Leona Goldstein
Die Auserwählten
Wie erleben Flüchtlinge den Weg aus dem Bürgerkrieg an einen Ort, wo die Farbe der Couchbezüge zu ihren größeren Sorgen zählt? Ein Reporter und eine Fotografin besuchten regelmäßig eine somalische Familie aus Libyen, die irgendwann das große Los zog: Sie wurde in Deutschland aufgenommen
30.01.2014

Berlin-Marienfelde, September 2013. Ihre Wohnung ist langsam kein fremder Ort mehr für sie. Eine riesige Couch steht jetzt im Wohnzimmer, eine noch leere Regalwand, ein Tisch, ein silbernes Serviertablett mit kleinen Gläsern. Es gibt WLAN. Alles ist sauber, der Teppich frisch gesaugt. Das gefällt Abubaker Ali Osman. Nur die Farben der Couch, die gefallen ihm nicht. „Sie passen nicht zum Rest“, sagt er und zeigt umher. Teppich, Tapeten, alles ist in Blautönen gehalten. Die geschenkte Couch ist bunt. Und ein neuer Bezug ist teuer. Abubaker hat sich erkundigt. Zwei Jahre nach ihrer Flucht vor Chaos und Tod, vor Bomben und Milizen, ist im Leben der Osmans wieder Platz für Nebensächlichkeiten.

Zwei Jahre sind eine kurze Zeit für den Weg aus dem Krieg an einen Ort, an dem Abubaker an Couchbezüge denken kann. Die Familie Osman, Abubaker und Saado, ihre Kinder Asma, Mohamed, Ahmad, Mursin, Asla und Aayah wurden gerettet als eine Familie unter Tausenden. Sie zogen das große Los in einer Lotterie um eine neues Leben, eine Tombola mit wenigen Gewinnern, in der Gesundheit und Bildung zählen – alles, was die Wahrscheinlichkeit erhöht, dem Gastland nicht zur Last zu fallen. Eine Tombola, in der es aber auch eine Unzahl an Zufällen gibt, die darüber entscheiden, ob man heute in einer Sieben-Zimmer-Wohnung in einem ruhigen Berliner Außenbezirk lebt, Sozialleistungen bekommt und die drei ältesten Kinder bald auf die Universität schicken kann. Oder in einem Flüchtlingscamp in der tunesischen Wüste, aus dem sich alle Hilfsorganisationen vor drei Monaten zurückgezogen haben, zermürbt von der Hitze, bedroht von Tuberkulose, angewiesen auf Almosen. Oder auf einem sizilianischen Friedhof begraben liegt, als einer der Tausenden Papierlosen, die seit dem Arabischen Frühling im Mittelmeer ertrunken sind.

Ein Erinnerungsfoto aus Lybien, Abubaker arbeitete dort an der Uni.
 
Heute hat die Familie eine große Wohnung.
Die letzte eigene Wohnung der Familie lag auf dem Gelände der Fakultät für Ingenieurwesen an der Universität von Hun, im Norden Libyens. Abubaker, 1958 im Süden Somalias geboren, kam 1985 dorthin. Er hatte zuvor Elektrotechnik in Mogadischu studiert, in Libyen fand er Arbeit als Laborwissenschaftler. Drei Jahre später kehrte er nach Somalia zurück und hei­ratete Saado Haji Abdirahhman. Abubaker war 30, sie 19, das Paar zog nach Libyen und blieb dort. Ihre sechs Kinder wurden geboren und wuchsen in der kleinen Wohnung auf dem Universitätscampus auf.

Heute beginnen die drei ältesten selbst zu studieren. Medizin, Elektrotechnik und Ingenieurwesen.


Libyen, Frühjahr 2011. Nach den Revolutionen in Ägypten und Tunesien erheben sich auch hier die Menschen gegen den Diktator Muammar al-Gaddafi. Als führende Militärs in das Lager der Rebellen  wechseln, bricht ein offener Bürgerkrieg aus. Einen Monat später billigt der UN-Sicherheitsrat Militärschläge gegen Libyen. Am 19. März beginnen Frankreich und Großbritannien ihre Bombardements. In den nächsten fünf Monaten fliegen die Allierten 7 587 Luftangriffe. Einen Teil ihrer Bomben werfen sie über Hun ab.

„Die Flugzeuge kamen immer nachts,“ sagt Abubaker. „Die Universität liegt in der Nähe einer Militäranlage.“ Nachts war Krieg, tagsüber wurde er ignoriert – so verlangte es das Regime. „Wir mussten weiter im Labor arbeiten, aber das war reine Propaganda. Die Regierung wollte an der Normalität festhalten,“ sagt Abubaker. Doch diese Normalität gab es nicht mehr. Und auch kein Geld. Im Mai konnte die Universität keine Löhne mehr bezahlen. Abubaker hatte Geld gespart, er mietete eine Wohnung in der Innenstadt. Dort verbrachten sie die Nächte. „Wir wollten so weit weg von den Militäranlagen sein wie möglich.“
Angst hatten sie trotzdem. Der Weg von und zur Universität war gefährlich. „Die Rebellen machten Jagd auf Schwarze. Man wusste nie, was auf der Straße passieren würde.“ In der abendlichen Nachrichtensendung auf Al-Jazeera brüsteten sich Rebellen damit, Schwarze, angeblich Söldner Gaddafis, wie Hunde getötet zu ­haben. „Die Moderatoren haben nichts dazu gesagt“, sagt Abubaker. Benzin wird knapp, auch das Gas zum Kochen, das Wasser. „Alles wurde immer teurer. Am Ende gab es fast nichts mehr“, sagt Mohamed.

Es gibt keinen Plan - Hauptsache raus aus diesem Krieg

Die Osmans entschließen sich zur Flucht. Libysche Freunde beschaffen ihnen ein Auto, im Morgengrauen des 13. August fahren sie los. 15 Stunden dauert die Fahrt bis zur tunesischen Grenze bei Ras Ajdir, vorbei an den vielen Checkpoints der Rebellen, an denen ihre Reise hätte vorbei sein können. „Wir hatten Glück“, sagt Abubaker. Mehr nicht. Es gibt keine Vorstellung, keinen Plan. Hauptsache weg, raus aus Li­byen, raus aus diesem Krieg. Die Osmans entkommen ihm, elf Tage bevor die Alli­ierten ihre Bombardierungen einstellen.

Choucha, Tunesien, 12. Juli 2012. Schon kurz nach dem Sonnenaufgang fühlt sich die Hitze an wie hohes Fieber. Sie verdrängt jeden Gedanken an etwas anderes. An der Straße flattern die Fahnen der Hilfswerke im Wind, Soldaten mit Geländewagen und Maschinengewehren stehen am Checkpoint, sie bewachen das Lager in der Wüste.
Rund 345 000 Menschen sind seit Beginn des Krieges über den Grenzübergang Ras Ajdir hierher geflohen. Fast alle sind nun fort. Die Libyer, denen gestattet wurde, ins Landesinnere von Tunesien weiterzuziehen. Fort sind auch die Gast­arbeiter aus politisch stabileren Staaten wie Bangladesch oder Pakistan. „Drittstaatsangehörige“ nennt die der UNHCR, der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Na­tionen. „Drittstaaten“ – das sind solche, in die man ohne Gefahr zurückgehen kann.


Doch etwa 4000 Menschen leben noch in den heißen Zelten, versorgt mit Lebensmittelmarken und rationiertem Trink­wasser. Jeder Einzelne wird vom UNHCR interviewt, so soll geprüft werden, wer als „Person of Concern“ als schutzbedürftig im Sinne des Völkerrechts gilt. „Seit ­Monaten bitten wir die Regierungen Europas und der USA intensiv darum, Plätze für ­diese Flüchtlinge zu organisieren“, sagt ein Sprecher des UNHCR. „Resettlement“, Umsiedlung heißt dieses Programm.

Sohn Ahmad zeigt seine ersten Eindrücke vom Flüchtlingslager Choucha. Einheimische hatten es damals attackiert.
Jedes Jahr versucht der UNHCR etwa 170 000 ausgewählten Menschen aus den schlimmsten Krisenregionen der Welt, eine neue Heimat zu geben. Doch nur für ein Drittel von ihnen stellen die reichen Länder der Welt Plätze bereit. Die meisten die USA; auch Schweden und Großbritannien sind großzügig. Deutschland hat jahrelang gar keine Plätze bereitgestellt. Beim UNHCR heißen die anerkannten Flüchtlinge deshalb auch „longstayers“. Denn wie es aussieht, werden sie lange in Choucha bleiben. 
Wie die Osmans. Seit 334 Tagen leben sie in Choucha. Als sie aus dem Libyen-Krieg hierher kamen, gab es Kämpfe zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen. Es gab Gewalt, Schlangen, Sandstürme, Stromausfälle, Tuberkulose. „Wir sterben hier, lass uns lieber zurück in unser Haus und dort sterben“, haben die Kinder zu ihrem Vater gesagt. Doch in Libyen herrschen jetzt die Milizen, es ist kein Land mehr für Schwarze. Hier hat die Familie drei Zelte. Sie haben sie zu einem zusammengeschoben und versuchen, die Gewalt und die Verzweiflung im Lager von sich fernzuhalten.

"Es war schrecklich. Wir haben so viel geweint"

Drei Mal wird Abubaker ausgefragt, ­jeweils drei Stunden lang. Am Ende erkannte ihnen der UNHCR die  Flüchtlings- eigenschaft zu. Kurz darauf bekamen der Vater und der älteste Sohn Jobs als Übersetzer, für zwölf Dollar am Tag. Ihre Bildung kam ihnen zugute. „Wir sind privilegiert“, sagt Abubaker. Doch es ändert nichts daran:  „Das Leben in Choucha ist die Hölle.“

Vor dem Überfall hatte die Fotografin Leona Goldstein die Zeltstadt besucht.
Vor dem Abflug nach Deutschland.
Im Mai kamen Beamte des deutschen Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge nach Choucha. 195 Menschen: So viele wollten sie aus der Sandwüste erlösen. So hatten es die Innenminister auf ihrer ­Konferenz im vergangenen Dezember beschlossen. Doch wer letztlich einreisen darf, das will Deutschland selbst entscheiden. Der UNHCR schickt eine Lis­te mit Hun­derten Namen nach Nürnberg. Die Beamten laden in Choucha einen Teil von ihnen vor. Es ist wie ein Casting. Wer gewinnt, hat ausgesorgt. Wer verliert, steht vor dem Nichts. Wen will Deutschland? Und warum? Abubaker weiß es nicht. Er wird erneut interviewt, die Beamten wollen wissen, ob er Kontakt zu terroristischen Organisationen hatte, wie sein Leben bisher verlaufen ist. Ärzte untersuchen ihn und die Familie. Dann fahren die deutschen Beamten wieder nach Nürnberg zurück.

Am 1. September kommen die Briefe aus Deutschland in Choucha an. „Es war schrecklich“, sagt Abubaker. Dann geht alles ganz schnell. Noch eine medizinische Untersuchung, nach zwei Tagen kommen die Busse. „Es herrschte ein fürchterlicher Sandsturm, alle kamen zu uns, um uns zu verabschieden. Wir haben so viel geweint.“ Mitarbeiter der Internationalen Orga­nisation für Migration (IOM) rufen die Namen der Ausgewählten.

In fünf Bussen fahren sie zur Ferieninsel Djerba, viel Gepäck hat niemand. Die IOM hat einen ­Sonderflug gebucht, der deutsche Botschafter in Tunis kommt zum Flughafen und überreicht den 195 ausgewählten Flüchtlingen ihre Einreisepapiere für Deutschland. Tausende Bewohner des Camps bleiben in der Wüste. Sie müssen warten, dass andere Länder sich bereitfinden, auch sie aufzunehmen.

Grenzdurchgangslager Friedland, Nieder­sachsen, 9. September 2012. Vor sechs Tagen sind die 195 Flüchtlinge aus Choucha, unter ihnen die achtköpfige Familie Osman, am Flughafen Hannover-Langenhagen gelandet. Sie wurden begrüßt von Niedersachsens Innenminister Uwe Schünemann und Innen-Staats­sekretär Ole Schröder. Busse fahren sie in das Lager Friedland, sie bekommen 20 Euro Willkommensgeld, Beutel mit Seife, Zahnbürste, Handtücher und Plätze in kleinen Zimmern, die aussehen wie in ­einer Jugendherberge.

Im Deutschkurs sind Abubaker und seine Frau noch Anfänger, was die Jobsuche erschwert.
Morgens gibt es Deutschunterricht, ­später sitzen die Somalis, die Eritreer und Afghanen an langen Tischen in der Kan­tine. Es gibt schweinefleischfreie Currywurst mit Reis, Gurkensalat, Schokoladenpudding. Danach beginnt der Kurs „Wegweiser für Deutschland“. Ein junger Araber übersetzt, der evangelische Lagerpastor, der eine Gruppe von elf Flüchtlingen unterrichtet, spricht heute über „Mobilität“: „Wir können nicht einfach auf eine große Straße laufen“, sagt er. „Straßen sind gefährliche Räume.“
Die Flüchtlinge nicken. Zum Zugfahren brauche man in Deutschland einen Fahrschein. „Aber kaufen sie den vorher, sonst sagt der Kontrolleur: ‚Mein Freund, du bist zu spät!‘ Das sind Profis.“ Manche der Flüchtlinge schreiben mit. „Auf Bahnhöfen gibt es Polizisten. In manchen Ländern sind Uniformierte korrupt. Hier sind sie sie dazu da, uns zu helfen. Sie müssen keine Angst vor ihnen haben.“

 

Deutschland ist nicht nur Sicherheit, sondern auch Bürokratie

Aachen, Stuttgart, Salzwedel, Bremen, Berlin, der Pastor zeigt ihnen die Städte auf einer Karte. Gemäß dem „Königsteiner Schlüssel“ werden die Flüchtlinge in zwei Wochen gleichmäßig auf alle Bundesländer aufgeteilt. Der Transport wird für sie organisiert, schon in Friedland helfen ihnen Sozialarbeiter den Antrag auf So­zialleistungen auszufüllen. Anders als alle regulären Asylsuchenden, die von selbst nach Deutschland kommen, müssen die  Flüchtlinge aus dem Resettlement-Programm nicht im Lager leben. Sie dürfen von Beginn an arbeiten, zur Universität gehen, Angehörige nachholen. Für sie gilt keine Residenzpflicht, sie bekommen volle Sozialleistungen, nicht bloß Gutscheine. Das Resettlement ist Asyl erster Klasse.

Zentrale Aufnahmestelle des Landes ­Berlin, November 2012. Deutschland bedeutet nicht nur Sicherheit. Deutschland ist Bürokratie. Seit zwei Wochen sind die Osmans in Berlin, dem Bundesland, in das sie vermittelt wurden. Hier sollen sie bleiben. Sozialarbeiter waren mit ihnen Winterkleidung kaufen und haben ihnen bei den Behördengängen ge­holfen.
Die Eingliederungsvereinbarung des Jobcenters Tempelhof-Schöneberg, die Meldebescheinigung beim Amt für Bürgerdienste, die Bestellbestätigung für den Aufenthalts­titel vom Landesamt für Bürger- und Ordnungs- angelegenheiten, die Steueridenti­fikationsnummer, die Anmeldung bei der AOK, das Monatsticket der Berliner Verkehrsbetriebe: Mehrere dicke braune Umschläge voll mit Papieren, die sie nicht lesen können. Doch bald beginnt ihr Deutschkurs, 20 Stunden die Woche, acht Monate. Das neue Leben ist eine organisatorische Herausforderung.


Berlin, Januar 2013. Schnee fällt. Ein Wunder für Mursin, Asla und Aayah, die drei Kleinen. Es ist schon das zweite Wunder, nachdem die grünen Bäume im Herbst ihre Blätter verloren haben. Auf dem Hof der Grundschule in Marienfelde bauen die Kinder mit ihren Klassenkameraden einen Schneemann. Abubaker zeigt davon ein Handyfoto. „Erst habe ich mich erschrocken“, sagt er. „Ich wusste, dass es so was gibt, aber ich dachte, wenn das passiert, gibt es eine Katastrophe“, sagt er. Unerträglichen Frost und Verkehrskollaps, so hat er sich das vorgestellt. Jetzt ist er beruhigt. „Es läuft alles ganz normal weiter, die ­Leute gehen überall hin, wie sonst.“

Choucha, März 2013. Fünfzig Bewohner des Camps in Choucha chartern einen Bus und fahren nach Tunis. Vor dem Büro des UNHCR errichten sie eine Dauermahnwache. Es ist ihre letzte Hoffnung. Auch sie wollen in das Resettlement-Programm aufgenommen werden, wie die Osmans. „Wir gehen hier nicht wieder weg, bis es eine Lösung für uns gibt“, sagt der Nigerianer Bright Samson. Die tunesische Regierung lässt sie gewähren. Eine Lösung, bei der die Flüchtlinge das Land verlassen könnten, wäre ihr am liebsten.

Die Kinder besuchen einen Deutschkurs, vier Stunden am Tag

Im Aufnahmelager in Marienfelde verfolgen die Osmans den Protest. „Wir halten per Facebook Kontakt“, sagt Abubaker. Die Vorstellung, dass noch immer Hunderte Menschen im Lager in der Wüste leben, nagt an ihnen. Fast alle der 103 Flüchtlinge legen Geld zusammen und schicken es per Western Union nach Tunesien, um die Mahnwache zu unterstützen. Auch die Osmans geben Geld. „Es ist das Mindeste, was wir tun können“, sagt Abubaker. Auf dem Tisch in der Wohnung im Aufnahmelager liegen Hefte.
Die drei älteren Kinder besuchen jetzt den Deutschkurs der Stufe B1, vier Stunden pro Tag, an einer privaten Schule am Potsdamer Platz. Die Sozialarbeiter haben ihnen ein Stipendium dafür besorgt. „Der Kürbis“, „das Erlebnis“, „der Geist“: komplizierte Vokabeln stehen neben ihrer arabischen Übersetzung in dem Heft. Man kann den Kindern schon auf Deutsch Fragen stellen, sie verstehen sie, aber antworten lieber auf Englisch.

Berlin, August 2013. Ein Wohnblock in einer Appartementanlage aus den 1960er Jahren, der oberste Stock. Vor zwei Tagen sind die Osmans hier eingezogen. 1 260 Euro warm, 125 Quadratmeter, bis auf die beiden jüngsten Kinder und die Eltern haben alle Familienmitglieder ein eigenes Zimmer. So großzügig haben die Osmans noch nie gewohnt. „Seit Januar haben wir gesucht“, sagt Abubaker, auf Immoscout.de und vielen anderen Webseiten. Nur zehn Wohnungen waren groß genug für die Familie und günstig genug für Hartz IV. Die Anrufe überließen die Osmans den Sozialarbeitern im Lager, doch es gibt ­reihenweise Absagen.


Erst im Mai findet sich die evangelische Hilfswerk-Siedlung GmbH, ein kirchliches Immobilienunternehmen bereit, den Osmans eine Bleibe zu vermieten. Die Wohnung ist noch komplett leer, fast das ganze Geld, dass sie als Starthilfe zur ­Einrichtung bekommen haben, ist für Farbe und Tapeten draufgegangen. „Zwei Wochen haben wir renoviert“, sagt Abubaker. Er will wissen, wo man billig gebrauchte Haushaltsgeräte kaufen kann. Eine Waschmaschine wäre nicht schlecht. Er spricht Englisch, die Konversation mit den Kindern funktioniert jetzt auf Deutsch.

Choucha, Oktober 2013. In dem jetzt offiziell geschlossenen Lager leben ungefähr 400 Menschen, unter ihnen Kinder und Kranke. 135 von ihnen sind anerkannte Flüchtlinge, 262 abgelehnte Asylsuchende. Die Versorgung mit Nahrungsmitteln, Wasser, medizinischer Hilfe und Strom lief am 30. Juni aus. Alle Infrastrukturein­richtungen sind zerstört. Die verblie­be­nen Bewohner versuchen, vorbeifahrende Autos anzuhalten, sie betteln um Nahrungsmittel und Wasser. Die Mahnwache in Tunis steht noch immer.

Zeugnisse für Abubakers Arbeitssuche.
"Ich will nicht abhängig sein"

„Wir sind an einen Punkt, an dem wir uns völlig blockiert fühlt. Es gibt keine Zukunft, nichts, was man ein Leben nennen könnte, kein Vorwärts, kein Zurück. Dann ist einem alles egal“, sagt der Sudanese Emad Hassan, der seit sechs Monaten vor dem UN-Büro campiert. Noch immer halten die Osmans per Facebook Kontakt zu einigen Choucha-Bewohnern. „Es ist sehr schwierig, die Leute dort in Flüchtlinge und Nichtflüchtlinge zu sortieren“, sagt Mohamed, der älteste Sohn der Familie. Der UNHCR habe aber sein Bestes versucht, sagt er.

Berlin, Oktober 2013. Mohamed kommt nach Hause, über der Schulter trägt er ­eine Sporttasche. Deutsch lernen und das Fitnessstudio füllen seine Tage. Nur den Sonntag nicht, da war er beim Berlin-Marathon. Er zeigt sein Handy, damit hat er einen Schnappschuss gemacht, er mit Wilson Kipsang, dem Sieger des Laufs. „Er ist aus Kenia“, sagt er, so stolz, als freue es ihn besonders, dass jemand, der auch aus Ostafrika stammt, so erfolgreich ist. Aus lauter Begeisterung hat er an der Wand eine Fahne Kenias und eine Fahne von BMW, dem Marathonsponsor, an die Wand gehängt. Noch drei Wochen, dann beginnen er und seine beiden Geschwister den Kurs der Stufe C2, es ist das höchste Niveau. „Wenn alles gut läuft, fangen wir in einem Jahr an zu studieren“, sagt Moha­med. In den letzten Wochen waren sie an den Hochschulen, haben sich beraten lassen. Medizin, Bauingenieur, Elektrotechnik – sie wollen dasselbe lernen, wie in Libyen, bevor der Krieg ausbrach.


Die Wohnung ist langsam kein fremder Ort mehr für die Osmans.
Berlin, November 2013. Im Regal stehen jetzt Vasen, sie sind aus blauem Glas. Auch das Sofa ist jetzt mit blauem Stoff bezogen. „Meine Frau hat das selbst gemacht“, sagt Abubaker, man sieht die etwas unregelmäßigen Nähte an der Seite. Das Leben der Familie festigt sich. Doch je besser sie sich darin einrichtet, desto drängender wird für Abubaker die Frage, was er tun soll.„Ich war noch nie vorher zu Hause. Ich will nicht abhängig sein“, sagt er. Er sitzt auf seinem blauen Sofa, vor sich den Laptop, klickt durch Bewerbungsportale und ­Firmenhomepages, jeden Tag tut er das nun. „Ich bin 54, meine Uhr läuft ab“, sagt Abubaker. „Aber noch ist es nicht so weit. Noch habe ich eine Chance.“
Im Juni war er beim Amt für die An­erkennung ausländischer Bildungsabschlüsse, aber die Universität in Mogadischu ist nicht erreichbar und Dokumente aus Libyen zu beschaffen kompliziert.

"Unsere Probleme hier sind keine richtigen Probleme"

Er hat es aufgegeben. Jetzt will er übersetzen, Englisch, Arabisch, Somali vielleicht. Er zeigt seine Zeugnisse, eines vom Universitätsdekan in Libyen, „engagiert, kenntnisreich, fähig“ sei er, steht da. Auch der UNHCR, für den er in Choucha übersetzt hat, hat ihm ein Empfehlungsschreiben gegeben. Am Computer hat er einen Lebenslauf geschrieben, bei „Deutschkenntnisse“ steht „Beginner“. Er weiß, dass das nicht reicht. 600 Stunden Unterricht hat ihm der deutsche Staat bezahlt, ein Antrag auf 300 weitere Stunden läuft, aber vielleicht ist er zu alt, um sie bewilligt zu bekommen. Ende des Monats will ihm das Amt antworten.

Asma, Mohamed und Ahmad an der Humboldt-Universität.
Zur Not will er wieder weg, vielleicht als Entwicklungshelfer für die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit ins Ausland, als Übersetzer für die UN, als ­Ingenieur in die Arabischen Golfstaaten, da ist er nicht Sprachanfänger. „Ich habe junge Kinder, sie brauchen eine Zukunft, ich will sie unterstützen“, sagt er. Aber kann er das besser, wenn er ihnen jeden Monat ein paar Hundert Euro aus Abu Dhabi schickt, zusätzlich zum BAföG?
Oder wenn er hier bleibt, womöglich ohne Aufgabe, aber bei seiner Familie? Ein Luxus­problem im Vergleich zu den Sorgen der Menschen in Choucha, und doch von existenzieller Wichtigkeit für ihn. „Sie können das hier auch ohne mich“, sagt er. „Aber wenn ich gehe, werde ich sie sehr vermissen.“ Er wird traurig, fängt sich aber schnell. Sie hatten viel Glück, er will nicht klagen. „Unsere Probleme hier sind keine wirklichen Probleme“, sagt er. Als habe er kein Recht, sich zu sorgen.

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