Marco Wagner
Mit Vitamin B ins sibirische Lager
Die schwedische Rot-Kreuz-Schwester Elsa Brändström setzte sich während des Ersten Weltkrieges für deutsche Kriegsgefangene ein
Portrait Eduard KoppLena Uphoff
19.11.2013

Nein, diesen politischen Trumpf wollte sie Adolf Hitler nicht gönnen. Ganz offensichtlich hatten er und die Nationalsozialisten ihr Anliegen gründlich missverstanden. Sie, die sich seit Jahren aufopfernd um deutsche Kriegsgefangene des Ersten Weltkrieges in Russland und ihre Familien in Deutschland kümmerte, tat das nicht aus nationalen Überlegungen. Ihr ging es um die Menschen. So schlug Elsa Brändström Hitlers Einladung auf einen Besuch mit einem einzigen Wort aus: „Nein!“

„Sibirien“ ist auch fast einhundert Jahre nach Beginn des Ersten Weltkrieges noch ein Synonym für menschenverachtende Gefangenenlager, für Zwangsarbeit und katastrophale Versorgung. Es gehörte sehr viel dazu, sich als Frau aus den besten Kreisen in St. Petersburg ausgerechnet der deutschen Kriegsgefangenen in Sibirien anzunehmen. Viele von ihnen hausten unter erbärmlichen Umständen in Erdbaracken.

Güterwaggons voller Kriegsgefangener auf dem Weg nach Sibirien

Elsa Brändström hatte den ganzen Glanz des zaristischen Russlands erlebt. Als Tochter des schwedischen Militärattachés in St. Petersburg geboren und in Schweden aufgewachsen, genoss sie später – wieder in Russland – Opern- und Theaterbesuche, festliche Bälle und Schlittenpartien. Sie ist 26 Jahre alt, als Deutschland Russland den Krieg erklärt. Sie absolviert eine Schnell­ausbildung als Krankenpflegerin und sieht im August 1915 zum ersten Mal Güterwaggons voller deutscher Gefangener auf dem Weg nach Sibirien, viele nur unzureichend bekleidet.

Ihre Verbindungen ins DiplomatenKorps erleichtern es ihr, bald darauf als Rot-Kreuz-Schwester in humanitärem Auftrag die Gefangenenlager in Westsibirien aufzusuchen. Und sie stößt auf unerträgliche, unhaltbare Zustände: Viele Gefangene sind in Erdhöhlen untergebracht, die tief in den Boden gegraben sind. Während der Schneeschmelze stehen die Höhlen teilweise unter Wasser. In ihrem Buch „Unter Kriegsgefangenen in Russland und Sibirien 1914–1920“ beschreibt Elsa Brändstöm die Verhältnisse: „Von den Eiszapfen an der Decke tropfte das Wasser. Kranke und Gesunde lagen so dicht beeinander, dass man in den Gängen über ihre Körper steigen musste. Das Essen wurde neben die Gefangenen gestellt. Nur wer Kraft hatte, aß. Die anderen hungerten.“ Schmelzwasser vermischt sich mit Abwasser und wird von den Gefangenen getrunken. Die Folge: Eine große Zahl der Männer erkrankt an Typhus. Auch Elsa Brändström infiziert sich und erkrankt schwer.

"Nur ruhig. meine Herren, eins nach dem anderen!"

Mehrere Male reist Elsa Brändström für längere Zeit als Delegierte des schwedi­schen Roten Kreuzes in Güterzügen nach Sibirien, bringt Medikamente, warme Kleidung, Lebensmittel. Und sie lässt sich, ganz selbstsicher in ihrer offiziellen Rolle, von den Wachmannschaften und Lagerkommandanten bei der Inspektion nicht behindern. Obwohl die Offiziere drängen, lässt sie sich Zeit: „Nur ruhig, meine Herren, eins nach dem anderen!“

Sie erreicht viel: Gesunde und Kranke werden getrennt untergebracht, die Erdbaracken aufgelöst, funktionierende Latrinen errichtet. Sie erreicht es als einzige Frau unter Hunderten Männern. Im Lager Krasnojarsk, in dem bislang vier von fünf Gefangenen starben, sinkt die Todesrate auf 18 Prozent. Entlang der transsibirischen Bahnstrecke entsteht eine Kette von medizinischen Stützpunkten, was auch auf ihre Anregungen zurückgeht. Erst als 1920 die Gefangenen in größerer Zahl freikommen, kehrt Elsa Brändström aus Russland zurück. Danach gründet sie – zum Teil mit amerikanischer Hilfe – in Deutschland zwei Kinderheime und ein Sanatorium für Kriegsheimkehrer. 1933 emigriert sie mit ihrem Mann, dem Dresdner Pädagogikprofessor Robert Ulich, einem überzeugten Sozialisten, nach Boston, hilft dort jüdischen Einwanderern. 1948 stirbt sie an Knochenkrebs.

"Engel" wollte sie nie genannt werden

Elsa Brändström wurde schon zu Lebzeiten als „Engel von Sibirien“ tituliert, eine Bezeichnung, die sie entrüstet zurückwies. Auch wieder so ein nationalistisches Klischee. Unsentimental wie sie war, bedeute­ten Elsa Brändström Ehrungen wenig. Und doch stimmt, was in der Urkunde zu ihrem Tübinger Ehrendoktor steht: „Sie schlug Brücken von Nation zu Nation und von Mensch zu Mensch, mächtiger, als das ­Gesetz sie errichten kann.“

Neuen Kommentar hinzufügen

Der Inhalt dieses Feldes wird nicht öffentlich zugänglich angezeigt.

Plain text

  • Keine HTML-Tags erlaubt.
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.
Wählen Sie bitte aus den Symbolen die/den/das Segelboot aus.
Mit dieser Aufforderung versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt.