Fotos: Kathrin Harms
Willkommen in Klein-Bagdad
Zehntausende Flüchtlinge sind seit dem Irakkrieg in die USA gekommen. Sie fangen neu an – in dem Land, das ihr Land bombardierte. Ein Besuch bei der Familie von Sarah Abbas in einem südkalifornischen Städtchen
18.02.2013

Männer trinken Tee im „Café Babylon“, beim Friseur nebenan lassen sich Frauen die Haare schneiden. Metzger werben für „Halal“-Fleisch, das Restaurant „Ali-Baba“ verspricht: „All food from Iraq“ – alle Speisen aus dem Irak. Ein paar Straßen weiter, auf dem Parkplatz einer großen Einkaufs-Mall, sieht es wieder wie in Amerika aus. „Little Baghdad“ sagen die Leute aus der Gegend. Eigentlich heißt die Stadt El Cajon und liegt im Süden des US-Bundesstaates Kalifornien nahe San Diego. Tausende Flüchtlinge aus dem Irak kommen jedes Jahr hierher, Flüchtlinge vor den Unruhen, die auf die US-Invasion vor zehn Jahren folgten. Darunter seit 2010 die Familie Abbas: Shamal, 50, und Hanáa Abbas, 49, ihre Kinder Sarah und Raed, 18 und 16 Jahre alt. 

März 2003:

„Operation Iraqi Freedom“ nannten die Amerikaner ihre Invasion im Irak. Familie Abbas lebte damals in Dora. Durch dieses Viertel im Süden Bagdads mussten die US-Bodentruppen ziehen, das war Shamal Abbas klar. Er schickte seine Frau mit den Kindern zu ihren Eltern in einen anderen Stadtteil, der sicherer schien. Er selbst blieb beim Haus.

Im April erreichten die US-Truppen Bagdad. Bomben, Gefechte, dann war die Stadt eingenommen. Shamal Abbas versuchte seine Frau anzurufen, aber die Leitung war tot. Weil sie mit dem Auto zu ihren Eltern gefahren war, wusste er nicht, wie er zu ihr kommen sollte, Busse fuhren nicht.
Shamal Abbas marschierte los, lief und lief, vorbei an Leichen am Straßenrand. Was er nicht wusste: Seine Frau war unterdessen mit dem Auto unterwegs zu ihm und dem Haus. Sie sah ihn durchs Fenster, so begegneten sie sich wieder. Eine Szene wie aus einem Film, sagen die beiden heute.

Es hätte das Happy End sein können für Familie Abbas. Ein paar Tage später erklärten die Amerikaner ihren Sieg über das Regime von Saddam Hussein. Aber für die Familie Abbas wurde es danach noch schlimmer.

Sunniten kämpften gegen Schiiten, radikale Islamisten verfolgten Christen und andere religiöse Minderheiten, ständig gab es Terroranschläge. Die Gewalt zwischen den Bevölkerungsgruppen eskalierte zum Beinahe-Bürgerkrieg. 

Zuckertopf und Teetassen aus der Heimat

Ende 2005 entschloss sich die Familie Abbas zur Flucht . . .

Der damals achtjährige Raed hatte draußen mit Freunden ge­spielt, als Schüsse fielen. Raed überlebte schwer traumatisiert, seine Freunde starben. „Wer schießt denn auf spielende ­Kinder?“, fragt Shamal Abbas noch Jahre später fassungslos.

Die Familie floh nach Syrien und ließ alles zurück: das 300-­Quadratmeter-Haus, die Möbel und das Geschäft, das Abbas gemeinsam mit einem Freund betrieb. „I lost everything“, das ist einer der wenigen Sätze, die Shamal Abbas auf Englisch sagen kann: Er habe alles verloren.

Auch seinen Vater. Der arbeitete als Berater für die Amerikaner. Als er den Irak verlassen wollte, wurde er auf dem Weg zur Grenze erschossen. Wie er arbeiteten Zehntausende Iraker für die USA und ihre Verbündeten, als Übersetzer und Berater, als Mechaniker und Ingenieure. Manche aus Überzeugung, andere, weil es im kriegszerstörten Land kaum einen Job gab. Alle sind in Lebensgefahr. Wen die Extremisten als „Verräter“ ausmachen, den bedrohen, schikanieren, entführen und töten sie, bis heute. 

Terror und wirtschaftliche Not trieben seit dem Sturz Saddam Husseins etwa zwei Millionen Iraker in die Nachbarstaaten. Die meisten fliehen nach Syrien, mehr als eine Million Iraker leben dort. In einem Flüchtlingsviertel von Damaskus eröffnete Shamal Abbas eine kleine Bäckerei. Nach knapp fünf Jahren in Syrien bekam die Familie schließlich ein Visum für die USA.

Dezember 2010:

Zwei Monate lebt die Familie Abbas bereits in Klein-Bagdad. Ins richtige Bagdad können sie wohl nie mehr zurückkehren. In dem Land, das ihrem Land zuvor den Krieg erklärt hatte, wollen sie neu anfangen. Ein merkwürdiges Gefühl? Für Familie Abbas nicht. „Die meis­ten Iraker waren zwar gegen den Krieg“, sagt Shamal Abbas, „aber nicht gegen die Amerikaner.“

Zu Hause, das ist für Familie Abbas jetzt eine Dreizimmerwohnung am Rand der 100 000-Einwohner-Stadt El Cajon. Zwei Schlafzimmer, ein Wohnzimmer, alles spärlich eingerichtet. Shamal Abbas wird neuerdings auf seine Ähnlichkeit mit dem Schauspieler Richard Gere angesprochen, nur eben, dass er anders als Gere ­einen Schnurrbart trägt. Abbas lacht darüber. Überhaupt lacht er viel. Er ist voll des Lobes für die USA und voller Hoffnung. Die Familie sei glücklich, hier zu sein.

Ein Viertel aller Iraker, die in die USA kommen, lebt im Großraum von San Diego. Oft haben sie in El Cajon schon Verwandte oder Freunde. Um sie kümmert sich unter anderem die katholische Wohlfahrt in San Diego. Auf 1500 schätzte die Hilfsorganisation 2010 die Zahl der irakischen Neuankömmlinge, die sie betreut.

Adeem Ismaeil:

Bei der katholischen Wohlfahrt arbeitet Adeem Ismaeil, 31 Jahre alt. Sie hilft den Flüchtlingen, eine Wohnung anzumieten, und erklärt ihnen, wie sie Sozialhilfe beantragen. Sie organisiert Arztbesuche und sorgt dafür, dass die Kinder zur Schule kommen.

Adeem Ismaeil, Flüchtlingsbetreuerin

Sie ist selbst irakischer Flüchtling. Vor eineinhalb Jahren kam sie mit ihren beiden Kindern in die USA. Anders als die Flüchtlinge, die sie betreut, sprach sie schon vor ihrer Ankunft perfekt englisch. In Bagdad hatte sie deshalb als Übersetzerin gearbeitet, auch für die Amerikaner – ein Leben in ständiger Angst. „Sie haben Kopfgeld dafür bezahlt, die Übersetzer zu töten.“ Die USA konnten ihr und ihren Kindern etwas bieten, das es im Irak bis heute nicht gibt: Sicher­heit. Eine kleine Irakflagge ist an die Wand hinter Ismaeils Schreibtisch gepinnt, im Stifthalter steckt eine amerikanische Fahne. Ismaeil hat gerade mit einer irakischen Familie gesprochen. Deren 21-jähriger Neffe ist im Irak erschossen worden. Sie schüttelt den Kopf, solche Geschichten gehen ihr besonders nahe. „Wir teilen dieselbe Vergangenheit“, sagt sie.

Adeem Ismaeil braucht zwanzig Minuten mit dem Auto von San Diego nach El Cajon, wo sie die Familie Abbas besucht. Shamal und Hanáa Abbas bereiten ein Essen vor. Ismaeil erzählt von ihrem Telefongespräch und der Familie, deren Neffe erschossen wurde. „Das ist das Leben“, sagt Shamal Abbas bedrückt und zuckt mit den Schultern. „Das ist das irakische Leben“, sagt Adeem Ismaeil.

Nach dem Essen überreicht sie den Scheck: die 762 Dollar Sozialhilfe für diesen Monat. Zusätzlich gibt es Essensmarken im Wert von 600 Dollar, umgerechnet insgesamt 1000 Euro für vier Personen.

Die Mehrheit der irakischen Flüchtlinge . . .

ist bestens ausgebildet. Und wer Universitätsabschlüsse vorweisen kann, will keine Burger braten oder Hilfsarbeiter auf dem Bau werden. Einen Job zu finden ist nicht einfach. Kalifornien hat nach der Wirtschaftskrise die zweithöchste Arbeitslosenrate der USA, in El Cajon ist jeder Siebte ohne Job. Zudem können viele Iraker kein Englisch. In El Cajon sprechen sie arabisch – gut für den Neustart, auf Dauer schlecht für die Integration.

Im katholischen Wohlfahrtsverein spricht man spanisch, japanisch und arabisch
Nach Jahren der Angst im Irak und des Wartens in Syrien glaubt Familie Abbas, jetzt – nach zwei Monaten in den USA – werde alles gut. Jeden Tag nehmen sie zwei Stunden Englischunterricht. Heute besuchen sie zuvor noch einen Bekannten in der Stadt, einen Schlachter mit kleinem Laden an der Hauptstraße. Shamal Abbas würde gerne ins Geschäft ­einsteigen und in einer Ecke des Ladens irakisches Brot backen. „Immer wenn ich hier Iraker treffe, die ich aus Damaskus kenne, fragen sie: Wo ist unser Brot?“, sagt er. Abbas ist zuversichtlich, eine Marktlücke entdeckt zu haben.

Januar 2013:

„Honeymoon-Phase“ nennen Experten die euphorische Zeit des Ankommens. In der Regel folgen für Flüchtlinge drei weitere Phasen: Krise, Erholung, Anpassung.

Die Honeymoon-Phase war für Familie Abbas schnell vorbei. Amerika wurde für sie mit jedem Monat mehr zu einem Land der begrenzten Möglichkeiten. Shamal Abbas jobbte in vier Bäckereien in El Cajon. In keiner hatte man dauerhaft Arbeit für ihn. Eine eigene Bäckerei zu eröffnen, war ohne Startkapital unmöglich. Die Sozialhilfe reicht der Familie kaum zum Leben, weil nach Abzug der Wohnungsmiete kaum etwas bleibt.

Erst mal essen. Die Flüchtlingsbetreuerin (2.v.l.) Adeem Ismaeil besucht die Familie Abbas in El Cajon
Er sei enttäuscht von Amerika, sagt Shamal Abbas. Doch so schwer das Leben in den USA auch sei, eine Rückkehr in den Irak schließt er aus. Die Lage dort sei nach dem Rückzug der Amerikaner noch viel schlimmer als zuvor, da kämpfe jeder gegen jeden. „Egal wie es uns hier oder woanders geht, in den Irak werden wir nicht zurückkehren.“ Und weil es keinen Weg zurück gibt, bleibt nur der Blick nach vorn. 

 


Zehn Jahre nach dem Irakkrieg . . .

und zwei Jahre nach der Ankunft der Familie Abbas in den USA, werden sie noch einmal neu anfangen, dieses Mal in Phoenix im Nachbarbundesstaat Arizona. Dort seien die Mieten günstiger. Shamal Abbas hat gehört, dass es in Phoenix leicht sei, einen festen Job zu finden.

Dass Phoenix keine irakische Gemeinde hat, kein Klein-Bagdad, das findet Shamal Abbas gut. In El Cajon, wo alle Nachbarn ausschließlich arabisch miteinander sprechen, seien die Englisch-Fortschritte der Familienmitglieder ins Stocken geraten. Die Kinder hätten in der Schule noch immer Probleme. Das soll sich nun ändern. Die Abbas setzen weiter darauf, dass endlich alles gut wird. Vielleicht wird ihr amerikanischer Traum 550 Kilometer entfernt in Phoenix doch noch wahr. In ein paar Tagen ziehen sie um.

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