Fernsehkommissar Derrick mit Polizisten im Wald, die Fototapete beim Zahnarzt, Sex zwischen entlaubten Bäumen, Gärgeruch nach der Apfelernte. Der Schriftsteller Andreas Maier beschreibt Stimmungen, die sein Leben prägten. Eva Sauer hat die Herbstwälder fotografiert
Andreas MaierMarkus Kirchgessner/laif
02.11.2014

Meine ersten Erinnerungen, so bilde ich mir stets ein, gehören dem Herbst. Immer wenn ich, dick eingepackt im Kinderwagen, von meiner Urgroß­mutter hinausgeschoben wurde, dann schob sie mich durch den Herbst, der mich damals umhüllte wie die Decke in meinem Kinderwagen. Als ich laufen lernte, war ebenfalls Herbst. Der Frühling und der Sommer, beide boten kein wirkliches ­Material, die beiden Jahreszeiten kamen mir, dem Kind, nicht entgegen.

Aber wenn es Herbst war, geschah Unfassbares, alles um mich herum veränderte sich, und man bedenke, dass der erste und zweite und dritte Frühling und Sommer für mich etwa so lang gewesen sein mussten wie eine jeweilige Unendlichkeit, die keine Vorzeit hat. Alles war grün, alles war einfach so da, und plötzlich, wie von Zauberhand, begannen, unmerklich und ähnlich wie während einer unendlichen Zeit­spanne, sich die Farben um mich herum zu ändern. Vor allem, und das war der hauptsächliche Unterschied zu Frühling und Sommer, konnte ich den Herbst greifen: Er kam mir, in Form des Laubes, das herabfiel, entgegen, als meinte er mich ganz persönlich.

Ich bin in einer Kurstadt groß geworden, überall um mich herum waren alte, mit verschiedenen Steinen, Keramiken und Mustern geschmückte Jugendstilbadehäuser, meine Urgroßmutter brachte mich oft zu den Gradierbauten, vor denen un­sere Kurgäste auf und ab spazierten, weil sie die dortige Luft verschrieben bekommen hatten. Und dann waren diese Wege, die sonst immer nur zum Gehen da waren, plötzlich voller Laub, Platanenlaub, Kastanienlaub, Buchenblätter, Linden, Birken.

Ich kannte die Bäume natürlich alle noch nicht dem Namen nach. Aber wie verwunderlich, als kleines Kind ein braunes, herabgefallenes Kastanienblatt in die Hand zu nehmen. Ich war ja selbst kaum viermal größer als dieses Blatt. Und etwas Röteres als die Weinblätter im Herbstlicht an den Flanken der Badehäuser hatte ich noch nicht gesehen. Dazu die dampfenden Sprudel unseres Sprudelhofs, und das erste Herbstbild meines Lebens ist komplett. So insgesamt symphonisch wie damals, als alles um mich voller Herbst, Licht und ­ voll von dieser eigenartigen Architektur meiner Geburtsstadt war, sollte es später freilich nie mehr werden. Und dennoch blieb der Herbst wie ein Urreiz zurück, auf den ich auch später ständig reagierte.

Aus meiner späteren Kindheit etwa blieben mir jene Fernsehfilme am meisten in Erinnerung haften, die im Herbst spielten. Meistens handelte es sich um Krimis, und meistens verschwanden irgendwelche Frauen. Wenn Polizeiwagen oder die Automobile der stets traurigen oder besonders bösartig triebgesteuerten Mörder durch eine Herbstlandschaft (und fast immer durch einen Herbstwald) fuhren, so schloss auch das sich für mich zu einem Bild zusammen.

Dazu natürlich die melancholische Ale­xan­dra Nefedow, die in einem irgendwie slawisch anmutendem Kostüm im deutschen Herbstwald kniete und von ihrem Freund, dem Baum, sang, der für mich ein Herbstbaum war. Und auch Ivan Rebroff, den meine Mutter inständig hörte, stand auf der Rückseite unserer Schallplatte „Mein Russland, du bist schön“ in russischer Winterkleidung an einem bereits entlaubten Baum und sang davon, dass, wenn Schwäne über die Taiga ziehen, also im Herbst, der Schlaf der Natur beginne. Das war meine zweite Herbststufe, die me­diale, bildmäßig aufbereitete, die somit et­was mit Frauenmord und Baumsterben und Prä-Winterschlaf-Mäßigem zu tun hatte.

Dann kam der deutsche Herbst. Nun fuhren nicht mehr Streifen­wagen durch deutsche Herbstwälder, sondern ganze Polizeibusse, und Terroristen fuhren mit deutschen Siebzigerjahreautos in die ­deutschen Herbstwälder und vergruben dort ihre Waffen, und wenn man als Nichtterrorist ebenfalls mit einem Pkw in den Herbstwald fuhr, um dort vielleicht gar nichts zu machen, dann konnte ebenfalls ein Polizeibus erscheinen, und man war ganz schnell auf dem Boden und von einer Handvoll Polizisten umringt, und das alles wie immer im Wald, der gelb und braun und tief war wie die deutsche Seele.

Monatelang geisterten diese Geschichten damals durch alle Köpfe. Ich war zehn. Seit damals verband ich tatsächlich den Herbst irgendwie mit dem Begriff Deutschland, mit dem ich aufgewachsen war, und selbst der Rhein nördlich von Bingen, ja überhaupt der vollkommenste Ausdruck unserer deutschen Seele dem Stereotyp nach, sollte seit da meiner Vorstellung nach immer ein Herbstrhein sein, um so deutsch wie möglich zu sein.

Ich hatte nun also die Stufe erreicht, die ich im Nachhinein immer als die Herbstkitsch-Stufe bezeichne, denn wenn ich in einen Herbstwald lief, assoziierte ich inzwischen allerlei anerlernte Bilder mit, von Ivan Rebroffs Pseudorussland bis hin zu den Bildern von der Beerdigung Ensslins, Raspes und Baaders. Selbst mein Zahnarzt hatte in seinem Wartezimmer eine Sieb­zigerjahre-Herbst-Fototapete an der Wand, was mich zu dem Gedanken führt, dass mein Herbst sowieso eigentlich immer in den siebziger Jahren stattfindet, auch wenn wir bereits das Jahr 2014 haben und unterdessen circa 40 Jahre vergangen sind. Die Herbstkitsch-Stufe sah so aus, dass ich im Herbst immer hinauslief, mich auf ­Bänke setzte, nicht selten auf Friedhofsbänke, und am besten dorthin, wo überall Laub war, das heißt, ich machte mich selbst zum Herbstgegenstand, das war in der Zeit der ersten Rollenfindung, ich war siebzehn, es existieren Fotos davon. Ich habe das damals gar nicht als Inszenierung wahrgenommen, eher als eine Zugeneigtheit meiner Person zur Jahreszeit Herbst.

Sex und Herbst

Seitdem, und das habe ich vielleicht dem Herbst der Herbstkitsch-Phase zu verdanken, weiß ich um die Janushaftigkeit der eigenen Person und dass es nichts in ihr gibt, was rein und einfach so und ohne Grund ist, und dass es andererseits ebenso falsch wäre, zu glauben, man habe seine Person im Sinne einer Inszenierung der eigenen Person irgendwann völlig selbst gewählt. Beides ist wohl untrennbar, in jedem. Seitdem war ich Herbstkind und Herbstkitsch in einem.

Später dann kannte ich Frauen, die unbedingt in Herbstwälder hinauswollten, um dort mit mir Sex zu haben, ein Gedanke, auf den ich vorher, ehrlich gesagt, nie gekommen wäre. Beim ersten Mal war das noch ziemlich überraschend, und da kapierte ich auch erstmals, wieso es in erotischen Magazinen immer mal wieder diese Ausflüge in den Herbst gibt, und auch die ganzen Herbst-„Derricks“ oder Herbst-„Der Kommissar“-Folgen oder son­stigen Filme, bei denen immer alsbald ­eine Frau fehlte, lassen sich hier natürlich subsumieren. Ich erlebte nun die sozu­­­sagen lebenszugewandte Kehrseite dieser Vorstellung.

Als ich dann erfuhr, dass nicht nur bei meinem Zahnarzt, sondern auch in deutschen Schlafzimmern überhaupt die Herbstwald-Fototapete eine Zeitlang massenhaft geklebt wurde, bekam also auch diese eigentlich ganz unverfänglich aussehende Tapete etwas ziemlich Aufge­ladenes. Sex und Herbst waren eine offenbar allfällige Kombination.
###autor###Später kam dann der Herbst in der Kunst. In meinem Zimmer hängt bis ­heute ein Fresko aus dem Adlerturm in Trient, auf der man eine Ernteszene sieht, vornehmlich Obst und insbesondere ­Trauben. In meiner Heimat, der Wetterau, waren es dagegen vornehmlich Äpfel. Eine Zeitlang habe ich nach Herbstbildern aus alten Stundenbüchern gesucht, etwa aus den Très Riches Heures du Duc de Berry, farb­lich gehört hierhin auch der Tod des Ak­taion von Tizian. Obgleich die Szene, glaube ich, gar nicht im Herbst spielt, trägt dieses Bild doch die vollkommene Ansammlung von Herbstfarben in sich.

Herbst, Rausch, Farben, das ist, wie man sieht, ebenso Wahrheit wie Klischee, vom Fototapeten-Sex über TV-Mord bis zur opulenten Farbpalette großer Maler, aber vor allem trägt für mich heute zur Rauschhaftigkeit des Herbstes weniger die Kunst als vielmehr das Obst bei, das, kaum ist es geerntet, mit dem Gärungsprozess anfängt, also mit der eigenen Verwesung. Wenn der kalendarische Herbst beginnt, ist bei uns zu Hause Apfelernte, und es dauert kaum ein paar Tage, bis aus dem Süßen, so nennen wir den frischgepressten Saft, Rauscher geworden ist.

Rauscher, das ist ein sprechender Name für ein Herbstgetränk, übrigens hieß der erste Apfelweinwirt meines Lebens Erwin Rausch – er betrieb die „Schillerlinde“ in Friedberg in der Wetterau. Der Gärgeruch zieht dann in die Wirtsstube ein, alle sind herbstlich berauscht, und die Natur wird damit ins Inwendige gezogen, sie landet im Glas und schließlich im Körper und zieht diesen mit hinein in den Prozess. Da ich nun selbst im Spätsommer meines Lebens bin, denke ich inzwischen, indem man sich portionsweise dieses Sterben zufügt, nämlich in Form der zu Alkohol vergorenen Frucht, kann man dieses Sterben besser ertragen, weil man schon längst begriffen hat, dass man bereits ein Teil von ihm ist. Mein geburtsbehinderter Onkel J. liebte vor allem das: durch die Herbstnatur in die Wirtschaft spazieren und dort Apfelwein trinken. Das war seine umfassende Herbsttätigkeit, bis zu seinem Tod, und auch hierin beginne ich ihn immer mehr zu begreifen.

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