Dorothee Sölle 1985 auf dem Evangelischen Kirchentag in Düsseldorf - Foto: Norbert Neetz
Ganz schön rebellisch
Was bleibt von der politischen Theologin und Visionärin Dorothee Sölle? Fragen an ihre Biografin
Hedwig Gafga, Autorin
09.04.2013

chrismon: Was fasziniert Sie an Dorothee Sölle?

Renate Wind: Sie hat die politischen Bewegungen ihrer Zeit als Theologin weitergedacht. Vor allem die Friedensbewegung; schon während des Vietnamkriegs sagte sie, die Passion Jesu finde in Vietnam statt. Sie unterstützte auch die Antiapartheidbewegung in Südafrika, die Befreiungstheologie, die Basisgemeinden in ­Lateinamerika, in den achtziger Jahren den „Konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“. Sie hat in ihrem Engagement die Hoffnungen, Sehnsüchte und Visionen einer Generation im Widerstand zum Ausdruck gebracht und einen Teil der 1968er-Bewegung in die Kirche zurückgeholt.

Die Hoffnungen nur einer Generation?

Wind: Sie hat dem Widerstand gegen die Strukturen der Gewalt eine spirituelle Dimension verliehen, die über die Erfolge und Niederlagen des Tages hinausweist. Da das große Thema Gerechtigkeit noch lange nicht erledigt ist, wird sie die Hoffnungen und Kämpfe für ein menschenwürdiges Leben weiter inspirieren.

Womit hat Dorothee Sölle Sie persönlich beeindruckt?

Wind: Sie war für mich eine ältere Zeitgenossin, mit der ich das Engagement für Gerechtigkeit teilen konnte und die es mir möglich gemacht hat, Politik und Theologie miteinander zu verbinden. Jenseits des Zeitbedingten und auch Vordergründigen bleiben für mich ihre theologischen, meditativen, an der Mystik orientierten Texte, die immer auch eine politische Dimension haben.

Man spricht von Widerstand bei Menschen, die gegen eine Dikta­tur kämpfen. Passt er auch zur hiesigen Generation der 68er, der 70er und 80er Jahre?

Wind: Widerstand waren ja auch Blockaden vor Militärstützpunkten, Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg und die Mi­litärdiktaturen in Lateinamerika, die damals von den westlichen Regierungen unterstützt wurden – auch wenn diese Form des Widerstands nicht vergleichbar ist mit dem Widerstand ­unter Lebensgefahr.

War Sölle blind gegenüber Gewalt von linker Seite?

Wind: Wir waren nicht Zeitgenossen des Stalinismus. Dorothee Sölle war, wie die Bewegungen, die sie mittrug, ausgerichtet auf das, was wir in der westlichen Welt als Probleme und auch als Verbrechen empfunden haben. Ihre Haltung gegenüber der DDR war vom Grundtenor einer kritischen Solidarität bestimmt.

Solidarisch mit dem Funktionärsregime in der DDR?

Wind: Mit dem Versuch vieler Menschen auch in der Kirche, eine gerechtere und solidarische Gesellschaft möglich zu machen. Sie hat dies mit Sympathie, aber auch mit Kritik begleitet.

Und wie stand sie zu Linksterrorismus und Antisemitismus ­unter den Linken?

Wind: Den Linksterrorismus hat sie, wie alle verantwortlich denkenden und handelnden Sozialisten und Friedensaktivisten, abgelehnt. Dass sie den Antisemitismus unter einem Teil der Linken nicht geteilt hat, ist bei ihrer offenen Wertschätzung des Judentums und ihrer Liebe zu Israel selbstverständlich. Mit der Friedensbewegung in Israel war sie tief verbunden und teilte deren Kritik an manchen Entscheidungen der Regierung des Staates Israel.

In den 1980er Jahren wurde sie zu einer Ikone der Kirchentage. Warum?

Wind: Vor allem wegen der Bibelarbeiten, die sie mit der Theologin Luise Schottroff hielt. Sie hatte die Gabe, eine Zuhörerschaft in kürzester Zeit zu elektrisieren und sicher auch zu spalten. Spannend war die Zusammenschau von gründlicher Exegese durch Luise Schottroff und den Aktualisierungen, die Dorothee Sölle zustande brachte wie kaum jemand sonst. Sie konnte in neuer Weise von Gott und von Christus reden in ganz weltliche, politische Bewegungen hinein. Sie fand für die christliche Botschaft eine Sprache, die viele, die mit der Kirchensprache nicht mehr viel anfangen konnten, begeisterte. Einiges davon wird bleiben.

Eines ihrer Gedichte heißt „Ich dein baum“. Es beginnt: „Nicht du sollst meine Probleme lösen/sondern ich deine gott der Asylanten/nicht du sollst die hungrigen satt machen/sondern ich soll deine kinder behüten/vor dem terror der banken und militärs“. Das Ich soll hier für Gott sorgen. Wird dem Menschen damit nicht zu viel abverlangt?

Wind: Das Gedicht beginnt mit Dorothee Sölles zentralen Gedanken, dass nicht nur wir Gott brauchen, sondern dass Gott, um sich in der Welt zeigen zu können, uns auch braucht. Das ist ein zutiefst mystischer Gedanke, der Gedanke der Gegenseitigkeit, dass nicht nur Gott uns liebt, sondern auch auf unsere Liebe wartet. Als ich diese Zeilen vor einigen Jahren vorgelesen habe, empfanden viele Zuhörer die Pas­sage über Banken und Militär als übertrieben. Neuerdings wird einvernehmlich genickt.

Hat Sölle vielleicht zu viel von den Menschen gefordert – und sie überfordert?

Wind: Cap-Anamur-Gründer Rupert Neudeck würdigte Sölle, indem er sagte, sie habe ihm in den Bauch getreten und sein Gewissen belastet. Nach außen hatte sie etwas Charismatisches, aber auch Militantes. Sie zeigte wenig Verständnis für die Schwierigkeiten bei der Umsetzung der großen Ideale. Das ist aber nicht die ganze Dorothee Sölle. In weniger bekannten Texten, zum Beispiel in ihrem Buch „Die Hinreise“, hat sie ihre eigene Zerrissenheit beschrieben.

Der Titel Ihres neuen Buches über Sölle heißt „Grenzenlos glücklich – absolut furchtlos – immer in Schwierigkeiten“. ­Haben Sie die Theologin so erlebt?

Wind: Dieses Motto aus der Tradition der Quäker nennt Dorothee Sölle am Ende ihres Buches „Mystik und Widerstand“. Sie schrieb, dass sie sich so gerne sehen wolle. So war sie aber nur zum Teil. Sie hat viel über Glück, aber auch über Furcht und Schmerz geschrieben. Sie war nicht immer in Schwierigkeiten, aber oft. Anerkannt ­wurde sie erst später. Anfangs hat man die Kirchen vor ihr verschlossen, und sie hat hierzulande nie einen Fuß in ein öffent­liches Amt gekriegt. Das war allerdings in den USA möglich, am Union Theological Seminary in New York.

In welchem Verhältnis standen Sie persönlich zu Dorothee ­Sölle?

Wind: Sie konnte recht schroff sein. Ihre erste persönliche Bemerkung, an die ich mich erinnern kann, war: „Für eine militante linke Aktivistin bist du eigentlich zu dick.“ Wirklich persönlich habe ich sie erst in ihren letzten Jahren als alte Frau kennen­gelernt.

Und sie war trotzdem für Sie eine Art Vorbild?

Wind: In der Perspektive, die sie für sich gewählt hatte, ja. Es geht darum, die Weltgeschichte von unten, aus der Perspektive der Leidenden sehen zu lernen. So hatte es Dietrich Bonhoeffer schon gefordert. Darin finde ich sie konsequent, darin waren wir einander verbunden. Bei anderen Themen stritten wir uns.

Bei welchen zum Beispiel?

Wind: Mir war sie zu idealistisch-radikal. Sie hatte die große Vision im Blick, aber wenig Verständnis für das, was hier und jetzt möglich ist. Das illustriert ein Erlebnis, von dem Don Shriver erzählte, der ehemalige Präsident des Union Theological Seminary, in dem sie lehrte. Er berichtete von einer Podiumsdiskussion, bei der Dorothee Sölle die New Yorker Börse als das apokalyptische Tier aus dem Abgrund bezeichnete. In der ersten Reihe saßen die Broker, die damaligen Hauptsponsoren des „Union“. Er fragte sie, ob ihr klar sei, dass von deren Geld gerade ihr neuer Lehrauftrag bewilligt worden sei. „Das will ich gar nicht so genau wissen!“, war ihre typische Antwort, nicht nur in diesem Fall. Don Shrivers Kommentar dazu war dann: Eine theologische Einrichtung muss sich auch eine Prophetin leisten können.

Interessieren sich junge Leute heute noch für sie?

Wind: Ich bin überrascht, was heute noch ankommt. Sowohl ihre theo­logisch-politischen Einsprüche – weil unseren jungen Leuten inzwischen klar ist, dass auch die westliche Welt nicht so heil ist, wie man das lange Zeit zu glauben hatte – als auch ihre Art, grundlegende menschliche und religiöse Probleme anzusprechen, in Texten über Verbundenheit, Zersplitterung, Liebe oder Hingabe. Das Besondere ist: All dies bekommt bei ihr eine politische Dimension. In einer Gottesdienstpredigt in Bethel zitierte sie noch 1999 als alte Frau den 68er-Spruch: „The more I make love, the more I want to make the revolution!“

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