Dominik Asbach
Ganz großes Kino?
Die Drehbuchautorin findet alles erzählenswert, was nicht nach Plan läuft. Der Gefängnisarzt hört den Geschichten von Gescheiterten zu
Tim Wegner
Tim Wegner
21.08.2013

Haben Sie eine Lieblingsgeschichte?

Beate Langmaack: Ja, meine erste Lieblingsgeschichte war die des elfjährigen Mädchens im Kinderbuch „Harriet – Spionage aller Art“. Harriet spioniert andere Leute aus. Ich konnte das gut nachvollziehen. Ich bin krankhaft neugierig.

Sie gucken für ein Drehbuch in anderer Leute Leben?

Langmaack: Ich recherchiere sehr gern und auch lange. Und ich empfinde es als großes Glück, dass mir die Leute so bereitwillig erzählen. Ein harter Fall war allerdings ein Schleusenwärter. Ich wollte ein Drehbuch über ein Mädchen schreiben, das an einer Schleuse aufwächst und ungewollt schwanger wird. Dafür musste ich wissen, wie es so zugeht an der Schleuse. Der Schleusenwärter hatte schnell erklärt, was er technisch macht. Dann schwiegen wir uns an. Ich dachte, da kommt nichts mehr – aber ich blieb. Und nach gefühlten vier Stunden hat er mir sein Leben erzählt. Wie er von einem Tag auf den anderen alleinerziehend wurde und deshalb einen Beruf brauchte, der ihm Zeit für seine Tochter ließ.

Herr Bausch, haben Sie auch eine Lieblingsgeschichte?

Joe Bausch: Nicht unbedingt Lieblingsgeschichten, eher Lieblingsautoren. In meiner Kindheit war das Karl May. Später, mit 16, als pubertierender Nihilist in katholischem Elternhaus, entdeckte ich Gottfried Benn. Der war Arzt und Lyriker und erlebte zwei Weltkriege, ein Expressionist, der in die innere Emigration ging. Überraschenderweise wurde ich später selber Arzt, wurde mit dem Tod konfrontiert und griff wieder nach Gottfried Benn. Er ist bis heute der wichtigste Autor in meinem Leben.

Warum musste er mich mit seiner Geschichte alleinelassen?

Zwei Zeilen, die Sie oft im Kopf haben?

Bausch: „Leben ist Brückenschlagen über Ströme, die vergänglich sind.“ Das finde ich immer wieder sehr schön. Übrigens, Frau Langmaack, ich kenne das auch: dass mir Menschen gern ihre Geschichte erzählen. Ich hab mich schon als Jugendlicher gefragt: Was hab ich für ein Mal auf der Stirn, dass die mir unbedingt alles erzählen wollen

Langmaack: Den Gedanken kenne ich!

Bausch: Einmal traf ich im Knast auf einen Patienten. Geplant war, dass wir längstens 20 Minuten sprechen. Daraus wurden drei Stunden. Er breitete sein ganzes Leben vor mir aus. Drei Tage später brachte er sich um. Es war eine Art Vermächtnis. Warum musste er mich mit seiner Geschichte alleinelassen, an der ich nichts mehr ändern konnte?

Lässt sich in jedem Leben etwas finden, was das Zeug zur großen Geschichte hat, die jeden interessiert?

Bausch: Es gibt viele Menschen, die gehen ihren Weg. Einfach so. Vielleicht gibt es ein Scheitern oder Brüche, aber sie merken es nicht, sie haben kein Gefühl für die eigene dramaturgische Fall­­höhe. Aber im Leben der meisten Menschen spielt sich jede ­Menge ab, was erzählenswert ist. Für eine richtig große Ge­schichte – eine, die andere Menschen packt – müsste man meistens mehrere Leben künstlich in einen Zusammenhang setzen.

Langmaack: Für uns Drehbuchschreiber ist das reale Leben eher ein Auslöser. Ich würde schon sagen: Jedes Leben kann der Aus­löser für eine besondere Geschichte sein. Wir Geschichtener­zähler setzen bei den Brüchen an.

Was für Brüche?

Langmaack: Dass etwas passiert, was so nicht gewünscht war. Dass man scheitert. Es gibt auch positive Brüche: sich zu ver­lieben. An den Brüchen entzündet sich die Fantasie eines Autors. Man muss nun aber kein Mitleid haben mit Leuten, die ein Leben ohne erzählenswerte Brüche führen! Die sind ja gut dran. Manche Autoren fragen sich: „Bin ich ein schlechter Autor, weil ich wenig leide am Leben?“ Ich habe für mich beschlossen: Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun.

Sie lehren, Geschichten zu erzählen und Drehbücher zu schreiben. Gibt es etwas, was viele Anfänger falsch machen?

Langmaack: Viele wollen einen Film machen über ein Thema, das sie ganz wichtig finden. Das halte ich für eine Sackgasse. Denn ein Thema ist noch keine Geschichte.

Zum Beispiel: „Ich möchte einen Film über Armut machen!“

Langmaack: Genau. Aufträge kommen oft so allgemein aus den Redaktionen der TV-Sender: „Wir wollen etwas über gleichgeschlechtliche Eltern machen.“ Für mich ist das gut, es ist ja meine Arbeit, in diesem Thema die eigentliche Geschichte zu finden. Für Leute, die erzählen lernen, ist es schwierig. Was auch typisch für Anfänger ist: Sie finden die eigene Geschichte wahnsinnig spannend. Studierende erzählen mir: „Ich habe eine total unglückliche Liebesgeschichte erlebt – ein Drama!“ Und ich sage: „Nö, kein Drama. Jedenfalls ergibt das keine Geschichte von 90 Minuten.“ Diese Selbstbezogenheit verwächst sich. Manchmal sage ich: „Schreib es auf!“ Man muss sich von sich selber freischreiben. Geschichten erzählen fängt da an, wo es mit anderen Leuten zu tun hat.

Herr Bausch, das Leben der Gefangenen im Knast ist monoton. Sind die Geschichten, die Sie hören, nicht langweilig?

Bausch: Im Gegenteil! Wer im Knast sitzt, ist immer irgendwie gescheitert. Und Geschichten, die mit dem Scheitern von Hoffnungen und Wünschen zu tun haben, sind spannend. Darum arbeite ich nach über 25 Jahren immer noch im Knast und interessiere mich für die Geschichten meiner Patienten.

 

Draußen wollen die wenigsten wissen, wie es den Gefangenen geht.

 

Wo nehmen Sie die Zeit her, sich die Geschichten anzuhören?

Bausch: Als Arzt kann ich einen Patienten nur wirklich heilen, wenn ich weiß, wie er seine Lebensgeschichte interpretiert. Wenn ich merke, dass sie aus jemandem herausdrängt, machen wir einen Termin aus. Dann können wir unter vier Augen offen reden, ich unterliege ja der ärztlichen Schweigepflicht. Wir rauchen auch schon mal zusammen, das hilft ungemein, das schafft Wissen.

Wie lange müsste Frau Langmaack im Gefängnis recherchieren, bis sie versteht, wie sich der Knastalltag anfühlt?

Bausch: Mindestens eine Woche. Und sie sollte auch mit den verschiedenen Berufsgruppen reden, die bei uns arbeiten.

Langmaack: Eine oder zwei Wochen finde ich nicht lang!

Bausch: Viele Autoren wollen nicht mal einen Tag lang im Knast verbringen, aber darüber Filme machen. Es gibt auch nur ganz wenige Schauspieler, die mich fragen: „Hey Joe, ich soll einen Kinderschänder spielen. Wie sind die so? Wie benehmen die sich?“

Wollen die Leute draußen wissen, wie es den Gefangenen geht?

Bausch: Das wollen die wenigsten wissen. In über 100 Lesungen habe ich beobachtet: Es wird – neben anderen Dingen – ausge­blendet, dass im Knast gestorben wird, dass es auch Tragödien aufseiten der Täter gibt, dass 50 Prozent der Täter selbst schon einmal Opfer gewesen sind. Die meisten Leute wollen nichts hören, was nach Schuldminderung, nach Erklärungsversuchen für das Unvorstellbare klingt. Aber die Realität ist kompliziert und nicht mit wenigen markigen, simplen Stammtischphrasen zu greifen.

Langmaack: Ihr Buch verkauft sich aber gut, also wollen die Leute doch wissen, wie es wirklich ist.

Bausch: Weil ich der Typ aus dem „Tatort“ bin. Hätte ich nur als Knastarzt so ein Buch geschrieben, wäre das anders gelaufen. So konnte ich meine Bekanntheit nutzen, um die Black Box „Gefängnis“ zu öffnen.

Warum ist Ihnen das wichtig?

Bausch: In Film und Fernsehen zeigen wir mit Hingabe Verbrechen, aber selten das, was danach kommt: das Gefängnis. Dabei wandern jedes Jahr über 100 000 Delinquenten in deutsche Gefängnisse, durchschnittlich sitzen über 70 000 ein. Es gibt aber keine realitätsnahe Vorstellung davon, was Gefängnis bedeutet. Es gibt keine Bilder. Für die Angehörigen und Freunde nicht – und auch nicht für die, die härtere Strafen verlangen. Eine Mutter bedankte sich, dass sie endlich wisse, was für ein Ort das Gefängnis für ihren Sohn sei. Eine Richterin schrieb mir, nun sei ihr klar, was Haft wirklich bedeute. Das konnte ich nur über ein Buch vermitteln. Filme und Dokumentationen können nie die ganze Realität bebildern. Wenn RTL kommt, hätten die am liebsten eine Bestie, am besten in Ketten gelegt. Und die öffentlich-rechtlichen Redakteure sagen: „Bitte keine Kinderschänder, keine fiesen Serienmörder! Haben Sie nicht einen Netten hier, einen, den man versteht, den man mögen kann?“

Frau Langmaack, spüren Sie eine Verantwortung, besonders wahrhaftig zu erzählen?

Langmaack: Ja, bestimmte Punkte sind mir wichtig. In einem Drehbuch für einen Krimi ging es um eine Vergewaltigung. Ich bin extra zur Rechtsmedizin, um mich zu informieren. Die sagten: „Ein Opfer, das zur Polizei geht, wird niemals von einem Arzt, sondern immer von einer Ärztin untersucht.“ Der Regisseur hat einen Mann genommen. Das ist ärgerlich. Vielleicht gibt es Menschen, die ihr Wissen zu diesem Thema nur aus diesem Film bekommen. Es wären sicher mehr Frauen bereit, eine Vergewaltigung anzu­zeigen, wenn sie wüssten, dass eine Ärztin sie untersucht.

Warum gibt es ein großes Interesse an blutigen Filmen?

Langmaack: Weil Krimis ein Urthema verhandeln: die Angst vor dem Tod. Die Leute wollen das Böse sehen – und am Ende wissen, dass der Täter gefasst wird und alles wieder gut ist.

Bausch: Schon die alten Geschichten sind so. Die griechischen Dramen, Homers „Ilias“ und die „Odyssee“, das sind Geschichten von Vergewaltigung, Entführung, von Mord, von Inzest. Es ist eine große Leistung, dass wir es immer noch verstehen, die ewig alten Themen neu zu beackern. Interessant ist, dass die Geschichten heute in Milieus übertragen werden, wo sie in Wahrheit gar nicht stattfinden. Wir erzählen die Krimis ja in den Schichten, aus denen unsere Zuschauer kommen – mit Industriellen oder Oberstudienräten als Tätern. Das ist weit weg von der Realität.

Tatort und Gottesdienst sind am Sonntag keine Konkurrenten.

Langmaack: Das macht noch mal besonders Angst!

Bausch: Ja. Und dazu passt: Sexueller Missbrauch wird in 90 Prozent der Fälle im familiären Kontext begangen, aber wir zeigen nur auf die Täter, die sich an fremden Kindern vergangen haben. Offensichtlich denken wir: In meinem Umkreis halte ich das für unmöglich, das habe ich ja unter Kontrolle, aber die Fremden habe ich nicht unter Kontrolle, die machen mir Angst.

Sind „Tatort“ und Gottesdienst am Sonntag Konkurrenten?

Bausch: Glaub ich nicht. Aber es gibt eine Ähnlichkeit: Predigt wie Krimi führen dazu, dass wir uns die schrecklichsten Szenarien anhören oder anschauen, um uns am Ende gemeinsam wieder gut zu fühlen. Jeder Krimi hat ja auch was Affirmatives: Seht her, das Böse wird bestraft, und wir Guten rücken näher zusammen.

Langmaack: Gottesdienst und Krimi kann man nicht vergleichen, denn in der Kirche darf man nicht reden. Man hat festgestellt, dass die Familien viel miteinander reden, während sie fernsehen. Sie reden über das, was sie sehen, aber auch über sich selbst.

Gibt es Bibelgeschichten, die Sie mögen?

Langmaack: Ich finde alles toll, was großes Kino in der Bibel ist. Die Geschichte von Jona und dem Wal würde ich sehr gerne adaptieren. Oder die Arche Noah. Meine Lieblingsgeschichte ist die Schöpfungsgeschichte.

Bausch: Verdammt schwer, die im Film zu realisieren!

Langmaack: Ich mag den Klang, die Sprachmelodie. „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser. Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht. Und Gott sah, dass das Licht gut war.“ Großartig!

Bausch: Als Messdiener habe ich natürlich mit Begeisterung all diese Geschichten gehört. Mit einer Ausnahme – wenn die Geschichten erzählt wurden, wie sich Jesus mit den Pharisäern angelegt hat. Da dachte ich oft: Hier in der Kirche sind gerade eine ganze Menge pharisäerhafte Leute. Warum erkennen die nicht, dass sie selbst damit gemeint sein könnten?

Was denken Sie über Ihr Publikum, Frau Langmaack?

Langmaack: Ich glaube an meine Zuschauer. Ich traue ihnen Intelligenz zu. Für jemanden, den ich blöd finde, kann ich nicht arbeiten.

Ihr Film „Blaubeerblau“ war ein großer Erfolg. Warum mochten Leute diese Geschichte aus dem Hospiz?

Langmaack: Genau deshalb. Der Film hat ihnen etwas zuge­mutet. Wobei die Grundidee simpel war: Zwei Männer treffen sich wieder und werden im Angesicht des Todes Freunde – der eine stirbt, der andere ändert sein Leben.

Welche Geschichten sollten dringend mal erzählt werden?

Bausch: Genau solche!

Langmaack: Gute Geschichten! Sonst keine Einschränkungen.

 

Keiner wollte die Geschichte haben.

 

Bitte! Keine Einschränkungen?

Langmaack: „Irina Palm“ ist so ein Beispiel. Eine ältere Frau prostituiert sich, weil sie ihrem Enkel eine teure Krankenbehandlung zahlen will. Wenn Sie so einen Plot hören, möchten Sie schreiend davonlaufen. Aber der Film ist wunderbar, weil die Geschichte einfach gut erzählt ist. Die hat Millionen zu Tränen gerührt.

Haben Sie mal eine richtig gute Geschichte geschrieben, die dann keiner verfilmen wollte?

Langmaack: Ja, eine Komödie. Ein Vater stellt seiner Familie ein Ultimatum: Der Fernseher oder ich. Die Familie entscheidet sich für den Fernseher. Keiner wollte die Geschichte haben.

Haben Sie beim Erzählen eine Botschaft?

Langmaack: Nein. Ich habe keine Botschaft. Ich könnte auf alle meine Drehbücher den Satz stempeln: Das Leben ist kostbar. Aber das ist keine belehrende Botschaft.

Stellen Sie sich vor, Sie sind krank und leben im Hospiz. Einem neuen Pfleger sagt man: „Besuch mal die Frau Langmaack, es lohnt sich, weil...“ – „Und geh bei Herrn Bausch vorbei, weil...“ Welche Geschichte soll man über Sie erzählen?

Bausch: Ein wunderbarer Satz wäre: „Du kannst ruhig zu dem Bausch gehen, das ist einer von uns.“ Das würde auch bedeuten: „Der hört dir zu, der hält dich aus, du musst nichts weglassen.“ Das würde mein Interesse an Geschichten formulieren, aber auch meine Haltung als Arzt: Es gibt nichts, was mich so abstößt, dass ich nicht mehr weiter zuhören will.

Langmaack: Ich wünschte, ich könnte so was Schönes sagen! Darf ich einen Telefon-Joker ziehen?

Aber wer könnte einem die eigene Geschichte verraten?

Langmaack: Ich würde meinen klugen Sohn anrufen.

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