Frank Höhne
Von Freiheit überfordert
Aus den Vororten von Paris und Hamburg ziehen sie in den „Heiligen Krieg“. Necla Kelek: Wir dürfen nicht noch mehr von ihnen verlieren!
Foto: Cyril Schirmbeck
27.01.2015

Ich traf Kaja das erste Mal, als er 13 Jahre alt war. Er ging wie viele seiner türkischen Freunde nachmittags in die Koranschule der Moschee in Hamburg-Altona. Seine Mutter war stolz auf ihn, denn er trieb sich nicht wie die anderen Jungen im Viertel herum. In der Moschee, in der sie sich mit anderen Frauen auch zum Koranlesen traf, lernte er, wie sie sagte, seine Religion: Respekt vor den Älteren. Und es bewahrte ihn vor Drogen und Alkohol. Vor dem Hodscha hatten die Jungen Respekt, sagte sie. Für sie waren Respekt und Angst dasselbe.

Kajas Mutter war die Tochter von Haselnussbauern von der türkischen Schwarzmeerküste. Sie empfand es als Glück, dass ihre Eltern sie nach Deutschland verheiratet hatten. So war sie versorgt und konnte auch für die Eltern in der Heimat sorgen. Welche Erwartungen auf sie als Mutter in Deutschland zukamen, darauf war sie nicht vorbereitet. Die Schule wird es schon richten, für die Erziehung sind doch die Lehrer da, dachte sie. Kajas Vater fühlte sich hauptsächlich seinen Eltern und der Familie in der Türkei verpflichtet. Ihm war beigebracht worden, dass er sein Leben für seine Eltern zu opfern habe. Später würde dann sein Sohn für ihn da sein. So erzogen sie ihre drei Kinder. Die beiden Mädchen bei der Mutter zu Hause. Verwandte und Bekannte gaben Acht. Für ihren Sohn waren die Männer, die Lehrer und der Hodscha in der Moschee, zuständig.

Kaja träumte davon, Automechaniker zu werden. Dafür brauchte er die mittlere Reife. Und dann würde er wohl seine Cousine aus der Türkei heiraten, sagte er mir. Das hätten die Eltern schon verabredet. „Und willst du das?“, fragte ich ihn. Kaja zuckte mit den Schultern. Er möchte lieber ein Mädchen heiraten, das deutsch spricht. Aber wenn er es tue, werde sein Vater sagen: „Habe ich dich auf die Welt gebracht, damit du mein Herz brichst?“

Als ich Kaja zehn Jahre später, da war er 23, wieder traf, war alles anders gekommen. Er hatte mit einem Abgangszeugnis die Schule verlassen, keine Lehrstelle bekommen und sich mit Jobs durchgeschlagen. Als herauskam, dass er eine deutsche Freundin hatte, kam es zum Bruch mit den Eltern. Der Vater stellte ihn vor die Alternative, entweder die Cousine zu heiraten oder auszuziehen. Er zog zu seiner Freundin, und seine Eltern pilgerten nach Mekka, um für seine Sünden zu beten.

"Denkt an eure Familien, warum lasst ihr sie leiden?"

Dann traf er Tayfun, einen jungen strenggläubigen Hodscha aus der Moschee in Wilhelmsburg. Der hörte ihm zu, und Kaja glaubte, verstanden und akzeptiert zu werden. Tayfun predigte, dass die Muslime die Befreier der Welt seien, die Erlöser von den Sünden, auch der Ungläubigen. Man müsse nur den „Djihad“, den richtigen Weg, wählen. Kaja begann, fünfmal am Tag zu beten, und versuchte, alle Vorschriften des Islam zu befolgen. Er kleidete sich nach der Sitte der „as-salaf“, der Altvorderen, ließ sich einen Bart wachsen. Das war vor fünf Jahren.

Nun ist Kaja verschwunden. Seine deutsche Frau ist zum Islam übergetreten. Sie und ihre kleine Tochter warten auf ihn. Seine Mutter macht sich schreckliche Sorgen, wenn sie die Nachrichten aus Syrien und dem Irak hört. Wir haben unseren Sohn verloren, sagt sie. An wen, kann sie nicht erklären. Wenigstens hat sie ihre beiden Töchter „ehrenvoll“ verheiratet. Sie wohnen mit ihren Ehemännern im selben Haus. Trost für den verlorenen Sohn spenden ihr die beiden kleinen Enkelsöhne.

Auch fünf Schüler der islamischen Religionslehrerin Lamya Kaddor sind in den „Djihad“ nach Syrien gezogen. Frau Kaddor erklärte es sich damit, „dass Jugendliche wie diese sich an den Rand der Gesellschaft gedrängt fühlen – weil sie den falschen Namen haben, eine falsche Herkunft, weil sie sich vermutlich tagtäglich frustriert, ausgeschlossen und diskriminiert gefühlt haben“. Sie könne sich vorstellen, dass solche Erfahrungen anfällig machten für eine Propaganda der Art: Die behandeln euch doch nur schlecht, ihr kriegt keine Ausbildungsplätze und keine Jobs, weil ihr Muslime seid (Interview in „Zeit Online“). Auf die Frage, was sie den Männern sagen würde, könnte sie sie erreichen, antwortete Lehrerin Kaddor: „Ich würde ihnen sagen, dass ich enttäuscht bin, dass sie ihren Verstand ausgeschaltet haben. Ich würde ihnen sagen: Denkt an eure Familien, warum lasst ihr sie leiden?“

Lamya Kaddor reagierte im Prinzip ähnlich wie Kajas Mutter und sein Vater, der seinen Sohn verheiraten wollte. Sie appellierten an die Söhne, ihre Eltern nicht zu enttäuschen. Auch die Pädagogin verstand offenbar nicht, dass sie ein Erziehungsideal vertrat, das gerade die Ursache für den Verlust der Söhne ist.

Die Religion des Islam verschärft und legitimiert diesen familiären Anpassungsdruck. Das spiegelt sich besonders in der Erziehung wider. Wer aus diesen Verhaltensmustern ausbrechen will, muss dann auch die eigene Familie, die Gemeinschaft und die eigene Religion infrage stellen. Die meisten jungen Menschen haben aber nicht gelernt zu widersprechen und sind mit einer kritischen Haltung überfordert.

Eine Möglichkeit auszubrechen ist der Versuch, ein noch besserer Muslim zu sein als die Eltern. Dass junge Menschen die tödliche Mission ihrer Religion mehr lieben als die friedliche Seite und in den „Djihad“ ziehen, ist das extreme Resultat einer Überforderung. Die Gesellschaft erwartet von den jungen Menschen, dass sie in Schule und Beruf erfolgreich sind. Viele erfüllen diese Anforderung nicht, weil sie in der Schule zu schlecht waren, ihnen in der Familie nicht geholfen werden konnte. Auch ihre Gemeinschaft erwartet zwar von ihnen eine Mechanikerlehre, aber zuallererst Gehorsam und für den Opa da zu sein, wenn der zum Arzt gefahren werden muss. Eigenverantwortung wird weder geübt noch akzeptiert. Unangepassten bleibt nur die Flucht: vor der Familie, ins Spiel oder in Drogen, in den Krieg.

Die Jugendlichen müssen integriert werden

Was sind die Ursachen solcher Entwicklungen? Sie beruhen einerseits darauf, dass die Bereitschaft zur kritischen Selbst­re­flexion in der Theologie noch viel Nachholbedarf hat, andererseits auf den religiös-patriarchalisch-kollektivistischen Verhältnissen. Die Älteren verlangen von den Jungen, ihnen zu dienen, sich ihrem Willen und dem Glauben zu unterwerfen. In einer solchen Gemeinschaft gilt nicht der Einzelne, sondern der Haushalt als Rechtssubjekt. Der Einzelne ist kein Individuum, sondern ein Teil des Haushalts. Es gilt, das Ansehen oder die Ehre einer solchen Gemeinschaft nach außen zu leben und zu schützen.

Aber diese Werte stehen im Gegensatz zu denen der Mehrheitsgesellschaft. Dort gilt allgemein: Individualismus statt Kollektiv, das Recht auf Gleichberechtigung statt Patriarchat, selbstbestimmte Sexualität statt sexueller Kontrolle. Weil das Patriarchat mit solch anderen Wertvorstellungen untergehen würde, grenzt man sich ab und versucht, die dörflichen Kollektivstrukturen zu erhalten und den Einzelnen in der Bürgergesellschaft zu kontrollieren. Da passen die jüngeren Brüder auf, dass ihre Schwestern nicht mit fremden Jungen sprechen.

###autor### Ich spreche in diesem Zusammenhang von einer „Kulturdifferenz“, die überwunden werden muss. Die herrschende Migrationsforschung und Integrationspolitik hingegen nimmt „Kultur als Differenz“ wahr. Obwohl in den letzten zehn Jahren genug Debatten geführt, genug Bücher und Artikel über eine verfehlte Integration besonders muslimischer Migranten geschrieben wurden, geht der Kulturbegriff der Migrationsforscher immer noch von „Vielfalt“, also dem gleichberechtigten Nebeneinander verschiedener Kulturen aus. Eine „Kultur des Konsenses“, der gemeinsamen Werte und Rechte für alle, gilt als reaktionär oder überholt. Dass Kaja und Co in den „Djihad“ ziehen, dass sie glauben, damit Islam und ihre Ehre zu verteidigen, ist nach dieser Auffassung kein strukturelles Problem, sondern ein bedauerlicher Unfall. Das interessiert dann nur noch die ratlosen Eltern.

Hat die Sozialwissenschaft nicht die Aufgabe, diese Strukturen zu analysieren und Antworten zu suchen? Die Integration der Jugendlichen in unsere freiheitliche Gesellschaft ist eine der wichtigsten Voraussetzungen dafür, dass wir nicht noch mehr von ihnen an den Krieg verlieren.

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Ich möchte nur auf ein paar Leerstellen in Kajas Biographie( Gibt es diese Biographie wirklich? ) hinweisen: Warum hat Kaja die Schule mit einem Abgangszeugnis verlassen und hat die Mittlere Reife nicht geschafft? Wenn die Eltern ihn nicht unterstützen konnten - gab es Nachhilfe? Warum hat ihm kein Betrieb ohne Schulabschluss eine Lehrstelle angeboten? Man kann den Schulabschluss in der Berufsschule durch Bestehen der Gesellenprüfung nachholen. Ging es bei dem Mädchen, dass Deutsch sprechen soll, um ein deutsches Mädchen oder um ein türkischstämmiges Mädchen, das Deutsch spricht?
Nach meinem Gefühl werden in dieser Geschichte alle Klischees bedient, die über muslimische Mitbürger in Deutschland bestehen.

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Wenn das Patriarchat so wirkmächtig wäre, wie die Autorin annimmt, hätten die jungen Leute doch gar keinen Spielraum für ihre individuelle Entscheidung in den Krieg zu ziehen. Sie würden sich dem Willen des Patriarchen unterordnen.
Wichtige Faktoren hat die Soziologin hier nicht im Blick: wir erleben interkulturell eine Radikalisierung der jungen Generation. Davon erzählt die wachsende Hooligan-Bewegung, das kann man bei jungen Russland-Deutschen beobachten, am Applaus von Schulklassen in den Pariser Vororten für die Hebdo-Attentäter und am Zulauf traditioneller Lebensformen und Überzeugungen islamischer Jugendlicher von Kairo bis Sumatra. Die Jugend wird wieder politisch -nur völlig anders als es sich die nörgelnden Alt-68er vorstellen konnten.
Auf der anderen Seite habe ich muslimische Familien und vor allem Väter erlebt, die ihre Kinder unglaublich unterstützen, sich in Elternvertretungen engagieren und ihnen eine gelingende Karriere ermöglichen. Grade weil sie ihre Rolle als Vater in der Familie ernstnehmen. Übrigens verglichen mit asiatischen Gesellschaften, verlangt unsere ausgesprochen wenig Leistung von ihren Heranwachsenden. Wo junge Menschen aber lernen, dass sie sich qua Leistung Individualität und Teilhabe erwerben können, sind sie alle dabei. Egal ob zuhause Türkisch, Russisch oder Oberbayrisch gesprochen wird. So schwer ist das gar nicht, die kulturellen Unterschiede zu überwinden. Nur der akademische Tunnelblick wird dabei nicht weiterhelfen.

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