In der Masse, im Meer ist Plankton einfach nur Walfutter. Interessant wird es erst, wenn man es genauer anschaut. Das machte der Schriftsteller Walter Kempowski mit den Erinnerungen und Geschichten anderer Menschen. Als er starb, sammelte seine frühere Mitarbeiterin weiter und veröffentlichte nun sein nachgelassenes Buch „Plankton“. Was bedeuten Erinnerungen für unser Leben? Fragen an Simone Neteler
30.07.2014

chrismon: Frau Neteler, die Vergangenheit ist die einzig wahre Zeit, hat Ihr eins­tiger Arbeitgeber Walter Kempowski gesagt.

Simone Neteler: Im Zentrum von Walter Kempowskis Arbeit stand die Vergangenheit. Gleich-
zeitig wandte er sich aber auch der Zukunft zu. Er war technikaffin, schon früh mit dem Computer vertraut und er scheute keine literarischen Experimente. Seine Vorstellung von der Rolle eines Autors, seine Suche nach neuen Formen von Literatur – das alles war visionär. Doch sein gesamtes Schaffen war von der Erkenntnis geleitet, dass die Vergangenheit die einzige Zeit ist, die es wirklich gibt. Und die es lohnt zu betrachten und festzuhalten.

Welche Vergangenheit? Gedanken, Gefühle, Geschichten, Erkenntnisse, Begegnungen?

Ja, all das! Die persönliche Vergangenheit gehört zu jedem Leben dazu. Sie wird quasi wieder lebendig, wenn ich mich an Einzelnes erinnere und beginne, davon zu erzählen. Vielleicht ist die Erinnerung, von der ich berichte, getrübt oder verklärt, ausgeschmückt oder reduziert. Doch das, was wir erinnern und von dem wir be­richten, ist unser Leben – nicht der gewesene Moment! Der ist nur ein flüchtiger Augenblick.

Müssen wir unsere Erinnerungen er­zählen?

Das gehört zum Menschen. Eine Musik, ein Geruch, eine Farbe – all das kann unsere Erinnerung wecken. Das Gehirn zieht seine Schubladen auf. Unser Miteinander funktioniert über Kommu-
nikation. Und Kommunikation heißt Fortsetzung, nicht Stillstand.

Was bringt uns das Reden?

Wir lernen einander besser kennen. Für Walter Kempowski war das Allerpriva­teste auch das Allgemeinste. Das heißt so viel wie: Was dem Einzelnen widerfährt, ist exemplarisch für eine ganze Gene­ration oder sogar für die Menschheit an sich.

Er sprach vom kollektiven Gedächtnis.

Er hat den Aussagen und Berichten von Zeitgenossen große Wertschätzung entgegengebracht. Das kollektive Gedächtnis setzt sich aus Einzelerinnerungen zusammen. Diese zusammenzutragen und zu bewahren, war ein wesentliches Element von Kempowskis Arbeit.

Auch wenn es sich um schmerzhafte Erinnerungen handelt?

Glück oder Freude zu empfinden ist ohne die Kenntnis des Schmerzvollen kaum möglich. Sämtliche Erfahrungen der Vergangenheit machen unser Leben aus, daraus bildet sich unsere Identität.

Warum sind Demenzkranke so unruhig?

Manche Altersheime stellen im Flur Bus­häuschen auf, damit sich die Kranken dorthin setzen und auf die Abfahrt warten können. Das beruhige sie, sagen die Fachleute. Weglaufen wollen heißt vielleicht auch, hinlaufen zu wollen. Wir hatten eine an Demenz erkrankte Tante für einige Zeit bei uns im Haus. Ihre Kindheit war ihr sehr präsent. Sie wollte zurück in das Dorf, in dem sie damals gelebt hatte. Wo die Stallungen seien, fragte sie einmal. Bestimmte Reizwörter und Eindrücke weckten ihre Erinnerung. Sie lebte nicht nur in der ­Gegenwart, ihre Vergangenheit war sehr präsent.

„Haben Sie Hitler gesehen?“

Kempowski hat auch mit Reizwörtern ­gearbeitet. Vor allem: „Hitler“.

Auf seine Frage „Haben Sie Hitler gesehen?“ haben verständlicherweise nur Angehörige älterer Generationen geantwortet. In den Reaktionen spiegelte sich Triviales genau so wie pures Grauen, Einsichtslosigkeit und auch Vorausschauendes.

Kempowski befragte rund 50 Jahre lang Menschen, die er kannte oder denen er auf der Straße, im Zug oder im Hotel zufällig begegnete. Er stellte immer wieder die gleichen Fragen und sammelte Antworten. Seine Sammlung nannte er „Plankton“. Warum der Titel?

Der Begriff stammt aus der Biologie und steht für die kleinen Lebewesen im Wasser, die wir mit bloßem Auge kaum sehen können. Betrachtet man aber einen Wassertropfen unter dem Mikroskop, entdeckt man die Lebendigkeit und Schönheit dieser Organismen. Übertragen auf die Sammlung bedeutet ­dies: Die hier zusammengestellten unzähligen Erinnerungsbilder der befragten Menschen sind in sich geschlossene Kleinstgeschichten, die beim Lesen ihren Wert entfalten.

Und Kempowski war wie ein Wal, der besonders viel Plankton aufnahm?

War er unterwegs, hatte er stets etwas zu schreiben dabei. Er nutzte jede Gelegenheit, um mit Menschen ins Gespräch zu kommen. Er fragte nach der Kindheit, den Eltern, Großeltern, nach Kriegserfahrungen, dem Wiederaufbau oder Mauerfall. Aber er stellte auch ganz persönliche Fragen wie: Was war Ihre erste Erinnerung? Oder: Was ist Ihr liebstes Spielzeug gewesen? Haben Sie schon einmal in einem Stau gestanden? Kennen Sie ein Gedicht auswendig? Haben Sie
einen Prominenten gesehen? Die so gewonnenen Erinnerungs­kristalle, wie er sie nannte, wurden verschriftlicht und ergeben in seinem Buch ein Panorama der Erinnerungskultur in unserer Gesellschaft. Eine Lese­rin schrieb uns neulich, man möchte gar nicht wieder aufhören zu lesen. Das Buch habe sie völlig in seinen Bann gezogen.

Die Antworten sind aber manchmal banal.

Erst einmal sind sie spontan und direkt, zugleich enorm vielfältig. Kempowski bewertet nicht. Jede abgefragte Erinnerung findet ihren Platz. Darüber hinaus bin ich als Leserin immer wieder mit meinen eigenen Erinnerungen beschäftigt. Das Buch weckt sie.

Kempowski fragt auch: Welches Verhältnis haben Sie zur Religion?

Eine der intimeren Fragen. Ich habe auf Walter Kempowskis Wunsch selbst Leute befragt und festgestellt, dass manche ­Menschen hier einer Antwort konsequent ausweichen.

Kempowski hat auch nach einem Bibelzitat gefragt.

Nahezu alle kannten Zitate biblischen ­Ursprungs, wenn auch oft nicht korrekt, sondern in freier Interpretation.

"Erinnerungen bestimmen unser Denken"

Wie gelang es Kempowski, Menschen so verlässlich zum Reden zu bringen?

Es lag an seiner Offenheit. Er hat immer wieder berichtet, dass die meisten Befragten ihm gern geantwortet haben. Ja, sie genossen das entgegengebrachte In­teresse an ihren Erinnerungen und damit an ihrer Person. Sie haben sich ernst genommen gefühlt. Sie haben gemerkt, dass er ihre Antworten wie Andenken mitnahm.

Hat das auch bei Ihnen eine Rolle ge­spielt? Schon als Teenager haben Sie Kontakt zu Kempowski aufgenommen und ihn mit 17 zu sich nach Hause eingeladen.

Das war 1984. Mein Vater hatte mir „Tadellöser & Wolff“ empfohlen. Ich war so beeindruckt! Und da habe ich Walter Kempowski geschrieben, dass ich mich mit ihm, einem echten Schriftsteller, unterhalten möchte. Alle haben gesagt: Der kommt nicht. Eltern, Lehrer, Schulkameraden. Aber dann rief er an und fragte, ob ich denn das Honorar bezahlen könne. Das spielte dann später keine Rolle mehr, er kam im eigenen Auto und blieb den ganzen Nachmittag. Diese erste Begegnung gehört zu meinen auf­regendsten Erinnerungen. Und: Ja, ich habe mich auch ernst ge­nommen gefühlt.

Worüber haben Sie sich unterhalten?

Wir redeten über die Arbeit eines Schriftstellers, über sein Archiv und so weiter. Später entdeckte er im Regal meine ersten Kinderschuhe, die ich bis heute als Erinnerung aufbewahre. Er nahm sie in die Hand und sprach darüber, wie sehr Erinnerungen unser Denken bestimmen. Wie Dinge Gedächtnisstütze sein können, um scheinbar Vergessenes wieder ins Bewusstsein zu holen. Seit diesem Tag führe ich Tagebuch.

Das sind mehrere Bände.

Ich bin froh, dass ich sie habe. Denn wenn ich sie zur Hand nehme, tut sich jedes Mal ein Teil meines Lebens vor mir auf.

Erinnerungen sind der Kitt ­zwischen Menschen?

Wenn wir sie uns erzählen, verbindet sich das eigene Schicksal mit den Schicksalen anderer. Da schließen sich Kreise, wachsen wir zusammen. Da wird auf einmal klar: Alle sind mit allen verbunden. Das ist es, was Walter Kempowski meinte, als er sagte: Das Aller­privateste ist auch das Allgemeinste.

Auf die Idee, Stimmen zu sammeln als Erinnerung, kam er 1950, als er in der DDR im Zuchthaus Bautzen über den Gefängnishof geführt wurde und dort ein Brummen wahrnahm, ein eigenartiges Summen, wie er sagte. Es waren die Gespräche anderer Gefangener. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass das alles verschwinden würde, wenn man es nicht schriftlich festhält.

Man könnte sagen, das war Zufall. Man könnte es aber auch Schicksal nennen. Wie auch immer: Es hat sein Leben bestimmt.

Später, wieder in Freiheit im Westen, hat er seine Mutter pausenlos befragt. Dadurch sind seine Romane entstanden.

Er sagte immer, ohne die Erzählungen seiner Mutter hätte er die Romane der „Deutschen Chronik“ nicht schreiben können. Es waren ihre Erinnerungen, die er als Quelle nutzte und literarisch verdichtete.

Dass alles so gekommen ist...

Glaubte er an Gottes unerforschlichen Ratschluss?

Davon gehe ich aus. Er betonte, dass er ohne seine Haftzeit nie Schriftsteller geworden wäre. Manchmal sagte er ein wenig amüsiert und erstaunt: Dass alles so gekommen ist...

Viele Schriftsteller arbeiten in ihren Werke die Vergangenheit auf. Der Literaturexperte Andreas Isenschmid vermutet, 90 Prozent eines Lebens fänden unterirdisch statt. Ein guter Biograf erreiche davon höchstens 30 bis 40 Prozent.

Den Begriff unterirdisch finde ich treffend. Schließlich machen uns unsere Erlebnisse zu dem, was wir sind. Aber manche gewesenen Momente möchten wir mehr festhalten als andere. Sie sind uns näher, wichtiger, möglicherweise auch sympathischer. Darüber sprechen wir dann lieber als über die, die mit Schuldgefühlen oder vermeintlichen Peinlichkeiten verbunden sind. Die holen wir selbst eher nicht ans Tageslicht zurück.

Für das Projekt „Plankton“ nutzt der Knaus Verlag auch das Internet und bietet Lesern an, bei der kollektiven Geschichtsschreibung mitzuwirken. Wird das angenommen?

Ja, unbedingt. Die Planktonmasse im Internet wächst stetig. Jeder kann mitmachen und bis zu zehn Fragen aus dem Kempowski-Fragebogen beantworten. Wem dazu der Mut fehlt, dem sei das Buch „Plankton“ empfohlen. Die Webseite verwirklicht eine Kempowski-Idee aus einer Zeit, als das Internet solche Möglichkeiten noch nicht bot. Da blitzt einmal mehr das Visionäre an Kempowski auf.

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