Lutz Widmaier
Die französische Deutsche
Als Kind hörte Beate Langenbruch von der Widukind-Sage. Heute lehrt sie, dass Deutsche und Franzosen gemeinsame Wurzeln haben – an der Uni in Lyon
Tim Wegner
17.07.2014

Manchmal kochte mein Vater französisch für uns in Bad Oeynhausen, Ostwestfalen. Im Hinter­grund lief Musik von Jacques Brel. Es war keine Frage, dass ich Französisch in der Schule belegen würde. Ich hatte Glück mit meinen Lehrern, besonders mit Dr. Bensiek im Leistungskurs. Wir haben Klassiker im Original gelesen, ohne Vo­kabelhilfe. Mit dem Schüleraustausch kam ich nach Avranches in der Normandie. Am besten erinnern kann ich mich an unseren Ausflug zur Abtei Mont-Saint-Michel. Meine erste Begegnung mit französischem Mittelalter – und eine beeindruckende Landschaft.

Der Erste Weltkrieg - ein französisches Trauma

Meine Schulzeit war sehr geprägt von der Aufarbeitung des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges. Ich war sehr überrascht, wie präsent die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg in Frankreich war, als ich Mitte der Neunziger nach Rouen in die Normandie kam. Ich hatte mein Grundstudium in Romanischer Philologie in Münster hinter mir. Für ein Jahr ging ich als Fremdsprachenassistentin an eine französische Schule. Ein Lehrer – übrigens mein erster französischer Freund – forderte die Schüler auf, Feldpost von Familienangehörigen, die im Ersten Weltkrieg gekämpft hatten, mit in den Unterricht und zur jährlichen Gedenkzeremonie am 11. November zu bringen. Ich war erstaunt, dass es in so vielen Familien noch Briefe gab: Der Erste Weltkrieg war ein echtes nationales Trauma, er war ja auch auf französischem Boden ausgetragen worden. Jedes Jahr Anfang Sep­tember machte das Fernsehen Interviews mit den letzten noch lebenden Veteranen. Die Leute fragten mich, wie viele Veteranen es noch in Deutschland gebe – aber ich war außerstande, diese Frage zu beantworten. Inzwischen sind alle tot, und deswegen war die Idee mit der Feldpost so gut: Das Schulfach Geschichte wurde zur Familiengeschichte.

Ich bin nie mehr nach Deutschland zurückgegangen. Heute unterrichte ich, nach 16 Jahren in der Normandie, die französische Literatur des Mittelalters an der École normale supérieure de Lyon, einer „Grande école“ und Eliteuni. Meine Studenten finden es schon komisch, dass eine Deutsche vor ihnen steht, die mehr über die Wurzeln der französischen Sprache und Literatur weiß als sie selbst. Mit dem Altfranzösischen tue ich mich sogar leichter als die Franzosen. Weil ich mich mit dem Mittelalter beschäf­tige, ist mir bewusst, dass die Erbfeindschaft im 19. und 20. Jahrhundert nur ein kurzer Teil unserer Geschichte ist. Die gemeinsamen Wurzeln reichen viel weiter zurück.

Widukind, der unbekannte Gegenspieler von "Charle­magne"

Unsere Oma hat meiner Schwester und mir die Geschichte von Widukind erzählt. Der Sage nach tat sich die Widukind-Quelle bei Bad Oeynhausen auf, als der Sachse Widukind Gott um ein Zeichen bat. Sollte er weiter gegen Karl den Großen kämpfen? Oder sollte er sich zum Chris­tentum bekehren und sich geschlagen geben? Die heutigen Franzosen kennen zwar Charle­magne, aber kaum seinen Gegenspieler Widukind. So habe ich mein Dissertationsthema aus dem gemacht, was mir früher meine Oma erzählt hat. Es war lustig, in der französischen Literatur Spuren von dem zu entdecken, was ich als Kind schon gehört hatte – in Deutschland.

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