Thomas Meyer/Ostkreuz
Alles weg, alles neu
Die Bürgerrechtlerin und die Schülerin erlebten den Mauerfall als Aufbruch in ein Leben mit ungewohnter Freiheit – und Unsicherheit
Tim Wegner
Hedwig Gafga, Autorin
21.09.2014

chrismon: Bei der Maueröffnung jubelten Menschen: „Das ist unsere Stunde, die Stunde der Freiheit!“ Wie haben Sie dies erlebt?

Julia Schoch: Ich war in der Schule, zehnte Klasse. Wir hatten das am Abend nicht mitgekriegt, nicht das Ausmaß. Am Samstag fuhr ich nach Westberlin. Als Tochter eines Armeeangehörigen durfte ich das eigentlich nicht. Einen Stadtplan hatte ich nicht, Westberlin war geweißt in den DDR-Karten. Also hat man sich in die S-Bahn gesetzt und ist ausgestiegen, wo alle ausstiegen, in einer Art Prozession ging es zur Wilmersdorfer Straße.

Ulrike Poppe: Ich war als Sprecherin von „Demokratie Jetzt“ in einem Berliner Vorort, um über unsere „Thesen zur Einmischung in die eigenen Angelegenheiten“ zu sprechen. Es herrschte eine euphorische Stimmung. Danach fuhr ich auf eine Party nach Prenzlauer Berg. Jemand wollte in einer Kneipe Wein holen, kam zurück und sagte: „Die Mauer ist offen!“ Wir fuhren ans Brandenburger Tor. Alles tanzte, lachte, lag sich in den Armen.

Wie hat sich Ihr persönliches Leben durch die Maueröffnung verändert?

Schoch: Tröpfchenweise. Für mich gab es schon 1986 eine Art Einschnitt, als meine Eltern aus einem Provinzdorf nach Potsdam zogen. Hier waren die Leute wacher. Es gab sogar ein paar gute Lehrer. Meine Deutschlehrerin kaufte sich im Herbst 89 sofort eine Metzler-Literaturgeschichte und unterrichtete Literatur der BRD. Als Jugendlicher ist man übrigens gar nicht so selbstständig, wie man denkt. Viele haben die Haltung der Eltern weiterge­tragen. In den Jahren danach hat man sich auch mit den gede­mütigten Eltern solidarisiert, ganz instinktiv.

An welche Demütigungen denken Sie?

Schoch: Fast alles, woran die Eltern mitgearbeitet oder woran sie geglaubt hatten, wurde entwertet oder lächerlich gemacht. Ihre Arbeit, ihre Träume, ihre Ansprüche. Viele Eltern standen plötzlich hilflos wie Kinder da. Eine Freundin erzählte, der Vater habe nur noch da gesessen und gesagt: „Vorbei, vorbei. Jetzt ist es vorbei.“ Gleichzeitig hatte ich mein Parallelleben. In meinem Tagebuch geht es in der Zeit vor allem um Liebessachen, nicht so sehr um Politik. Wie problemlos Jugendliche das integrieren können!

Poppe: Gab es auch Lehrer, die mit den Veränderungen gehadert und das an Sie vermittelt haben?

Schoch: Na klar. Das war eine große Unsicherheit, aber auch eine schöne. Ich habe es immer gemocht, wenn etwas passiert, egal was. Ab dem November 89 ist man morgens in die Schule gekommen und wusste nicht, was passiert. Mal fehlte ein Lehrer, der nie wieder auftauchte, die Staatsbürgerkunde-Lehrerin, der Direktor. Als im Herbst 1990 der neue Direktor aus Westberlin seine erste Ansprache hielt, sind die Schüler aus dem Saal ge­gangen. Plötzlich konnte man gehen! Ich hatte nie Angst damals. Andere verstanden die Welt nicht mehr.

Poppe: Gegenüber von meinem Elternhaus wohnte ein Major der Grenztruppen. Er rechnete damit, als Verantwortlicher für tödliche Schüsse an der Mauer verhaftet zu werden. Dann wagte er doch, westliche Länder zu bereisen und kehrte verändert zurück. Er sprach von verlorenen Lebensjahren und wie die Ideologie seinen Blick auf die Wirklichkeit getrübt hätte. Schwer nachzuvollziehen, dass ein Mensch so lange nicht die Sehnsucht em­pfunden hatte, die Welt außerhalb der DDR zu sehen.

 

"Es war demütigend, dass der Staat einem alles vorschrieb" (Ulrike Poppe)

Schoch: Für jemanden, der nur in seinem Schrebergarten ­werkeln wollte, war die DDR nicht unbedingt ein Angstsystem wie für jemanden, der wie Sie gelebt hat. Es hängt immer vom Zeitpunkt ab, an dem etwas im Leben passiert, und vom Typ Mensch.

Poppe: ...und davon, ob man es erträgt, dass einem von oben aufgedrückt wird, wie man zu leben hat, und ob man darunter leidet, nicht selbst entscheiden zu können.

Frau Poppe, Sie sagten einmal: „Wir sind vom Untertanen zum Bürger geworden.“ Was meinen Sie damit?

Poppe: Ein Bürger kann seine Rechte gegenüber dem Staat ein­klagen. In der DDR war die Verwaltung gegenüber dem Bürger nicht begründungspflichtig. Alles wurde willkürlich entschieden, von der Staatsgewalt, der Betriebsleitung, der Parteileitung. Ob man eine bessere Wohnung kriegte, ein Telefon, ein Auto, einen bestimmten Beruf erlernen oder studieren durfte, der Einzelne war einer intransparenten Entscheidungsmacht ausgeliefert. Vieles hing vom Wohlverhalten ab. Das ist ein starkes Disziplinierungsinstrument. Man war dauernd zum politischen Bekenntnis aufgefordert und wusste nicht, welche Nachteile es hatte, wenn man sich verweigerte.

Schoch: Vieles in der DDR verlief unheimlich zäh. Mehr als ein Angstsystem war es für viele ein System des Genervtseins, der Müdigkeit.

Poppe: Und es war demütigend. Dass der Staat einem vorschreibt, welche Überzeugung man sich zu eigen machen soll, welche ­Bücher man lesen darf, welche Musik man hören soll. Das ist eine Entmündigung, die schwer erträglich war. Manchen Menschen mag es eine Sicherheit geben, wenn die Obrigkeit ihnen sagt, wie sie denken sollen. Andere leiden wahnsinnig darunter, fremd­bestimmt zu werden.

Schoch: Irgendwann hätte es mich auch getroffen. Ich wollte zum Studium nach Leipzig oder zur Filmhochschule. Das hätte sicher Komplikationen gegeben.

Aber bis dahin war es für Sie kein Problem?

Schoch: Was heißt ein Problem? Mit 13, 14 Jahren war das meine Realität, fertig. Man vergisst das heute mit unseren Tausenden
Möglichkeiten. Immerzu sind wir auf der Suche, wo es noch
besser geht, welche Varianten es noch gibt.

Frau Poppe, was hat Sie gegenüber dem Staat kritisch gemacht?

Poppe: Ich bin an der Mauer, im Grenzort Hohen Neuendorf, aufgewachsen. Ich erlebte, wie die Mutter eines Klassenkameraden – ich glaube, wegen angeblicher Fluchtvorbereitung – verhaftet wurde. Der Sohn kam ins Kinderheim. Schon in der Schulzeit hat mich die Doppelzüngigkeit empört. Viele sahen Westfernsehen, aber man durfte nicht darüber reden, und auf der anderen Seite wurde gepredigt, dass wir die Wahrheit sagen sollen.

Wie kam es, dass Sie sich stärker öffentlich hervortrauten?

Poppe: Ein Einschnitt war ein mehrwöchiger Gefängnisauf­enthalt 1983. Davor hoffte ich noch auf die Chance zu studieren. Danach war klar, dass ich nie mehr eine Zulassung zu einem Studium erhalten würde. Für alle, die wie ich von sämtlichen Möglichkeiten beruflichen Fortkommens ausgeschlossen waren, lag – in zynischer Anlehnung an das Kommunistische Manifest – ein Trost bereit: Wir hatten nichts zu verlieren als unsere Ketten. Damit konnten wir uns freier fühlen als jemand, der um seinen Studienplatz bangte. Allerdings hatte die Stasi in der Schule meiner Kinder doch wieder versucht, Druckpotenziale aufzubauen.

Frau Schoch, Sie schrieben über die Wendejahre: „alles Ende und Zerfall“. Warum nicht: alles neu?

Schoch: Beides stimmt. Die Dinge existierten parallel. Plötzlich gab es viele Möglichkeiten. Ich fuhr noch vor der Währungs­union nach Frankreich, ein Jahr später in die USA.

In den USA merkten Sie, dass Sie sich mit Ihrem neuen Land nicht identifizieren konnten. Plötzlich hieß es Deutschland...

Schoch: Deutschland war ein Wort, das man gar nicht sagen durfte, das erinnerte an die Nazizeit.

Poppe: Mich hat die Nationalhymne erst mal befremdet. Das war für mich das Deutschlandlied, das in der Nazizeit einen Missklang bekommen hatte.

Schoch: Mit der Fahne ging es mir anfangs genauso. Bei vielen Fahnen war nur das Emblem abgenommen worden, darunter war die Deutschlandfahne, wie in einem Film von Lubitsch.

Waren die Bürgerrechtler für Sie Vorbilder?

Schoch: Anfangs schon. Dann erlitten sie einen rasanten Bedeutungsverlust. Im November 89 ging es um Reformen, drei Monate später nur noch um Wiedervereinigung. Das Neue Forum kriegte bei den ersten freien Wahlen nicht mal drei Prozent, die CDU die Mehrheit. Wie lange erträgt der Mensch, dass Unordnung ist? Einen Monat, zwei?

"Ich kann die Bitterkeit von Opfern gut nachvollziehen." (Ulrike Poppe)

Poppe: Die Leute waren der Unsicherheit überdrüssig. Und wir waren ja nicht mit dem Ziel angetreten, selbst an die Macht zu kommen. Unsere Ziele waren freie Wahlen, Rechtsstaatlichkeit, Abschaffung der Staatssicherheit. Uns Bürgerrechtlern hat man keine Politikkompetenz zugetraut.

Was wäre aus Ihnen geworden, wäre die Mauer nicht gefallen?

Schoch: Genau das Gleiche. Vielleicht krummer, umständlicher, mit mehr Depression verbunden. Vielleicht hätte ich es auch gar nicht ausgehalten. Ich bin froh, dass dieses Heimliche, um sich Kreisende, das Verstecken und Durchhalten-Müssen lange vorbei ist, da wird man ja verrückt.

Wird unsere Gesellschaft denen gerecht, die in der DDR Unrecht gelitten haben?

Poppe: Die Opfer staatlicher Repression können Entschädigungen, Ausgleichszahlungen und andere Hilfen erhalten. Der Gesetzgeber erkennt damit an, dass diesen Menschen Leid und Unrecht geschehen ist. Damit wird das Unrecht nicht unge­schehen gemacht. Wer sich dem Regime der DDR entgegengestellt hat, wurde fast immer beruflich kaltgestellt. Dadurch konnten viele auch nach 1990 nicht mehr in einer angemessenen beruflichen Tätigkeit Fuß fassen.

Schoch: Nicht alle würden sich als Opfer definieren. Mein Schwiegervater war DEFA-Regisseur und wurde jahrelang systematisch am Drehen gehindert. Er hat diese Rente nie beantragt, denn das hätte bedeutet, sein früheres Leben infrage zu stellen. Wer will das schon? Da würde man sich wieder unfrei machen.

Poppe: Manche hadern, wegen verlorener Lebenschancen. Wenn Menschen erleben, dass diejenigen, die damals an ihrem Rauswurf aus Uni oder Betrieb beteiligt waren, heute an ihnen vorbei Karriere machen oder sogar wieder politische Macht über sie ausüben, ist das schwer zu ertragen. Diejenigen, die sich der SED-Macht angedient hatten, konnten sich oft auch problemlos in die neuen Verhältnisse einfügen. Da kann ich die Bitterkeit von Opfern gut nachvollziehen.

Gibt es etwas, worauf Sie stolz sind?

Poppe: Deutschland ist ja nicht besonders reich an Freiheitstradition. 1989/90 ist es der Bevölkerung gelungen, sich aus eigener Kraft von der Diktatur zu befreien. Und dies auf friedlichem Weg!

Wird das auch in der jungen Generation so gesehen?

Poppe: Die meisten Schüler wissen nicht sehr viel über die DDR. Wenn ich Schulen besuche, spreche ich mit ihnen über Alltagssituationen, etwa: Euer Fußballplatz soll in einen Parkplatz verwandelt werden. Ihr wollt das verhindern. Was könnt ihr tun? Da fällt ihnen einiges ein: sich an die Zeitung wenden, Flugblätter auslegen, eine Demonstration organisieren. Dann stellen wir uns die gleiche Situation in der DDR vor – da kann man den Gewinn an Freiheit erkennen.

Schoch: Meine Kinder wachsen ganz selbstverständlich mit unserer Art von Freiheit auf. Es wird bizarr anmuten, wenn ich meinem Sohn einmal die DDR erklären werde. Der wird sich das anhören wie ein Märchen. Aber: In Diktaturen ist es immer eindeutig, wogegen man sich auflehnen kann. So ist es nicht mehr. Das Schwierige ist herauszufinden: Wozu willst du frei sein? Was willst du mit der Freiheit anfangen? Heutzutage gibt es ganz andere Zwänge. Selbstausbeutung zum Beispiel.

Poppe: Es gibt neue Gefahren, die Freiheiten auszuhöhlen drohen. Die digitalisierte Welt gefährdet die Autonomie des Menschen. Die Privatheit geht verloren, die Selbstbestimmung darüber, was man von sich selbst preisgeben will.

"Man muss am eigenen Geheimnis arbeiten, sich aktiv verdunkeln" (Julia Schoch)

Schoch: Das Schwierige ist, dass wir an dieser Art von Über­wachung und Ausbeutung letztlich selbst beteiligt sind. Man kann nicht mehr sagen: die da oben und wir da unten, die armen Geknechteten. Was da an Überwachung stattfindet, profitiert von den Prinzipien der neuen Ordnung: Mach dich transparent, sei sichtbar, komme vor! Wer unsichtbar ist, hat in dieser Gesellschaft immer schon verloren. Natürlich spielt das Individuum, das diesem Gebot genügen will, denen, die unsere Daten benutzen, schön in die Hand.

Poppe: Ja, aber kann wirklich erwartet werden, dass der Einzelne vollständig überblickt, wann er sich gläsern macht? Da sehe ich schon eine Aufgabe des Staates, der es dem Bürger ermöglichen muss, den Grad der Transparenz seiner Privatheit selbst zu bestimmen. Zum Beispiel die Daten über unsere Gesundheit oder über unsere Gene.

Schoch: Ich befürchte, dass ein Großteil der Bevölkerung die Privat­sphäre für nicht schützenswert, sie sogar für etwas Veraltetes hält. In den USA gibt es GPS-Handys speziell für Kinder. Wenn die Eltern anrufen, müssen sie innerhalb von zehn Sekunden rangehen, wenn sie es nicht tun, geht ein Mikrofon an. Da lachen wir heute drüber. In 15 Jahren wird es Standard sein. Ich weiß dann genau, wo das Kind ist, mit wem es unterwegs ist, es wird alles optimiert, es wird alles gläsern. Dann hat keiner mehr Geheimnisse. Auch eine Form von Gewalt.

Poppe: Schon jetzt ist es so, wenn ich im Internet etwas kaufe, wird das jedes Mal registriert und es entsteht ein Profil meiner Person. Mir wird eine darauf abgestimmte Werbung übermittelt, die mich beeinflusst. Weil ich in der falschen Straße wohne, im falschen Lokal esse, wird mir die Kreditwürdigkeit abge­sprochen  – ohne dass ich es nachvollziehen und darauf Einfluss nehmen kann. Da werden Entscheidungen über den Kopf der Menschen hinweg gefällt. Das erinnert mich in der Tat an die Diktatur in der DDR.

Schoch: Man kann sich verweigern: Nicht im Internet bestellen, nicht mit Kreditkarte bezahlen, nicht in die sozialen Netzwerke gehen. Gleichzeitig wird diese Art von Ungehorsam bestraft. Wer medial nicht vorkommt, existiert heutzutage nicht. Man kann aber wenigstens Verwirrung stiften. Indem man zum Beispiel die eigene Biografie, wie sie im Netz erscheint, gezielt und paradox verändert, damit man die Hoheit darüber behält. Man muss am eigenen Geheimnis arbeiten, sich aktiv verdunkeln, so entgeht man vielleicht dem schrecklichen Zwang, gläsern zu sein.

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