Weihnachten bei uns zuhaus
Die einen erzählen von unbeschwerter Kindheit, die anderen von Geschenkerummel, Einsamkeit – und Trost. 21 Autoren, darunter Thommie Bayer, Judith Kuckart und Gabriele Wohmann, haben ihre Lieblingsgeschichten aufgeschrieben. Die vollständigen Texte gibt’s als Buch
15.11.2013

Claudia Bender - Ich möchte es heil

Weihnachten ist Glück. Für mich. Und was noch viel wichtiger ist: hoffentlich für meinen Sohn. Ok, der ist dieses typische Berlin-Mitte-Kind, dessen Stapel Weihnachtsgeschenke höher ist als seine eigene Köprergröße mal zwei. Ein Sohn, der sich alle elektronischen Geräte wünscht, die amerikanische und japanische Hersteller zum Heiligen Abend sogar persönlich vorbeibringen würden.
Glück für diesen Zwerg ist das alles nicht. Glück für dieses Kind ist, wenn alle da sind: Mama, Papa, Oma, Opa, Schwester, Bruder und die anderen Leute, die seine Eltern noch meinen, am Heiligen Abend um den Baum rum versammeln zu müssen. Dieses Kind kann sich vor Glück kaum rühren, wenn wir bei ihm sind. Dann weiß er nicht, wohin mit sich, dann schlingt er seine Arme um meinen Hals und hält mich ganz fest. Dann ist es ganz still.

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Jens Böttcher - Im Michel

Es ist der erste Heiligabend meines Lebens, den ich allein verbringe. Ich könnte auch mit niemandem reden, weil mir alle Worte fehlen. Es gibt keinen Halt, außer einem schwachen Gebet, keine Gesellschaft außer der Flasche Wein, die wartet. Ich beschließe, meine Hütte zu verlassen, unter Menschen zu gehen, um nicht von der Schwere meiner Gedanken erdrückt oder an ihnen verrückt zu werden. Ein Weihnachtsgottesdienst im Hamburger Michel soll mich retten. Als wäre es eine weitere Finte des Schicksals, irre ich mich aber in der Anfangszeit, und als ich am Michel ankomme, strömen gerade Aberhunderte von Menschen aus der Kirche hinaus. Ich finde mich auf einer leeren Bank in dieser wundervollen, riesigen Kirche. Niemand ist mehr da. Die Welt ist still, ich bin allein. Und merke plötzlich, wie durch das Wehen eines leisen Windes, dass ich es doch nicht bin. . .

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Nora Gomringer - Wir und ein Baum

Oft eine Gans. Meistens. Eine schwere, vom Bauern gebracht. Wahrscheinlich eine, die durch den Zaun keifte und die man beim Namen „Ungeheuer“ rief. In meinem Dorf lebten die Ungeheuer vom Herbst bis in den späten Dezember. Dann dampfte der Atem ein letztes Mal, und die Bäuerinnen rupften Federn mit roten Kältehänden. Die Gans kam mit ihren Innereien fein säuberlich verpackt. Die Leber in einem Tütchen, das Herz in einem Säckchen. Eine ganze Weile suchte ich nach der Seele, die ich auch in einem Toppits-Behälter wähnte. Als ich dann einmal sah, dass sich die Seele in einem goldenen Schimmer mit dem letzten Atem in den Himmel aufmachte, war mir klar, dass sie nicht mitgeliefert werden konnte. Wo ich das sah? Natürlich im Fernsehen. Landkinder sehen Fern­sehen wie verrückt.

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Hartmut Rosa - Ein Versprechen

Nichts, gar nichts, hat mich je wieder so verzaubert, so gebannt, so bis ins innerste Mark berührt wie jene elektrischen Weihnachtssterne, die, als ich ein Junge war und mich zum ersten Mal mit dem Fahrrad in die nahe gelegene Stadt traute, plötzlich über mir aufleuchteten. Dabei war es nur eine ganz gewöhnliche Straßen-Weihnachtsbeleuchtung. Meine Mutter hatte mich losgeschickt, ihr eine Medizin aus der Apotheke zu holen. Es war kalt und dämmrig und düster. Und plötzlich flammte das Licht auf. Und in der Mitte, auf dem großen Platz, leuchtete ein von Hunderten von Kerzen erhellter Christbaum. Ich muss es ja jetzt nicht rechtfertigen, ich war noch ein Kind, keine zehn Jahre alt. Aber es war eine Epiphanie. Es war der sichtbare, fühlbare Beweis dafür, dass die Erde nicht kalt, tot, feindlich, stumm war, sondern dass sie leuchten, singen konnte.

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Ulla Hahn - Die Verwandlung

An diesem Weihnachtsmorgen stellte der Großvater ein etwa kochtopfgroßes, mit einem Geschirrtuch verhängtes Gebilde mitten zwischen die bescheidenen Gaben. Dann winkte er uns Kinder näher und zog aus der Hosentasche einen Schlüssel. Lüftete das Tuch. Fritz! Entfuhr der Großmutter ein Schrei, doch dann erstickte ihr Protest angesichts der wunderbaren Verwandlung: die alte Küchenuhr in ein Karussell! Und dann drehte sich der hölzerne Kreis, drehten sich weiße Rösser und Reiter in schwarzen Hosen und roten Röcken, Prinzessinnen in Krinolinen mit goldenem Haar, drehten sich graue Elefanten und gelbe Dromedare, und dazu erklangen Töne, die wir nicht kannten. Aber der Vater, der selbst die Weihnachtslieder nur widerwillig brummte, sang plötzlich mit fester Stimme: „Übʼ immer Treu und Redlichkeit“.

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