Der gute alte Frachter Kirche ist wieder fit für die Weltmeere
Portrait Eduard KoppLena Uphoff
19.04.2013

chrismon Redakteur Eduard Kopp

Es ist ein gewaltiges Trockendock, das da in der Elbe gegenüber dem Hamburger Fischmarkt schwimmt. Frachtschiffe fahren in diesen riesigen stählernen Hohlkörper hinein, das Wasser wird aus den Kammern des Docks gepumpt und dann erhebt sich mit dem ganzen Schiff langsam aus dem Wasser. Der Schiffsrumpf liegt frei für Reparaturen aller Art. Rost, Schrammen, Kollisionsspuren, Tier- und Pflanzenbelag aller Art können entfernt werden. Neue Nieten einklopfen, schleifen, schweißen, Rostschutzfarbe drauf – das Schiff ist wieder flott.

Fünf Tage lag die evangelische Kirche im Trockendock des Kirchentags. 120000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer machten sich auf die Suche: Wo sind die Rostbeulen, die Schrammen? Wird der alte Frachter Kirche etwa nur durch die Farbe zusammengehalten? Was muss getan werden, damit er wieder Fahrt aufnehmen kann? Es gibt einiges zu tun für die kirchlichen Dockarbeiter. Das Schiff muss umgerüstet und fit gemacht werden für die stürmischen Verhältnisse, mit denen zu rechnen ist. Da ist einiges auf dem Reparaturzettel, Soziales, Politisches, Wirtschaftliches.   

Die alten, neuen Spekulationsgeschäfte der Banken

Nachhaltigkeit. Hier gab es von den Schieflagen im Finanzwesen bis zur wachsenden Armut weltweit unerschöpfliche Gelegenheiten, sich über dramatische Fehlentwicklungen zu ärgern und nach Reparaturmöglichkeiten zu suchen. Evangelische Entwicklungsexperten und Basisgruppen im „Markt der Möglichkeiten“ sehen die dramatische Verarmung ganzer Weltregionen mit Sorge.

Leider ist es so, dass die Banken nach dem Crash, den sie durch unverantwortliche Spekulationen und Kreditvergaben ausgelöst haben und der die Welt wirtschaftlich an den Abgrund geführt hat, zu genau denselben Praktiken zurückgekehrt sind. In der Hamburger Hauptkirche St. Michaelis, dem „Michel“, machte sich der SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück stark für eine bessere Bankenkontrolle, für ein Verbot ungedeckter Leerverkäufe und jeder Spekulation mit Rohstoffen, vor allem mit Nahrungsmitteln. Wie sehr die Banken schon wieder zur alten Zockerpraxis zurückgekehrt sind, zeige sich schon daran, dass der Bankenhandel mit Derivaten im Jahr 600 Billionen US-Dollar ausmache, wirkliche Wertschöpfung im selben Zeitraum aber nur ein Zehntel erreiche, also 60 Billionen Dollar. Die tödliche Spekulationsblase ist wieder da.

Steinbrück hält es für die „entscheidende ordnungspolitische Frage“, wer das Sagen habe, die entgrenzten, globalisierten Märkte oder demokratische legitimierte Institutionen? Er wünscht sich als Politiker natürlich das zweite. Aber er wirbt auch um Rücksicht für die Nöte der Griechen und rechnet vor: „Wenn wir die Sparpläne der Griechen auf Deutschland übertragen würden, müssten wir 130 Milliarden Euro jährlich in den vier öffentlichen Haushalten sparen – im Bundeshaushalt, den Länderhaushalten, den Kommunen und in den Sozialversicherungen.“ Die hohe Jugendarbeitslosigkeit in manchen südeuropäischen Ländern - die Rede ist von bis zu 50 Prozent - sei „nackter Sprengstoff“. Er nimmt damit ein Thema auf, das die evangelische Kirche auf Platz 1 ihrer Sorgenliste geschrieben hat.

Europa versucht Griechenland „abzusprengen“

Sein Parteifreund Frank-Walter Steinmeier, Fraktionsvorsitzender im Bundestag, warnte im Blick auf die Nöte Griechenlands bei einer Bibelarbeit: „Wir glauben heute, alle konfessionelle Spaltungen in Europa überwunden zu haben.“ Aber sie kehrten zurück, und zwar als wirtschaftliche und soziale Spaltungen. In der wirtschaftlichen Reglementierung des hoch verschuldeten Landes sieht er auch die Gefahr, Griechenland mit seiner christlich-orthodoxen Kultur „abzusprengen“. In Anspielung auf den im Alten Testament beschriebenen Schuldenerlass alle sieben Jahre (sie ist historisch allerdings nicht verbürgt) meint er: „Gerade wer Fehler gemacht hat, braucht die Chance für einen Neuanfang.“

Der Eindruck verstärkt sich beim Hamburger Kirchentag, dass nicht wenige Politiker von den Kirchen moralische Rückendeckung für bevorstehende Umverteilungen einfordern und auch bereitwillig bekommen. Ein tiefer Griff in die Taschen der reichen Europäer, so die einhellige Meinung vieler Redner, ist gar nicht so schlimm, sondern vielmehr ein Gebot christlicher Nächstenliebe sei.

Einschwören auf den bevorstehenden Verzicht

Radikaler Verzicht: Das war eines der Kernworte des Kirchentags. Das resultierte auch aus dem Kirchentagsmotto „Soviel du brauchst“. Steinmeier flüchtet sich in seiner Bibelarbeit allerdings ins Abstrakte: „Mir geht es hier nur um die Haltung“, also die biblische Bereitschaft, Schulden zu erlassen. Die finanziellen Analysen gehörten anderswo hin. Auf Großzügigkeit versucht bei derselben Bibelarbeit auch Eckhard Nagel die Zuhörer einzustimmen. Er ist evangelisches Mitglied im Deutschen Ethikrat, Mediziner und Präsident des Kirchentags 2005 in Hannover und des Ökumenischen Kirchentags 2010 in München. Allerdings klingt es sehr viel sympathischer, wenn er als ein Kirchentagsmann auf freiwilligen Verzicht anspielt, als wenn Politiker bereits die Hand nach dem Kapital der Bürger ausgestreckt haben. Ja, das bleibt vom Kirchentag – der Auftrag zu einer ernsthaften Diskussion in der Breite der Gesellschaft: Wie machen wir das mit dem Verzicht?

Stichwort Ressourcenverbrauch: Da steckt der reiche Westen in einem Hase-Igel-Rennen, wie Reinhard Loske, Professor für Nachhaltigkeit in Witten-Herdecke, beschrieb. Auch wenn wir mit den Ressourcen sparsamer wirtschaften wollen – wir schaffen es kaum. Es gibt immer sparsamere Autos, aber es werden auch immer mehr. Loske klagt: „Noch nie war der Energiebedarf und der Flächenverbrauch so hoch wie heute.“ Er plädierte dafür, die im Bruttoinlandprodukt (BIP) nicht berücksichtigten sozialen und kulturellen Wertzuwächse ebenfalls zu bewerten. Nachhaltig leben und wirtschaften – ein Riesenauftrag für Kirche und Gesellschaft der Zukunft!

Thema Waffenexport: zu wichtig für Geheimniskrämerei

Stichwort Rüstungsindustrie. Nicht zuletzt die immensen Kosten der Rüstung entziehen den kleineren Volkswirtschaften Mittel, die sie sinnvoller in Bildung, Infrastruktur und Gesundheitswesen investieren könnten. Der südafrikanische Kritiker von Waffenhandel und Korruption Andrew Feinstein hatte sowohl die demokratischen Länder, als auch Diktaturen auf der Liste seiner Kritik. An Libyens „Revolutionsführer“ Muammar al-Gaddafi „wurden so viele Waffen verkauft, dass er nicht genug Leute hatte, um sie einzusetzen.“ Dass in Deutschland Waffenexporte vom Bundessicherheitsrat, also am Deutschen Bundestag vorbei, genehmigt werden, findet die deutliche Kritik der evangelischen Kirche. Ihre politische Forderung: Waffenverkäufe gehören in die öffentliche politische Debatte und in die Verantwortung des ganzen Bundestags. Ein politisches Ziel, für das es sich zu kämpfen lohnt.

Stichworte: Offene Gesellschaft und Religionsvielfalt. Auch da setzte der Hamburger Kirchentag Maßstäbe. Zum ersten Mal in seiner Geschichte zelebrierten eine evangelische Pfarrerein, Anne Gideon, und ein katholischer Pfarrer von Hamburg „Kleinen Michel“, der Jesuitenpater Martin Löwenstein, einen Eröffnungsgottesdienst gemeinsam. Juden, Muslime, Buddhisten: es gab in Hamburg zahlreiche gemeinsame Veranstaltungen. Und es wird sie hoffentlich nach dem guten Hamburger Beispiel auch vermehrt überall in Deutschland geben.

Der Streit um den „Dritten Weg“ der Kirche geht weiter

Stichwort. Dritter Weg. Da läuft die Entwicklung ziemlich sicher auf einen weiteren Rechtsstreit zu. Darf die Kirche ihren Angestellten zum Beispiel Streiks verbieten? Der Chef der Gewerkschaft Ver.di, Frank Bsirske, scheint einen Rechtsstreit selbst vor dem Europäischen Gerichtshof ins Auge zu fassen. EKD-Spitze und Gewerkschaftsführer trafen sich während des Kirchentags zu einem vertraulichen Gespräch. Die evangelische Kirche gibt sich nach außen gelassen. Der stets verbindliche und hier um Deeskalation bemühte EKD-Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider meinte vor der Presse: „Wir bewegen uns kräftig und wollen uns auch weiter auf Ver.di zu bewegen.“ Und dann fällt der Satz: „Vielleicht helfen uns solche Verfahren auch, die Lage besser einzuschätzen.“

Wer zum Kirchentag fährt, der will Einsichten und Erkenntnisse gewinnen und mit neuen Erfahrungen nach Hause zurückkehren. „Jetzt tun wir was“ ist nicht das schlechteste Mitbringsel vom Kirchentag. Die Bundestagswahl steht vor der Tür. Das ist eine probate Möglichkeit, den politischen Weg der Bundesrepublik zu beeinflussen. Wobei Kirchentagspräsident Robbers bei der Abschlusspressekonferenz zufrieden feststellte, dass der Kirchentag vom Wahlkampf kaum beeinflusst wurde.

Eine kluge Sozialethik für das 21. Jahrhundert

Was lässt sich sonst tun? Eine ganze Palette an christlichen Handlungszielen beschrieb der bayerische Landesbischof und Bamberger Theologieprofessor Heinrich Bedform-Strohm in seinem Vortrag über eine „ökumenische Sozialethik für das 21. Jahrhundert“. Er übertrug die biblische „Option für die Armen“ auf die gesellschaftlichen Herausforderungen von heute. Und dabei kamen sehr pointierte Einschätzungen und kluge Prinzipien heraus. Zum Beispiel: „Bei uns darf nur noch wachsen, was zur Verminderung des Ressourcenverbrauchs beiträgt.“ Oder: „Armut ist fehlende Teilhabe, nicht nur materieller Mangel.“ Der Staat, wir alle müssen dafür sorgen, dass genug Mittel zur „Befähigung der Menschen“ zu Verfügung hat.

Er berichtet auch, dass im Kleinen in der Kirche sehr viel mehr geschehe, als allgemein bekannt sei: So warb die bayerische Landeskirche bei der Bundesregierung dafür, Flüchtlinge aus Syrien in Deutschland aufgenommen werden. 5000 von ihnen werden nun aufgenommen werden. Die Liste der „ökumenischen Sozialethik“ ergänzte die katholische Sozialethikerin Marianne Heimbach-Steins von der Universität Münster noch um die Ziele der Geschlechtergerechtigkeit.

Heraus aus dem Trockendock

Es war ein sozialethisch fruchtbarer, im Stil versöhnlicher Kirchentag. Das Dock ist wieder in die Fluten der Elbe eingetaucht, das Kirchenschiff ausgelaufen. Bald zeigt sich, ob es hochseetauglich ist – im Meer der Spekulationsverluste, des Rüstungshandels und dramatischer Jugendarbeitslosigkeit. Aber eins war bereits beim ersten Blick auf den Rumpf des alten Frachters klar: Es ist nicht die Farbe, die das Schiff zusammenhält. Es ist ein stabiler, zukunftstauglicher Dampfer, auf dem eine ideenreiche und tatkräftige Mannschaft ans Werk geht.   

Das Hauptproblem ist doch, dass immer mehr Menschen aus der Kirche austreten, weil sie nicht mehr an einen allmächtigen Gott glauben. Es ist richtig, an religiöse Dinge zu glauben, die nicht allmächtig sind. Nötig ist ein Mittelweg zwischen Gottglaube und Unglaube. Mehr dazu auf meinem Blog.

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Als regelmäßiger Kirchentagsbesucherin der letzten Jahrzehnte komme ich immer wieder innerlich bereichert und hoch motiviert zurück. Gerade auch in heutiger Zeit ist es wichtig, sich einzumischen in die sozialen, ökologischen und ökonomischen Bereiche "immer wieder, immer wieder, immer wieder" (Zitat aus der Bibelarbeit vom Donnerstag von Frau Dr. Christina Aus der Au". Jeder Einzelne kann dazu etwas beitragen!

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