Ganz werden oder ganz bleiben?
Von Ankara bis Ludwigsburg könnte die EU mal reichen. Der eine will’s, der andere nicht
Christian O. Bruch
08.08.2013

chrismon: Herr Wissmann, Herr Öger, erklären Sie uns mal, was Europa ist!

Matthias Wissmann: Europa ist ein klar umrissener geografischer Raum. Europa ist aber natürlich auch das Produkt einer geistesgeschichtlichen Entwicklung, bestimmt durch das Christentum, die Aufklärung, die Idee der Toleranz und des Respekts vor dem anderen.

Vural Öger: Es gibt mehrere Definitionen Europas. Europa war der Sage nach der Name der Tochter des Königs von Phönizien – übrigens ein Land, das noch südlicher lag als die heutige Türkei. Um Europa geografisch zu begrenzen, hat man vor einigen Jahrhunderten eine willkürliche Grenze gezogen: Am Uralgebirge sollte der Kontinent aufhören und am Bosporus. Geistesgeschichtlich spielt natürlich die Aufklärung eine entscheidende Rolle, aber ich finde, ihre Ideen sind ein Vermächtnis Europas an die Welt. Man kann nicht sagen, die Werte der Aufklärung gehörten nur den christlichen europäischen Ländern.

Wissmann: Da würde ich sogar zustimmen: Wir haben die Aufklärung nicht gepachtet. Man könnte sich wünschen, dass europäische Liberalität und Toleranz ein Erbe der Weltgemeinschaft wird. Aber wir wissen beide, dass das leider nicht so ist.

Öger: Das Verständnis von Europa ändert sich, und zwar immer in Abhängigkeit von der Geschichte. Das merken wir auch bei der gegenwärtigen Diskussion um die Europäische Union.

Wissmann: Für mich ist der entscheidende Punkt: Europa hat sich befreit von einem engstirnigen Nationalismus. Der wurde ersetzt durch die Idee einer politischen Union. Deshalb geht es bei weiteren Beitritten zur EU darum, dass wir diesen Gedanken der politischen Union nicht durch Überdehnung kaputtmachen. Hier liegt meine eigentliche Sorge über einen Beitritt der Türkei.

Öger: Ich würde Ihnen Recht geben, wenn Sie die Europäische Union definieren im Sinne des karolingischen Reiches. Dann dürfte es aber nur Frankreich, Italien, die Beneluxländer und Deutschland umfassen. In konservativen Kreisen spricht man gern vom „Abendland“ – der Begriff bezeichnet übrigens die Länder westlich von Italien. Wenn ab 2007 Bulgarien und Rumänien dazukommen, dann ist das ein Europa mit orthodoxen Ländern, die zum Beispiel nie von der Aufklärung behelligt wurden.

Wissmann: Wir streiten doch gar nicht über Abendland oder Morgenland, wir streiten auch nicht über Christentum oder Islam – jedenfalls muss darüber niemand mit mir streiten. Sondern wir streiten über die Frage: Wie weit kann man einen gemeinsam verantworteten und verwalteten politischen Raum dehnen, ohne das ganze Gebilde kaputtzumachen. Wir haben doch schon jetzt einen Berlusconi, wir haben einen Tony Blair, die beide in Wahrheit gar nicht die politische Union Europas wollen, sondern eine gehobene Freihandelszone. Wenn die Türkei dazukommt, dann kriegt sie zwangsläufig nur noch eine Freihandelszone geboten, nicht mehr eine politischen Union.

Vural Öger: „Die EU braucht dringend eine Brücke zur islamischen Welt“

Öger: Diese Argumente hätten viel früher kommen müssen, nicht erst 40 Jahre nach dem ersten Beitrittsversprechen der EU an die Türkei. Jetzt bedeuten diese Einwände nur: Ihr seid nicht gut genug für Europa, euch steht nur eine Zweitklassigkeit zu – das ist die Botschaft, die bei den Türken angekommen ist. Das ist für Türken jeder Couleur, jeder Partei eine Beleidigung: Ihr könnt bei uns nicht Mitglied werden, euch steht nur eine „privilegierte Partnerschaft“ zu. Da sagt der Türke: Wozu? Warum? In der Türkei arbeiten inzwischen rumänische Gastarbeiter für die Hälfte der Löhne von Türken, das Pro-Kopf-Einkommen in Rumänien ist nur halb so hoch wie in der Türkei, vom Bruttosozialprodukt ganz zu schweigen.

Wissmann: Rumänien ist doch noch gar nicht aufgenommen.

Öger: Ja, aber in 2007 kommen sie rein.

Wissmann: Herr Öger, Sie sind Unternehmer. Die Europäische Union wird eine Türkei als dann möglicherweise größtes Mitglied der Union weder wirtschaftlich noch finanziell noch sozialpolitisch verkraften können. Die EU hätte dann statt zehn Millionen plötzlich 35 Millionen Bauern. Können Sie mir sagen, wie wir diese Rechnung bezahlen sollen?

Öger: Sie tun so, als ob die Türkei morgen reinkommen würde. Das ist nicht der Fall. Eine EU-Mitgliedschaft wird frühestens 2018, 2019 wahr werden. Vielleicht werden dann die Südländer die Nordländer unterstützen müssen. Die ganze Verteilung wird anders aussehen. Ich habe mit vielen Unternehmensbossen in Deutschland gesprochen: Die träumen davon, dass die Türkei Teil der EU wird.

Wissmann: Manche Unternehmer würden ja gern auch Russland in der EU haben. Ich kann nicht nur in Markterfolgen denken, wenn es um Europa geht. Die gleichen Vorteile können Sie haben, wenn Sie eine umfassende Freihandelszone schaffen.

Öger: Was befürchten Sie eigentlich – eine Invasion von anatolischen Bauern? Das ist Unsinn. Die gleiche Befürchtung hatte man einst bei Spanien und Portugal – aber es ist keiner gekommen. Ich sage Ihnen: Kein Türke verlässt sein Land gern. Es wird sogar eine Rückemigration geben, wenn die Lebensverhältnisse in der Türkei besser werden. Was soll überhaupt ein anatolischer Bauer in Deutschland im Jahr 2015, wenn da gar keine Handarbeit mehr gebraucht wird. Überhaupt: Wenn Sie die demografische Zukunft Deutschlands anschauen, dann können Sie froh sein, wenn gut ausgebildete junge Menschen hier einwandern.

Wissmann: An einer Einwanderung, die qualifiziert ist, müssen wir Deutsche interessiert sein, da haben Sie Recht. Das ändert nichts daran, dass ein Land von der Größe der Türkei, wenn es in die normalen Mechanismen der EU eingeführt wird, wirtschaftlich und sozialpolitisch nicht zu verkraften ist.

Öger: Haben Sie ein Problem mit einer Europäischen Union mit zwei, drei Geschwindigkeiten? Ich nicht. Es wird eine Euro-Zone geben, es wird eine Schengen-Zone geben, und es wird eine weitere Zone geben mit Ländern, die nach und nach reinkommen.

Wissmann: Die zwingende Konsequenz ist dann, dass die politische Europäische Union in der heutigen Form nicht mehr existieren wird. Es wird eine gehobene Freihandelszone geben mit einigen Elementen der Verteilung, es wird sich ein Kern-Europa um Frankreich, Deutschland, vielleicht Italien entwickeln...

Öger: Ja, warum denn nicht? Wo ist das Problem?

Wissmann: Sie sprachen eben von Zweitklassigkeit. Was ist zweitklassiger: Im äußersten Ring der EU zu sein oder eine gleichberechtigte Partnerschaft zu haben? Meine Sorge ist, dass wir in den nächsten zehn Jahren in Beitrittsverhandlungen mit der Türkei lauter freundliche Reden hören und am Ende feststellen, dass die Türkei einer völlig veränderten EU beitritt, die mit einer politischen Union nichts mehr zu tun hat. Da werden Sie sagen: Okay. Aber das ist nicht mein Konzept.

Öger: Seien wir ehrlich: Wie ist denn die EU entstanden? Zunächst mal war es eine Montan-Union – eine reine Interessengemeinschaft, mehr nicht. Dem Mann auf der Straße ist es doch völlig gleichgültig, ob es ihm in einer engen politischen Union oder einer weiter gefassten Union gut geht. Es wird nie die Vereinigten Staaten von Europa geben, dazu ist unsere historische Entwicklung zu unterschiedlich. Wir werden unser Deutschtum behalten, unsere Sprache, unsere Geschichte, unsere Kultur. Ein Finne wird nie ein Portugiese. Europa ist eine Wertegemeinschaft und diese Werte sind nicht einem Volk in die Wiege gelegt worden, die sind erkämpft worden in unsäglichen Schlachten und Kriegen im Laufe der Jahrhunderte. Auch die Deutschen haben nach zwei verlorenen Kriegen die Demokratie von oben verordnet bekommen. Warum soll nicht ein Land mit muslimischer Bevölkerung Teil dieser Wertegemeinschaft werden können?

Wissmann: Ich würde die Grenzen Europas auch nicht an der Religion festmachen, sondern an der Wertegemeinschaft. Und ja: Wir werden kein Bundesstaat werden. Aber doch mehr als eine Ansammlung von Nationalstaaten! Sonst, fürchte ich, flammen eines Tages die alten Konflikte in Europa wieder auf. Wenn wir diese politische Union immer stärker gefährden...

Öger: Warum sagen Sie „gefährden“? Warum sollte die Türkei eigentlich die politische Union gefährden? Die Türkei ist in allen europäischen Institutionen vertreten, in allen – außer in der EU. Ein Land, das die „Kopenhagener Kriterien“ erfüllt – Beachtung der Menschenrechte, funktionierende Demokratie...

Wissmann: Beachtung der Menschenrechte – sind wir da so sicher, dass da schon alles erfüllt ist?

Öger: Die Todesstrafe ist abgeschafft.

Wissmann: Große Fortschritte, keine Frage.

Öger: Die Kurden dürfen in eigener Sprache Radio- und Fernsehstationen gründen, Zeitungen herausbringen. Ist genehmigt.

Wissmann: Sie wissen, wie man noch mit dem Thema „Genozid an den Armeniern“ umgeht? Was die offizielle Staatsphilosophie ist?

Öger: Schauen Sie, wenn Sie mit dem armenischen Völkermord kommen, dann kann ich mit dem von den Deutschen unterdrückten Herero-Aufstand kommen...

Wissmann: Nein, nein, das Entscheidende ist, dass wir uns zu den schlimmen Seiten unserer Geschichte bekennen. Daran erkennt man mehr als an offiziellen Erklärungen.

Öger: Lassen Sie die ganzen historischen Sachen weg, das führt uns zu nichts. Wenn Sie Europa sagen, dann ist vielleicht in einer Schublade „Newton“, in der anderen „Descartes“. Dann kann ich andere Schubladen ziehen: „Holocaust“, „Dreißigjähriger Krieg“, „Kreuzzüge“, „Kolonialismus“.

Wissmann: Tatsächlich gibt es große Fortschritte in Sachen Menschenrechte in der Türkei. Aber wir stellen auch fest, dass es im Vollzug der politischen Absichtserklärungen und Gesetzesformulierungen noch riesige Defizite gibt.

Öger: Wissen Sie was: Europa braucht dringend eine Brücke zur islamischen Welt. Dringend!

Matthias Wissmann: „Die EU vertiefen, sonst flammen eines Tages die alten Konflikte in Europa wieder auf“

Wissmann: Aber dazu ist keine Vollmitgliedschaft nötig.

Öger: Ein Land mit islamischer Bevölkerung, mit einem laizistischen Staatswesen, einem reformierten politischen System, einer funktionierenden Marktwirtschaft – das ist ein idealer Partner. Schauen Sie, ich bin in der Türkei kemalistisch erzogen worden, das heißt strikte Trennung von Religion und Staat, wir hatten keinen Religionsunterricht, wir sind nach dem französischen Muster erzogen worden, unser Zivilrecht hat das Schweizer Recht als Grundlage, unser Strafrecht ist nach italienischem Muster. Die Türkei ist nach Atatürk so reformiert worden wie kein anderes Land in der islamischen Welt. Und jetzt kommt Folgendes hinzu: Wenn das Bevölkerungswachstum so weitergeht, haben Sie in 50 Jahren südlich und südöstlich von Europa islamische Gesellschaften mit über einer Milliarde Menschen. Stellen Sie sich mal vor: Eine demokratische Türkei mit starker Armee an den Grenzen Europas schützt die Werte Europas.

Wissmann: Ich stimme diesen strategischen Überlegungen zu. Gerade deshalb denke ich ja über dritte Wege nach – als Alternative zur Vollmitgliedschaft der EU und zum heutigen Zustand. Übrigens nicht nur für die Türkei, sondern auch für andere bedeutende Nachbarländer wie zum Beispiel Russland.

Öger: Also Russland können wir wirklich beiseite lassen.

Wissmann: Entschuldigung, Sie haben ein strategisches Interesse, ich habe auch ein strategisches Interesse: Was ist mit Russland, was ist mit der Ukraine, was ist mit Weißrussland? Das sind unsere Nachbarn, unmittelbar vor unseren Grenzen!

Öger: Herr Wissmann, haben Sie mit Russland vor 40 Jahren ein Assoziierungsabkommen geschlossen mit einer Mitgliedschaftsperspektive? Nein!

Wissmann: Damals gab es die Teilung Europas, damals gab es die UdSSR, das waren andere geschichtliche Umstände.

Öger: Aber bitte sehr: Ein Land mit islamischer Bevölkerung aufzunehmen wäre ein Akt von welthistorischer Bedeutung. Damit hätten wir ein modernes Vorzeigeland für die islamische Welt. Und außerdem: Die Türkei hat 500 Jahre lang auf dem Balkan europäische Politik mitbestimmt. Die Türken haben sich immer Europa zugehörig gefühlt, nie der arabischen Hemisphäre. Wenn ich Sie richtig verstehe, dann ist Europa für Sie ein christlicher Klub. Sie sagen es nur nicht offen.

Wissmann: Auf beiden Seiten gibt es Leute, die gleich über das Abendland reden oder über die Religion und so der Frage ausweichen: Was wollen wir mit der politischen Union Europas?

Öger: Es gibt in der Türkei viele, die alten osmanischen Träumen von einer Führerschaft im ganzen Nahen Osten nachhängen, mit religiösen Tendenzen. Sollte Ende dieses Jahres nicht ein Datum gegeben werden für Beitrittsverhandlungen, wird ein Abdriften von Europa beginnen. Haben Sie nicht lieber islamische Demokraten in Ihren Reihen als islamische Autokraten vor Ihrer Haustür?

Wissmann: Ich teile Ihre Sorge. Aber: Wenn es in der Türkei keine authentische Kraft gibt, die politisch stark genug ist, um den Reformkurs selbständig fortzusetzen, dann muss man Sorge haben, welche Türkei man in die EU eigentlich aufnehmen würde.

Öger: Ohne amerikanischen Einfluss hätte sich Deutschland auch nicht demokratisiert. Ohne äußeren Einfluss hätte es Spanien nicht geschafft, nicht Portugal, nicht die Balkanstaaten.

Wissmann: Recht haben Sie an einem Punkt, Herr Öger: Das Thema hat eine starke emotionale Konnotation.

Öger: Herr Wissmann, ich bin nicht emotional, aber für Türken heißt das, was Sie und Ihre Partei sagen: Sie wollen uns zweitklassig machen. Sie verletzen den Stolz eines ganzen Landes, das ist ein ganz gefährlicher Weg. Diese ethnisch-religiöse Einstellung der CDU stört mich gewaltig. Und nicht nur mich, darüber sollten Sie nachdenken. Heute sind es 500 000 Wähler, in drei, vier Jahren eine Million Wähler türkischer Herkunft.

Wissmann: Das ist natürlich genau das Motiv Schröders. Dem Kanzler geht es nicht um die Frage des Beitritts der Türkei, sondern um die türkischen Wählerstimmen in Deutschland.

Öger: Und der CDU geht es um die Emotionen am Stammtisch.

Wissmann: Haben Sie hier ein Stammtisch-Argument gehört?

Öger: Von Ihnen nicht. Sie sind moderat. Aber wenn ich die Sprüche von Stoiber höre – das sind Stammtisch-Reden.

Wissmann: Ich hab eine Bitte: Zahlen Sie, wenn mal falsche Töne kommen, nicht mit gleicher Münze zurück. Es geht nicht um eine Zweitklassigkeit der Türkei, es geht nicht um die Ehre der Türken in Deutschland. Das sollten auch Sie nicht herbeireden.

Öger: Alle Türken empfinden das aber so, das versichere ich Ihnen.

Wissmann: Was nicht wahr ist, wird man auf Dauer nicht empfinden können.

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