Foto: Vlad Sokhin, Agentur Focus
Verschleppt, verkauft, gerettet
Ein Genforscher hilft, den Handel mit Kindern zu bekämpfen. Wie? Er identifiziert die wahren Eltern. Dafür braucht er eine Gendatenbank und Speichelproben von suchenden Eltern und Kindern in unklaren Verhältnissen. Schon 600 Kinder konnten mit Hilfe von José Antonio Lorente nach Hause gebracht werden
Foto: Privat
05.03.2014

chrismon: Am Projekt DNA ProKids nehmen bislang 16 Länder teil. Mit Gentests wollen Sie nicht identifizierte Kinder und ihre Eltern wieder zusammenführen – und Kinderhandel und Missbrauch bekämpfen. Wie gehen Sie vor?

José Antonio Lorente: Wir haben vor zehn Jahren in Guatemala begonnen. Dort gab es ein eklatantes Problem mit ille­galen Adoptionen in die USA. Ich hatte das selbst mitbekommen, in einem der internationalen Hotels, wo ich immer abstieg. Es war voller Adoptiveltern aus den USA und kleinen guatemaltekischen Kindern, die mit Hilfe einer Dolmetscherin in dem Hotel ihre erste Zeit miteinander verbrachten. Die allermeisten Kinder waren armen Familien gestohlen worden. Falsche Mütter gaben sie in staatlichen Heimen ab. Sie sagten, sie könnten ihr Kind nicht ernähren und bekamen dann, um die restlichen Kinder nicht auch zur Adoption freigeben zu müssen, eine Entschädigung, eine Familienhilfe von mehreren Tausend Dollar. Das hat dazu geführt, dass organisierte Banden Kinder stehlen, um dieses Geld einzukassieren. Würde man per Gentest direkt vor Ort feststellen, dass eine Frauen nicht ihr leibliches Kind abgibt, wäre der kriminelle Kreislauf unterbrochen. Kinder am Anfang der Kette zu identifizieren, ist wichtig, weil ein einmal adoptiertes Kind später nur noch schwer rückführbar ist. Stellen Sie sich einen Jugendlichen aus Seattle vor, der zu seinen Eltern in die Slums von Guatemala Stadt zurück soll!

Sie verteilen Gentest-Sets, die einfach zu handhaben sind. Wie effektiv setzen Länder wie Guatemala, die Philippinen, Mexiko oder China sie ein?

Das hängt von den Politikern ab und vom Bewusstsein in der Gesellschaft. Um in einem Land aktiv zu werden, brauchen wir eine relative politische Stabilität, zumindest für die kommenden zwei Jahre, und wir brauchen Verbündete in der Regierung. Dazu müssen wir mit der Polizei, mit Ärzten, Sozialarbeitern und Aktivisten zusammenarbeiten. Persönliche Kontakte sind außerordentlich wichtig. Deshalb reise ich sehr viel. Am ernsthaftesten betreibt Guatemala die Sache. Das Land hat 2010 als Erstes der Welt ein Gesetz erlassen, in dem systematische Genanalysen bei elternlosen Minderjährigen vorgeschrieben sind, ein großer Schritt.

Wo funktioniert das nicht so gut?

In Haiti zum Beispiel. Wir haben zwar ein Abkommen, aber im Ernstfall wird nichts getan. Nach dem schrecklichen Erdbeben von 2010 gab es viele Kinder, deren Eltern verschwunden waren. Sie wurden versorgt, aber nicht genetisch erfasst. Dabei macht es wirklich keine Mühe, einem Kind ein Glas Wasser zu geben und danach eine Speichel- oder Blutprobe abzunehmen. Wir hatten über die spanische Botschaft darauf gedrängt, dass diese Kinder erfasst werden. Doch es geschah nichts. Der Verwaltung fehlte das Bewusstsein. Das Resultat ist, dass heute unglaublich viele haitianische Kinder außer Landes leben. Sie wurden Opfer von Schlepperbanden, die mit ihnen Geschäfte machen, meistens mit illegaler Adoption, aber auch mit sexueller Ausbeutung in den Tourismusregionen der Dominikanischen Republik und der Karibik. Das Schlimmste ist, dass das in Haiti völlig straffrei bleibt. Die Kriminellen ­fälschen Papiere, verkaufen Kinder, können mit ihnen machen, was sie wollen. Sexsklaven in der Karibik. Auch deutsche Urlauber bedienen sich dort. Natürlich, wir Europäer halten das System mit Sextourismus und Kinderarbeit aufrecht. Wenn es plötzlich keine Kinder­arbeit mehr gäbe, stürzten wir in eine ­tiefe Konsumkrise. Der Kapitalismus basiert auf Ausbeutung. Unser Kleiderschrank ist voll, weil bei der Fabrikation Kinder gequält wurden. Unsere Komplizenschaft ist ein riesiges Problem.

Wiedersehensszene im Kinderheim von Guiyang, China. Foto: Xinhua, images.de

Wie viele Kinder konnten Sie schon mit ihren Familien zusammenbringen?
Wenn wir alle Länder zusammenrechnen,  haben wir mittlerweile rund 10 000 Daten erfasst, 6000 von Kindern und 4000 von Eltern, deren Kinder verschwunden sind. Vereint wurden davon etwa 600 Familien, die meisten davon in Guatemala, aber auch in Mexiko, auf den Philippinen und in Brasilien.

###mehr-extern###Die Internationale Arbeitsorganisation schätzt, dass weltweit 5,5 Millionen Minderjährige Opfer von Menschenhandel sind. Da sind 600 rückgeführte Kinder sehr wenig. Welche Hindernisse stellen sich Ihnen in den Weg?
Das ist ein langsamer Prozess. Man muss die Verwaltung von der Effek­tivität überzeugen, Resultate vorlegen. Und man muss die in der Gesellschaft herrschende Toleranz bekämpfen. In vielen Ländern nehmen Eltern das Verschwinden eines Kindes als Schicksalsschlag hin. Sie kennen das Problem seit Generationen und sehen es so, wie wir einen Autounfall sehen, als tragisches Unglück. Nicht immer gehen sie zur Polizei. Und vielen Ländern fehlen die Mittel, um organisierte Kriminalität zu verfolgen. Sehen Sie, in Spanien herrscht Korruption. Warum? Weil der Staat bis heute nicht fähig ist, sie zu bekämpfen und weil man sie jahrelang allgemein geduldet hat. Die Welt hat ein Problem mit Computerkriminalität. Warum? Die Verbrecher sind ihren Verfolgern immer einen Schritt voraus. Dieselben ­Probleme haben viele Länder mit illegalem Kinderhandel.

Warum arbeiten Sie mit keinem afrikanischen Land zusammen?

Weil wir dort wenig Kontakte haben und oft auf kulturelle und politische Hindernisse stoßen. In Schwarzafrika verschwinden viele Kinder, aber Stammesgemeinschaften lehnen unsere Tests oft ab. Für sie ist eine Speichelprobe unmoralisch, eine Blutabnahme kann ein Tabu sein. Dort brauchen wir Vermittler, Vertrauensleute. Überdies ist in vielen Ländern die Situa­tion so unstabil, dass es keinen Sinn macht, eine Datenbank anzulegen. In vielen afrikanischen Ländern droht Kindern Ausbeutung, das wissen wir. Erste Projekte stehen für 2015 auf unserer Agenda.

Und in Konfliktländern wie Syrien?

Dort sind viele Kinder völlig schutzlos. Wenn wir keine Reisesicherheit haben, können wir nichts unternehmen. Es ist unsinnig, unser eigenes Leben zu riskieren.

Mit den eigenen Eltern unterwegs oder entführt? Rotkreuzhelfer bargen dieses Baby 2005 aus einem Flüchtlingsboot. Foto: action press/ALFAQUI S.L.

In welchen Ländern ist das Leben für ­Kinder am gefährlichsten?

Länder zu nennen ist für mich schwierig, weil dann der Botschafter anruft und sich über den Imageschaden beklagt. Sagen wir es so: Wir konzentrieren unsere Arbeit auf die Re­gionen, wo Kinderhandel mit System betrieben wird. Wo es an der Tagesordnung ist, dass ein Kind verschwindet. Wir arbeiten besonders viel in Zentralamerika. Großer Bedarf herrscht in Peru und Bolivien, im Grenzgebiet von Vietnam, Laos und Kambodscha und in Indien, in Nepal und auf den Philippinen.

"Systematische, konkrete Hilfe gab es bislang keine"

Ist ein Kind überall gleich viel wert?

Ich möchte denken, dass das so ist. Obwohl es kulturelle Unterschiede gibt, von den materiellen Umständen ganz zu schweigen. Für uns ist jedes Kind gleich viel wert, egal ob es in Europa oder in Ostasien lebt. Hier leben Kinder natürlich viel sicherer, obwohl auch in Europa ­Kinderhandel betrieben wird, in Ländern, die ich nicht nennen kann. Überall, wo der Rechtsstaat nicht greift, wo Polizisten und Grenzbeamte korrupt sind und wo den Tätern keine Strafe droht, wird mit Kindern Geld gemacht.

Wie schaffen Sie es, den Kontakt zu Ihren Partnern weltweit zu halten?

Ich reise seit zwanzig Jahren in viele Länder der Welt, um dort der Polizei beim Aufbau von Gentestlabors zur Verbrechens­bekämpfung zu helfen. Das habe ich Anfang der 90er Jahre in der ­FBI-Akademie in den USA gelernt. Ich war dort mit einem Stipendium der Vereinten Nationen. Die Methode war damals recht neu, viele Länder schickten Polizisten zur Fortbildung in die Akademie. Dort lernte ich die Leute kennen, die heute in unser Projekt involviert sind. Sie schicken einmal im Monat eine E-Mail mit Neuigkeiten und Daten.

Papst Franziskus hat Sie um Hilfe gebeten. Er will die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen bekämpfen. Im November waren Sie im Vatikan.
Der Papst hat Vertreter der Europäischen Union, der Vereinten Nationen, der Internationalen Organisation für Migration und verschiedener NGOs nach Rom zu einer ­Tagung eingeladen. Wir haben zum Beispiel beschlossen, dass man in den zentralamerikanischen Ländern alle Kinder, die nach Norden und nach Süden über die Grenze gebracht werden, systematisch genetisch testen soll. Ein Blick in den Pass reicht hier nicht, denn er ist oft gefälscht. Und wir wollen Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen und Missionare einbeziehen. Die arbeiten in ländlichen Gegenden, die Familien vertrauen ihnen. Es ist nicht immer leicht, Menschen von der Bedeutung einer Genanalyse zu überzeugen.

Wie haben Sie den Papst erlebt?

Er ist ein einfacher, zugänglicher Mensch, er ist mutig und hat klare Vorstellungen. Er hat keinen Tross von Menschen um sich, die ihn abschirmen, wie das hier in Spanien jeder Bürgermeister hat. Er hat uns im Gästehaus untergebracht, wo er selbst wohnt. Dort saßen wir beim Essen zusammen. Ich konnte mit ihm einige interessante Gespräche führen. Und er ist jemand, der die Dinge angeht. Wie viele versklavte Kinder gibt es auf der Welt? Millionen. Wie können wir es schaffen, dass es morgen tausend weniger gibt, und übermorgen noch einmal tausend weniger? Darüber haben wir gesprochen. Der Papst weiß, dass das Problem groß und komplex ist. Deshalb sucht er keine gro­ßen Lösungen, sondern den Anfang einer möglichen Lösung. DNA ProKids ist so ein Anfang. Die meisten internationalen Organisationen stellen Papiere zusammen, legen Studien an und erklären das Phäno­men des Kinderhandels. Dabei bleibt es dann. Systematische, konkrete Hilfe gab es bislang keine.

"Mich interessieren Fälle, wo Leid zu Leid kommt"

Li Hupeng wurde 2002 an eine Familie in einer anderen Provinz verkauft. 2004 brachte ihn die Polizei wieder heim. Foto: Didier Ruef, Visum
Sie sind Katholik. Hat der Papst Ihr Vertrauen in die Kirche bestärkt?

Er hat mich beeindruckt und, ja, er hat mein Vertrauen in die Institution ­gestärkt. Seit meinem Besuch denke ich: Wenn ein Mann wie er der Kirche vorsteht, dann lohnt es sich, sie zu unterstützen.

Warum machen Sie das alles?

Ich bin ein praktisch veranlagter Mensch. Alles, was ich tue, soll eine direkte Anwendung haben. Die Arbeit an der Uni, die Forschung am Institut und das ehren­amtliche Engagement schaffen ein Gleichgewicht in meinem Leben. Unser Kinderprojekt adelt die Wissenschaft. Ich könnte auch zu Krankheiten forschen, die Wohlstandsmenschen haben, weil sie zu viel Fleisch essen. Aber mich interessieren die Fälle, wo Leid zu Leid kommt, Traurigkeit zu Traurigkeit. Ich glaube zum Beispiel nicht, dass dieses britische Mädchen, Madeleine McCann, das vor ein paar Jahren in Por­tu­gal verschwunden ist, Opfer von Schlepper­banden wurde. So etwas passiert nur armen Familien, deren Eltern in einer Fabrik oder auf dem Feld ausgebeutet werden und dabei zu wenig verdienen, um ein würdevolles Leben zu führen. Und dann wird ihnen auch noch ein Kind gestohlen.

Sprechen Sie selbst mit den Familien?

Selten, ich vermeide das, auch bei einer Wiedervereinigung war ich noch nie dabei. Da bin ich viel zu sentimental. Manchmal, wenn ich vor Ort bin, wollen mir ­Eltern danken. Einmal bekam ich von ­einer guatemaltekischen Familie, deren kleine Tochter wir zurückgebracht hatten, ein selbstgemachtes Püppchen. Die Frau war keine Kunsthandwerkerin, es war wirklich sehr einfach. Das Püppchen hielt ein noch kleineres Püppchen in den Armen. Als ich es bekam, war ich sehr gerührt.

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