es, erst gar nicht in einen Konflikt zu geraten. Männer nicht zu provozieren, das haben alle Taxifahrerinnen während ihrer Ausbildung intensiv geübt.
Für eine Handvoll Rupien
Die Autorin
###drp|l1y4E9rHhPgP60DJOXUgKYly00035772|i-40||chrismon-Redakteurin Dorothea Heintze ### Dorothea Heintze, 55, war beeindruckt vom Selbstbewusstsein vieler Inderinnen. Unglaublich, diese Power!
Mittags kauft sie sich bei einem Imbiss etwas für 20 bis 30 Rupien auf die Hand. Seema bekommt keine Sozialleistungen, hat keinen Kündigungsschutz. Bald will sie heiraten, den Bräutigam haben die Eltern längst ausgesucht. Auch als Ehefrau und Mutter will sie weiter Taxi fahren. Ihr Ziel: ein eigenes Auto.
Seema fährt auf einer staubigen Straße langsam an einer Gruppe herumlungernder Kerle vorbei. Denen fallen fast die Augen aus dem Kopf. Eine Frau am Steuer! Sie klopfen sich amüsiert auf die Schenkel. In Deutschland würde Seema ihnen wohl den Stinkefinger zeigen – hier drückt sie ein kleines bisschen mehr aufs Gas. Der Sand spritzt. Und weg ist sie.
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