Kein Gegrummel

Ulric Colettte

In der Jugend verändert sich der Mensch. Im Ruhestandsalter aber auch, hat Jule Specht herausgefunden

chrismon: Kann man hoffen, dass ein 40-Jähriger, der seine dreckigen Socken rumliegen lässt, irgendwann doch noch ordentlich wird?

Jule Specht: Möglicherweise schon. Bis vor kurzem hat man zwar angenommen, dass die Persönlichkeit ab dem Alter von etwa ­30 Jahren relativ stabil bleibt. Wie wir jetzt wissen, stimmt das aber nicht: Etwa ab dem 60. Geburtstag beginnt noch einmal eine Phase stärkerer Veränderung.

Was passiert da?

Die Veränderungen sind vergleichsweise klein, aber messbar: Männer werden nach dem Tod ihrer Partnerin tendenziell ge­wissenhafter, bei Frauen ist es umgekehrt. Eventuell hat das mit der klassischen Rollen­verteilung zu tun. Die Person passt sich an die neuen Anforderungen an. Ein ­weiteres Ergebnis: Leute verhalten sich im Alter eher verträglich gegenüber anderen, ­werden ­also zum Beispiel hilfsbereiter und nachsichtiger.

Stimmt das Klischee vom grummeligen Alten also nicht?

Tendenziell nein – möglicherweise, weil ­ältere Leute häufiger Hilfe brauchen, zum Beispiel beim Einkaufen. Sie können es sich weniger leisten, jemanden zu vergraulen. Das ist aber bisher nur eine Hypothese. In unseren Untersuchungen sieht es bisher nicht danach aus, dass beispielsweise der Gesundheitszustand eine größere Rolle bei Persönlichkeitsveränderungen spielt.

Welche Einflüsse könnten es sonst sein?

Das wissen wir noch nicht genau. Wir haben Daten des Sozio-oekonomischen Panels ausgewertet, bei dem jedes Jahr mittler­weile etwa 30 000 Leute befragt werden. Auffällig war, dass sich Testpersonen immer dann veränderten, wenn sie etwas Einschneidendes erlebten, zum Beispiel den Einstieg ins Berufsleben, Heirat, Renten­beginn oder den Tod ihres Partners.

Kann man seine Persönlichkeit auch ­willentlich beeinflussen?

Psychotherapeuten nutzen diese Möglichkeit ja schon, zum Beispiel, indem sie mit Klienten ein bestimmtes Verhalten üben. Man kann sich aber auch bewusst bestimmten Lebensereignissen aussetzen, zum Beispiel einem längeren Auslandsaufenthalt, und dadurch Veränderung provozieren.

Klappt das auch bei älteren Leuten?

Möglicherweise spielt aktive Veränderung  da sogar eine besonders große Rolle: Je ­näher der zu erwartende Tod rückt, desto mehr hinterfragen Menschen, wer sie sein möchten und was sie vom Leben erwarten. Ich kann mir vorstellen, dass sich auf Basis dieser Neubewertung auch die Persönlichkeit verändert.

Was wollen Sie in zehn Jahren herausgefunden haben?

Über die aktive Veränderung wüsste ich ­zum Beispiel gern, wann und bei wem das gut funktioniert. So könnte man Menschen helfen, ihr Leben besser zu bewältigen.

Jule Specht

Jule Specht, Jahrgang 1987, ist Juniorprofessorin für Psychologie an der FU Berlin. Ihr Forschungsthema: Persönlichkeitsveränderungen im Erwachsenenalter

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