Wunden aufreißen oder auf Heilung hoffen?
Zwei Jahre nach dem Amoklauf von Erfurt streiten ein Psychiater und ein Seelsorger darüber, was Verantwortung heißt
09.08.2013

chrismon: Wir sind hier in Erfurt. Hier ist auch das Gutenberg-Gymnasium, jener Ort, wo es zum Amoklauf des Schülers Robert Steinhäuser gekommen ist. Seit damals wird darüber diskutiert, wer hier welche Verantwortung übernommen hat oder nicht. Was halten Sie von der Diskussion?

Hans-Joachim Maaz: Verantwortung, im Sinne von wirklich verstehen, was da passiert ist, hat hier leider keiner übernommen. Für mich war der Amoklauf das Zusammenspiel eines individuellen Schicksals, eines Familienschicksals, aber auch und vor allem eines ostdeutschen und eines gesellschaftlichen Schicksals. Dafür wurde bisher keine Verantwortung übernommen.

Christoph Kähler: Da muss ich widersprechen. Es ist viel geschehen; und zwar viel mehr, als Menschen, die nicht in Erfurt leben, mitbekommen haben! Ich wehre mich gegen ein zu scharfes Urteil. Es begann bereits am Tag des Amoklaufs, als etwa 80 evangelische Pfarrer zum Sportplatz kamen, wohin man die evakuierten Schüler und Lehrer gebracht hatte. Die Pfarrer und Pastorinnen musste niemand rufen. Sie hatten begriffen: Wir werden dort gebraucht. Es gab unzählige Akte der Solidarität, des Mitgefühles, auch des Protests der Erfurter und aus dem ganzen Land. Sowohl Politiker als auch einfache Bürger haben sich hier sehr engagiert.

Maaz: Ja, Betroffenheit, Solidarität, Mitgefühl – das gab es. Aber haben wir uns selbst ausreichend befragt? Sie haben das damals in Ihrer Traueransprache bereits angemahnt. Die eigentliche Verantwortung heißt, nach den Ursachen zu forschen. Gewalt ist die Folge erlittener Lieblosigkeit und sozialer Kränkung.

Kähler: Ich respektiere, dass Sie nach den Wurzeln fragen, nach den frühkindlichen Ursachen. Wie sind Leute aufgewachsen und so weiter? Aber es gibt auch ein Wunden-wieder-Aufreißen, das nicht gut ist. Solange die Wunde normal verheilt und nicht innen eitert, werde ich mich freuen über den Heilungsprozess.

Maaz: Wunden aufreißen, das ist notwendig, wenn die Wunde nicht gut verheilt ist. Seelisch gesehen gehört zur Heilung einer Wunde vor allem die emotionale Verarbeitung. Also, dass ich trauern kann, dass es schmerzen kann, dass ich wütend werden kann über die Dinge, die mich seelisch verletzt haben. Und auch darüber, dass Verantwortung nicht übernommen wurde.

Kähler: Ach wissen Sie, in der ganzen Debatte um die Verantwortung für den Amoklauf schwingt doch immer diese Frage mit: „Wer hätte es verhindern können und müssen und hat es schuldhaft nicht getan?“ Diese Frage so zu stellen heißt: die Perfektion einer Gesellschaft einzufordern. Ich glaube nicht, dass wir, auch wenn manches anders gelaufen wäre, dieses schreckliche Ereignis mit Sicherheit hätten verhindern können.

Maaz: Aber genau das ist doch das Verhängnisvolle daran. Das sollte uns doch beunruhigen. Es gibt hier ein Zusammenspiel von Faktoren, die typisch sind für unsere Gesellschaft: In der Familie, in der Schule, im ganzen Umfeld des Robert Steinhäuser. Da gehört vieles angeprangert oder zumindest kritisch bewertet. Mich würde es nicht wundern, wenn derartige Geschehnisse in Zukunft eher häufiger würden, wenn man bedenkt, was an sozialer Verunsicherung schon da ist oder noch vor uns liegt.

Gibt es nicht auch Situationen, nun mal unabhängig von Erfurt, wo Verdrängung notwendig ist?

Maaz: Unbedingt. Verdrängung ist eine der gnadenvollsten seelischen Leistungen, die wir Menschen zur Verfügung haben. Nur so können wir unerträgliche Situationen so erträglich für uns machen, dass wir überleben. Aber natürlich sind unbewältigte, verleugnete, verdrängte Inhalte immer auch eine Gefahr. Sie können Verhaltensauffälligkeiten, Störungen, ja auch schwere Krankheiten erzeugen.

Kähler: Da möchte ich gern zurückfragen. Natürlich kann man immer Kausalketten konstruieren und sagen: „Es musste ja so kommen, weil...“ Und dann lässt sich bei dem Täter einiges aufzählen an Misserfolgserlebnissen und Kontaktstörungen. Trotzdem: Wenn wir zwanzig vergleichbare Schulkarrieren mit vergleichbaren Eltern unter vergleichbaren Umständen daneben stellen, die nicht zu dieser Reaktion geführt haben, sondern zu anderen – wie erklären wir das? Menschen können sich auch mit bewusster Verantwortung ihrem Schicksal stellen. Es gibt gewisse Schicksale und Erfahrungen, die sind schrecklich. Und trotzdem schaffen es dann doch sehr viele Menschen, damit angemessen umzugehen.

Maaz: Sie wollen darauf hinaus, dass vergleichbare traumatisierende oder defizitäre Verhältnisse unterschiedliche Folgen haben. Ich habe aber die Erfahrung machen müssen, dass es gewisse Äquivalente gibt. Also: Hier haben wir einen Amokläufer. Gott sei Dank, ist das noch sehr selten, nicht alle reagieren so extrem. Aber, es gibt andere, weniger auffällige Auswirkungen, wo sich die Aggression gegen die eigene Person richtet, manchmal unbewusst, was dann zu schweren Erkrankungen führen kann. Wir haben vergleichbare frühe Pathologien, mit dem Unterschied, dass die eine sozial geächtet ist wie der Amoklauf, während die andere sozial hoch anerkannt ist. Auch Arbeitssucht ist gefährlich und ein Arbeitssüchtiger wird die Welt immer problematisch gestalten. Er wird immer mehr wollen, wird eine süchtige Leistungsgesellschaft unterstützen, wird also immer auch Gewinner sein wollen bei seiner eigenen Profitmaximierung. So kann ein seelisches Problem anerkannte soziale Werte schaffen, die aber wiederum aus einer höheren Perspektive sehr fragwürdig sein können: Wohin streben wir denn? Wie sehr verlieren wir den sozialen Kontext zu unserer Natur, zu anderen Menschen?

Christoph Kähler: „Das, was Sie erzählen, klingt wie das Thema der Erbsünde. Ein Verhängnis, aus dem man nicht rauskommt“

Kähler: Da möchte ich Sie jetzt etwas provozieren. Das, was Sie erzählen, klingt wie das alte Thema Erbsünde, wie ein Verhängnis, aus dem man nicht rauskommt. Oder bei dem man nur die Wahlmöglichkeit hat: Weltmeister oder Weltverbrecher zu werden. Ich frage noch mal vorsichtig: Gibt es nicht auch die Kompensation? Ich hab Kindheit nie als besonders ideal sehen können, das halte ich für ein Puppenstubenbild. Kindheit ist gefährlich. Aber gibt es nicht doch den Moment, wo – trotz allen nachteiligen Einflüssen – einer eine andere, eine gute Richtung einschlagen kann? Also Verantwortung übernimmt.

Maaz: Erst mal: Ich kann mit der Erbsündelehre nichts mehr anfangen. Für mich ist der Mensch weder gut noch böse, er kann beides sein, und wie er sich entwickelt, ist sehr stark abhängig eben von den Beziehungserfahrungen, von dem sozialen Umfeld. Dieser Austausch ist entscheidend. Wächst dieser Mensch partnerschaftlich auf oder sind da immer die Eltern, die mächtiger sind, die wissen, was gut und schlecht ist?

Wie komme ich dann zu einer verantwortlichen Lebenshaltung? Wer oder was hilft mir dabei?

Maaz: Leider ist es ja so, dass die Erziehung dazu eher nicht ermutigt. Oft wird Kindern nur Anpassung beigebracht, also dass Kinder das zu übernehmen und zu denken und zu glauben haben, was die Eltern oder Lehrer vermitteln. Heute geschieht das vielleicht etwas weniger autoritär, aber doch mit psychologischem Druck. Aber ich denke, wenn man heranwächst, muss man auch lernen, als Mensch über sein Leben zu reflektieren. Und darin braucht man Unterstützung. Das können Freunde sein, das kann die Schule sein, das kann die Kirche sein. Angebote zum Gespräch, zur Reflexion. Und die ist auch gesellschaftlich bitter nötig: Ich gehe davon aus, dass die Alternative zur untergehenden westlichen Wachstums- und Leistungsidee nur eine Beziehungskultur sein kann. Sonst wird es Krieg geben oder große soziale Verwerfungen. Diese Beziehungskultur wäre ein Angebot an Menschen, wieder in Kontakt zu kommen, miteinander sprechen zu können, ohne belehrt oder manipuliert zu werden.

Kähler: In der Theologie sagen wir, dass Leben „Beziehung haben“ heißt, also zunächst Beziehung zu mir selbst, dass ich mit mir selber umgehen kann; Beziehung haben zu meinem Nächsten, zur unmittelbaren Umgebung, dass ich in ihr leben kann, und dass sich das Leben nicht auf den Flachbildschirm von Fernseher und Computer beschränkt. Und schließlich Beziehung zu einem größeren Ganzen, was schließlich und endlich auch heißt, eine Beziehung zu Gott zu haben.

Mal zu einem anderen, häufig erwähnten Aspekt: Gibt es einen Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschen, wenn es um die Übernahme von Verantwortung geht?

Maaz: Der Vereinigungsprozess hat tatsächlich einen psychologischen Spaltungsmechanismus verursacht, der etwa so funktioniert: Westen gut, Osten schlecht. Und das hat natürlich Auswirkungen. Aber: Kein Mensch ist nur gut und kein Mensch ist nur schlecht. Und auch kein System. Es ist zum Beispiel eine Stärke, in der DDR überwintert oder bestanden zu haben. Es ist schlimm, wenn drei Prozent der Bevölkerung für die Stasi gearbeitet haben, aber es heißt auch: 97 Prozent haben es nicht getan. Das ist kaum gewürdigt worden. Und andersrum: Was hat westliches Leben mit den Menschen gemacht! Wie sind sie einseitig auf materiellen Gewinn fixiert! Alles muss sich rechnen. Und diese narzisstische Grandiosität: Das ist lange Zeit nicht gesehen worden. Also von daher war der Vereinigungsprozess geeignet, seelische Spaltungsprozesse zu vertiefen, und das diente der Abwehr von Einsichten, von bitteren oder schmerzlichen. Und – auf beiden Seiten – davor, Verantwortung zu übernehmen.

Kähler: Beide Seiten haben eine Entwicklungsstufe ausgelassen, die uns jetzt ein Stück weit auf die Füße fällt. Wir haben in Ostdeutschland nicht wirklich begriffen, wie kaputt unsere Wirtschaft war, und haben, anders als die Polen und die Tschechen, dafür keine Quittung bekommen. Unser Sturz ist unglaublich gedämpft worden, mit dem Ergebnis, dass wir nun ein Anspruchsverhalten in Ostdeutschland haben, das ich für schwierig halte. Die Erwartungen waren von Anfang an einfach überzogen.

Was meinen Sie damit?

Kähler: Ich hab das damals auf dem Leipziger Augustusplatz erlebt. Da standen unsere Arbeiter in der einen Ecke und riefen: Deutschland einig Vaterland! Wir Intellektuellen aber standen in der anderen Ecke und fragten: Deutsche Wiedervereinigung – muss das sein? Das hat uns viele Buh-Rufe eingetragen: Wir
haben gesagt, Leute, es wird doch niemandem was geschenkt. Heute Wiedervereinigung, morgen Mallorca und übermorgen Mercedes – das ist doch nicht realistisch. Das haben die Leute als SED-Propaganda weggewischt. Auf der anderen Seite ist auch von der Ost-Bevölkerung unglaublich viel erwartet worden. Ein Spagat, der im Grunde 80 Jahre umfasst. Und die Bundesrepublik alt, die hat den Mauerfall nur als Erfolg ihres Systems erlebt, ohne sich der Verantwortung für ihre eigenen Defizite zu stellen.

Hans-Joachim Maaz: „Ich kann tatsächlich meinen Nächsten nicht ändern, aber mich immer wieder in Beziehung zu ihm setzen“

Zurück zur persönlichen Verantwortung. In „Verantwortung“ steckt ja das Wort „Antwort“ drin. Wem soll man denn antworten? Sich selbst? Der Gesellschaft? Gott?

Maaz: Ich bin der Meinung, dass man bei sich selbst beginnt. Ich bin in erster Linie verantwortlich, mir selbst Antwort zu geben. Das ist das Wichtigste. Die Selbstreflexion: Wer bin ich? Ist das, was ich denke, richtig? Wo kommt das her? Wie ist das determiniert? Stimmt das überein mit dem, was ich wirklich will und bin? Dann der Nächste: der Nachbar, der Partner, dass ich Antwort gebe auf die Beziehungssituation. Wie geht’s mir mit dir? Was will ich von dir? Inwieweit ist das getragen von irrationalen Wünschen und Hoffnungen und Enttäuschungen?

Ein hoher Anspruch. Kann das denn ein normaler, psychologisch nicht gebildeter Mensch leisten?

Maaz: Immer. Aus dieser Verantwortung kann man niemanden entlassen. Das kann auf niedrigem Niveau geschehen, aber es gehört zum Menschsein dazu. Und natürlich wird es dann immer komplizierter mit der Verantwortung, zum Beispiel der einem Volk, einer Gesellschaft gegenüber. Und irgendwann können wir uns selbst keine Antwort mehr geben. Ich denke, da braucht es dann einen höheren Bezug. Nicht nur eine Überzeugung, nicht nur einen Glauben, sondern vielleicht sogar eine Erfahrung von einer Eingebundenheit in einen höheren Zusammenhang, den wir als Menschen nie ergründen werden.

Kähler: Da stellt sich mir die Frage: Wie sieht die Praxis aus? Ich erlebe jetzt zunehmend auch bei uns Evangelischen eine Wiederaufwertung dessen, was wir Beichte nennen. Und ich denke, dass es auch so etwas geben muss wie einen Punkt am Tag, einen Punkt in der Woche, einen Punkt im Monat und im Jahr, wo man stille Zeiten hat, Zeiten, in denen diese Rückbesinnung geschieht. Was habe ich mit meinem Tag gemacht? Was habe ich mit den Leuten gemacht, die mir begegnet sind? Was habe ich aus der Verantwortung, die ich habe, gemacht? Was sind die Konflikte, die mich gerade beschäftigen und die mich unheimlich in Spannung halten und gar nicht loslassen? Das alles sind Dinge, die reflektiert werden wollen. Dazu braucht man einen Ort und die Zeit.

Das klingt anstrengend. Was kann der Antrieb sein, in diesen Spiegel zu schauen?

Maaz: Der Leidensdruck. Menschen kommen in die Krise, Menschen haben Beschwerden, Menschen werden krank. Leider ist es so, dass man nahezu darauf angewiesen ist, dass der Mensch in eine Krise kommt.

Wann kann man denn eigentlich eine Verantwortung guten Gewissens ablehnen?

Maaz: Ich neige dazu, auch Verantwortung über Dinge, die nicht in meiner Macht liegen, zu akzeptieren, aber immer mit der Frage: Und was ist mein Anteil, wo liegt mein Teil darin? Wir hatten das ganz zu Anfang – ich kann nicht sagen, also der Steinhäuser, oh Gott, das ist so weit weg. Die Frage bleibt: Wo bin ich Steinhäuser, wo habe ich diese Tendenzen oder wo will ich etwas abwehren, vernichten oder von mir fern halten?

Kähler: Die Überforderung fängt da an, wo man von den Leuten die Einrichtung einer guten Welt fordert. Bis dahin, dass manche Leute, gerade gutwillige, den Eindruck haben, wenn sie es nur richtig anfangen, könnten sie ihr Gegenüber beeinflussen, ihn zum guten Menschen umbauen. Ich weiß doch selber, wie ich bei meinem ersten Alkoholkranken dachte, da müsste doch noch was zu machen sein, aber da war nichts mehr zu machen. Die Verantwortung, die ich da hatte, war, wenn er auf den Rinnstein fiel, das Kopfkissen dazwischenzuhalten. Also die Weisheit zu haben, einen Trinker nicht umerziehen zu müssen, sondern zu sagen, okay, ich versuche, soweit es in meiner Macht steht (und die ist begrenzt), ihm noch zu einem erträglichen Leben zu verhelfen.

Maaz: Ich kann tatsächlich den Nächsten nicht ändern, aber ich kann immer wieder meine Meinung dazu sagen, ich kann mich immer wieder in Beziehung zu ihm setzen...

Kähler: Ja, aber die Macht, die Welt grundlegend zu verändern, hat nur einer. Für uns bin ich skeptischer geworden.

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