Gott ist überall, sagt der Zenmeister. Die Bischöfin glaubt an keine Privatreligion, sondern an einen Gott, der Beziehung will
Hedwig Gafga, Autorin
Tim Wegner
25.09.2013

chrismon: Sie brauchen eine Auszeit. Im Angebot sind Yoga, Gottesdienst, Zen. Wo gehen Sie hin?

Willigis Jäger: Ich würde nirgendwo hingehen. Da, wo ich bin, ist mein Platz. Alles, was genannt ist, ist für mich eine religiöse Ebene. Ob in östlichen oder westlichen Formen, das ist gleich.

Margot Käßmann: Also, für mich ist der Gottesdienstwirklich eine Kraftquelle. Ich kann mich fallen lassen in die alten Rituale, mit anderen singen und beten, in ein Gespräch mit Gott kommen. Auch beim Laufen komme ich zur Ruhe. Der Rhythmus hilft, loszulassen.

Jäger: Und ich habe sechs Jahre Stille hinter mir, ich war in einem buddhistischen Zentrum in Japan, davon ein halbes Jahr in einer Einsiedelei. Jetzt möchte ich das, was ich da erfahren habe, weitergeben.

Käßmann: Die Stille gibt es auch in der christlichen Tradition. In der hannoverschen Landeskirche haben wir 15 Frauen- und drei Männerklöster. Dort gibt es Wartelisten, weil Menschen das Schweigen neu lernen wollen. Dafür muss ich keine andere Religion suchen.

Wie viel Zen, wie viel Stille und innere Versenkung verträgt denn der Gottesdienst?

Käßmann: Als Evangelische müssen wir sicher eine neue Balance finden, die sinnlichen Glaubenserfahrungen Raum gibt. Wenn ich aber das lutherische „allein durch die Schrift“ verliere und es nur noch um Gefühl geht, schlägt das Pendel zu weit zur anderen Seite aus.

Herr Jäger, Sie gingen als christlicher Mönch in ein buddhistisches Kloster. Wie kam es dazu?

Jäger: Ich hatte als Kind in der Kirche eine mystische Erfahrung, die mir sagte: Es gibt etwas hinter all dem, was der Pfarrer sagt. Das hat mich ins Kloster gebracht, dort las ich die Mystiker.

Käßmann: Auch wir Protestanten haben durchaus gelernt: Du kannst nicht nur immer christlich handeln. Die Kraftquelle für ein Handeln muss lebendig sein. Menschen vermissen manchmal in unseren Gottesdiensten, dass sie Kraft schöpfen und gestärkt in den Alltag hinausgehen.

Jäger: Auch die Mystik mündet in den Alltag. Der Künstler Josef Beuys sagte: „Das Mysterium findet im Hauptbahnhofstatt.“ Ich komme gerade aus einem Kurs für Manager. Im Benediktushof versuchen wir, Menschen in eine spirituelle Ebene zu führen, die im Alltag ihr Ziel hat.

Müssten die Kirchen auch Zen anbieten?

Käßmann: Im Christentum gibt es genügend eigene Kraftquellen. Ich verstehe evangelische Spiritualität wie die Säulen in der Michaeliskirche in Hildesheim: große Bögen, auf denen kleinere stehen, darauf ganz kleine. Die Grundsäulen sind Christus, die Bibel, Abendmahl und Gebet. Darüber kommen Schweigen, Meditation und mehr. Aber das Fundament muss stimmen.

Sie, Herr Jäger, sind Zenmeister, tragenden Namen Ko-un Roshi, „leere Wolke“. Sind Sie zum Zen bekehrt?

Jäger: Zum Zen kann man sich nicht bekehren. Man verbindet Zen viel zu sehr mit Buddhismus, weil es von dort überliefert ist. Die Grundstruktur des Zen ist jenseits jeder Konfession. Aber man kann die Erfahrung in jede Religion einbringen.

Käßmann: Aber ist es nicht so, dass im Zen eine Auflösung der Persönlichkeit ins größere Ganze geschieht? Während es bei uns Christen nach Jesaja 43 heißt: „Ich habe dich bei deinem Namen angerufen, du bist mein.“ Bei uns ist die Individualität wichtig, von der Taufe bis in Gottes Ewigkeit.

Jäger: In der Mystik gibt es zwei Möglichkeiten, dieser Urwirklichkeit, die wir Gott nennen, zu begegnen. Die eine ist, wie wenn zwei Kerzen zusammengehalten werden und eine Flamme entsteht. Die Person bleibt Person, Gott bleibt Person, und es ist nur eine Flamme. Aber die eigentliche Erfahrung, die unio mystica (das Einswerden der Seele mit Gott), gleicht einem Wassertropfen, der ins Meer fällt. Das Wasser lässt sich nicht mehr unterscheiden in ich und du. So beschrieb es die Mystikerin Teresa von Ávila.

Willigis Jäger: „Meist hat man Familie, Auto, Urlaub – kommt noch was?“

Gott ist für Sie in allen Religionen derselbe, Herr Jäger. Wie sehen Sie das, Frau Käßmann?

Käßmann: Wir Christinnen und Christen sehen Jesus Christus als Wahrheit und Weg, als Zugang zu Gott. Für mich gilt das Gebot „Du sollst nicht andere Götter haben neben mir.“ Viele erschreckt das, und sie schreiben mir, dass sie das lieber relativieren würden. Aber in unseren Vorstellungen von Gott unterscheiden wir uns in den Religionen.

Jäger: Für mich gibt es nur eine Wirklichkeit, die hinter allen Religionen steht. Religionen sind wie verschiedene Glasfenster in einer Kathedrale. Alle verweisen auf das eine Licht, das sie alle erleuchtet. Im „christlichen Glasfenster“ spielt Jesus Christus die entscheidende Rolle.

Käßmann: Ich hadere mit einem diffusen Gottesbild, wo Gott alles in allem ist. Im Alten Testament heißt es: „Ich bin der Herr, der dich aus Ägypten befreit hat.“ Da ist der geschichtliche Gott der Befreiung, der uns auch im Leiden begleitet, der Beziehung sucht. Das ist der Gott Israels, den Jesus den Menschen aus den anderen Völkern nahe gebracht hat.

Was suchen Menschen heute am stärksten in der Religion?

Käßmann: Wenn ich das Abendmahl in der Marktkirche austeile, ziehen manchmal hunderte Menschen zum Altar – ofteine Kette von Mühseligen und Beladenen, die in Gott Trost und Kraft suchen. Das berührt mich sehr. Auch ich suche in Gott die Kraftquelle, aber das heißt auch, dass ich mich vor diesem Gott verantworten muss. Das Leben ist doch ein Geschenk. Du musst es so leben, dass du jeden Tag versuchst, es Gott zurückzugeben und zu sagen: Das habe ich mit deinem Geschenk gemacht.

Herr Jäger, zu Ihnen kommen nicht nur die Mühseligen und Beladenen. Zu Ihnen kommen viele hoch bezahlte Manager. Was suchen sie bei Ihnen am meisten?

Jäger: Vor allem eine Sinndeutung. Die meisten sind etwa 45 Jahre alt, haben Familie, Auto, Bankkonto, Urlaub, Haus – kommt noch was? Sie stellen sich die uralte, die existenzielle Frage nach dem Sinn des Lebens. Die Religionen sagen dem Menschen, wie er sich in das ungeheure Geschehen des Universums einordnen kann. Nur, die Sprache der Bibel und des Katechismus verstehen viele nicht mehr. Ich muss ihnen bei einer Sinndeutung helfen, die von der Erfahrung herkommt.

Käßmann: Ich sehe die Gefahr, dass das Ganze zu einer „Wellness-Spiritualität“ wird. Nach dem Motto: Der Kurs tut mir gut, und den bezahlt sogar die Firma. Christentum ist anstrengender. Da muss ich mich in die Gemeinschaft einfinden. Da ist das Miteinander auch im positiven Sinne spannungsvoll, wenn die schwangere 16-Jährige neben dem erfolgreichen Unternehmer sitzt und der Obdachlose neben der Erzieherin. Jesus Christus ist keine Naturgottheit, die mir auf dem Waldweg begegnet, sondern bindet sich an eine bestimmte Botschaft und an einen Glauben, den wir zusammen leben.

Ist das, was Sie machen, elitär, Herr Jäger?

Jäger: Nein. Wir sind eine Weggemeinschaft, die nicht nur niemanden ausschließt, sondern sich auch gegenseitig hilft. Wir haben einen Verein gegründet, um den finanziell Schwachen zu helfen. Mystik endet im konkreten Leben. Das sagen wir auch den Unternehmern. Auch sie sollen nicht vergessen, dass es am Ende um den Menschen geht und nicht um den Profit.

Käßmann: Mir liegt daran, spirituelles Erleben und Engagement in der Welt zusammenzuhalten, das diakonische Profil und den Glauben zusammenzubringen. Das gelingt etwa am Heiligabend im Hauptbahnhof, 24 Uhr, wenn die Dame im Nerz das Liedblatt mit dem Penner hält...

Jäger: Eine tiefe mystische Erfahrung lässt mich spüren, dass es eigentlich nur Einheit gibt. Sie bedeutet ein Aufbrechen von unglaublichem Wohlwollen und von Liebe. Im Zen gibt es ein Gelübde, das lautet: „Die Lebewesen sind zahlreich, ich gelobe, sie alle zu retten.“ Mystik mündet in Liebe. Sie schließt den Unternehmer genauso ein wie den Bettler. Je tiefer meine Erfahrung, umso größer mein Mitgefühl.

Käßmann: Es ist noch die Frage, wie wir so etwas mit der unter Druck stehenden berufstätigen Mutter und dem Geschäftsführer, der nicht weiß, ob er seine Mitarbeiter halten kann, zusammenbringen. Deshalb ist für mich Gottesdienst so wichtig. Dort kann ich sagen: Unser Glaube gibt dir Kraft, aber auch eine gewisse Heiterkeit. Christen sollte anzumerken sein, dass sie nicht an einen Toten, sondern an den Auferstandenen glauben.

Jäger: Ich habe ein Buch geschrieben, „Das Leben endet nie“.Es geht darin um die Erfahrung, dass wir uns jetzt als eingegrenzt in eine personale Struktur erleben, in Wirklichkeit aber sind wir etwas viel Gewaltigeres. Als Christen nennen wir es göttliches Leben oder Reich Gottes.

Bei Ihnen, Herr Jäger, kommt es auf die Erfahrung an, egal, ob jemand Sufi-Tanz macht oder betet.Viele gehen mal da-, mal dorthin. Verliert man dabei seine religiöse Identität?

Jäger: Ich führe auch Leute zurück in die Kirche. Sie dürfen aber auch gehen, wenn sie darin nicht mehr zurechtkommen. Wenn Frauen zum Beispiel sagen: Ich halte das nicht mehraus, was die katholische Kirche zur Frau zu sagen hat...

Käßmann (lacht): Dann schicken Sie sie zur lutherischen Kirche...

Jäger: Ich freue mich, dass die lutherische Kirche hier weiter ist. Aber es hängt vom Einzelnen ab, wohin er sich wenden will. Der Sufi-Tanz, der Dreh-Tanz, kann in eine neue Erfahrung führen, genauso Raja-Yoga. Das Gehen dieses Wegs bedeutet für die Menschen eine Lebenshilfe, die sie in den Konfessionen oft nicht mehr finden.

Käßmann: Diffuse Religion ist eher verwirrend. Viele Jugendliche sagen: An Gott kann ich glauben, aber mit Kirche kann ich nichts anfangen. Das möchte ich zusammenholen. Unser Glaube bindet sich an den Glauben an Jesus Christus, an die Bibel und an die Erfahrung der Kirche. Die macht Fehler, weil sie menschlich ist. Aber sie versucht, Gemeinschaft zu leben.

Aber Herr Jäger sagt, dass es Leute in dieser nüchternen Kirche nur aushalten, wenn sie öfter ins Retreat gehen.

Käßmann: Ach, es gibt so viel neu gelebten Glauben. Traditionelle Gottesdienste mit gesungener Liturgie, Gospelkirche, Thomasmesse, Pilgern, offene Kirchen, in denen Menschen Fürbitte halten und Kerzen anzünden. Die Protestanten entdecken gerade die Kirchenräume neu als „durchbetete“ Räume.

Margot Käßmann: „Ich bin dagegen, dies und dasaus anderen Religionen zu holen“

In fast jeder evangelischen Akademie gibt es auch Tai-Chi, Qigong, Yoga.

Käßmann: Damit habe ich Probleme. Ich wünsche mir eine Besinnung auf die eigenen Quellen. Ich bin dagegen, uns aus anderen Religionen dies und das zu holen. Spiritualität wächst mitten unter uns.

Jäger: Jetzt will ich Ihnen sagen, was ich aus dem Osten mitgebracht habe: die Erkenntnis, dass wir in der christlichen Mystik einen parallelen und absolut ebenbürtigen Weg haben wie im Zen oder Yoga. Es ist ein Gebetsweg, wie er bis ins hohe Mittelalter hinein in unseren Kirchen gelehrt wurde. Im Laufe der Aufklärung und Rationalisierung haben wir diesen Weg nur vergessen. Diesen Weg möchte ich zurückbringen.

Käßmann: Das würde ich ja teilen. Andererseits bin ich froh, dass die Aufklärung unseren Glauben geprägt hat. Ich muss die Bibel nicht wortwörtlich nehmen, sondern kann sie als Gottes Wort verstehen, das von Menschen reflektiert und überliefert wurde. Die Bibel im Kontext zu sehen, war mir immer wichtig.

Jäger: Für mich ist die Bibel immer der Ausgangspunkt: „Und Jesus trat auf und verkündete das Reich Gottes.“ Das war sein Anliegen. Darunter verstehe ich aber eine Wirklichkeit, die hinter all dem Vordergründigen steht, das ich begreifen kann.

Käßmann: Bei uns zu Hause hieß es, dass der Großvater in der Zeit des Nationalsozialismus immer gesagt hat, das Kreuz sei für ihn das wichtigste Kriterium. Gerade damals war es wichtig, sich nicht nur in die Mystik zu versenken, sondern den scharfen Verstand des Unterscheidens zu haben. Weil Diktaturen sichin ihren Ritualen gerne religiös überhöhen, so dass Menschen sich darin auch verlieren können. Da brauche ich den Verstand, um in aller Klarheit urteilen zu können.

Jäger: Mystik schaltet den Verstand nicht aus. Der Verstand ist ein Instrument, auf dem etwas spielt, was viel gewaltiger ist. Der Verstand ist nur die Form, in der es sich ausdrückt. Warum sind wir, nachdem wir von den Bäumen heruntergeklettert sind, gerade so geworden? Unsere Gestaltwerdung hat uns auch ein bestimmtes Konzept von Religiosität mitgegeben. Hätten wir uns anders entwickelt, hätten wir ein anderes Modell von Religiosität. Es ist also auch ein „bisschen zufällig“, dass wir unsreligiös gerade so verstehen.

Käßmann: Dass unser Schöpfer bei der Schaffung des Menschen am Werk war, davon bin ich überzeugt. Aber ich halte nichts davon zu glauben, wir müssten nur mit der Schöpfung eins werden, dann wäre alles gut. Die Schöpfung ist wunderbar und doch kein niedlicher Sandkasten. Das haben wir beim Tsunami gesehen. In der Schöpfung walten auch ungeheuer zerstörerische Kräfte. Manchmal habe ich den Eindruck, einige Menschen, die so sehr eins werden wollen mit der Natur, machen die Schöpfung zu einem niedlichen Vorgarten.

Jäger: Wir haben uns aus der paradiesischen Einheit mit der Natur heraus entwickelt, in diesem Prozess entstand unsere Individualität. Sobald das Ego da war, hat es versucht, sich selbst in die Mitte zu stellen. Es ist immer der Egoismus, der schuld an Zerwürfnissen ist, sei es Krieg, Revolution oder Armut. Wie kommen wir da heraus? Nicht durch Gebote, sondern durch die Erfahrung: Wir sind wirklich eins.

Frau Käßmann, wenn eine Ihrer Töchter ins Zen oder Yoga einsteigen wollte, würden Sie sie ziehen lassen?

Käßmann: Aber sicher, sie sind erwachsene junge Frauen. Aber ich würde versuchen, im Gespräch zu bleiben. Weil es wichtig ist, dass sich nicht alle in ihrer Privatreligion abschotten mit einem kleinen Anbetungsaltar im Schlafzimmer. Religion bezieht sich immer auf den Anderen; auf Gott als den ganz Anderen, aber auch auf die anderen Menschen. Mein Glaube muss auch gesellschaftliche Orientierung geben. Christentum ist eine Beziehungsfrage und eine Gemeinschaftsreligion.

Jäger: Wenn mystische Erfahrung eine Art Privatreligion wird, dann stimmt damit etwas nicht. Mystik führt zum Anderen.

Käßmann: Wir sprechen oft von „unseren Schwestern und Brüdern“ und setzen das nicht um. Der Zorn der Kirchen des Südens richtet sich gegen die Selbstgenügsamkeit der Kirchen des Nordens, die sich so gemütlich in ihrer Religiosität beheimaten. In der Zeit der Globalisierung sollten Christen in Afrika, Asien, Lateinamerika die Solidarität ihrer Geschwister in Europa und Nordamerika erleben. Darin steckt eine große Anfrage.

Jäger: Die Anfrage geht auch an die katholische Kirche. Wir sind nicht offen genug für eine wirkliche Oikumene, die den ganzen Erdkreis umfasst. Unser Christentum vertritt eine abendländische Religiosität. Ein Absolutheitsanspruch ist immer noch spürbar...

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