Michael Hudler
Bei uns in der Gemeinde...
...darf es auch mal politisch zugehen, meint die Theologin. Der Ministerpräsident sagt: Das kann leicht kitschig werden
Lena Uphoff
Tim Wegner
23.09.2013

Wenn wir Sie fragen, Herr Kretschmann, zu welcher Gemeinde Sie gehören – was wäre Ihre spontane Antwort?

Winfried Kretschmann: Sigmaringen. Ich gehöre zur Ortschaft Laiz, ein Dorf, das nach Sigmaringen eingemeindet wurde. Das war keine Liebesheirat, mein Schwiegervater hat gesagt, er würde bis zur letzten Patrone für die Selbstständigkeit von Laiz kämpfen, aber man hat ja zum Glück in solchem Fall nur Platzpatronen. Ich wohne in einem Dorf, knapp 3000 Einwohner.

Frau Karle, was ist Ihre Gemeinde?

Isolde Karle: Wenn Sie mich nach Gemeinde fragen, dann nenne ich meine Kirchengemeinde. Mein Mann ist hier in Stuttgart Pfarrer, da bin ich selbstverständlich auch dabei.

Gemeinde, Community, was ist das eigentlich? Was assoziieren Sie mit dem Begriff?

Kretschmann: Gemeinde hat für mich einen Ortsbezug. Ich weiß, Communitys haben das nicht unbedingt. Aber ich selbst bin noch sehr kirchlich geprägt. Ich bin aufgewachsen im Rhythmus des Kirchenjahres, obwohl wir ein liberales katholisches Haus waren, in dem frei gedacht und gestritten wurde. Und Gemeinde heißt auch, dass man immer unten anfängt, mit allem, was man gesellschaftlich, politisch oder kirchlich bewirken will.

Frau Karle, Sie sagen auch: Wenn man etwas ändern will in der Kirche, muss man unten anfangen, in den Gemeinden.

Karle: In der Gemeinde kommt die Kirche am ehesten in Kontakt zu den Menschen, ihren Sorgen, Nöten, Freuden. Bei Hochzeiten, Taufen und Beerdigungen, bei der Begleitung durch den Lebenszyklus. Die Mehrheit partizipiert am Gemeindeleben, wenn es sich ergibt und wenn es vor der Tür liegt. Wenn ich mal vorbeischauen kann beim Gemeindefest oder mein Kind in den guten Kindergarten geben kann oder ein Jugendlicher sich konfirmieren lassen will – nicht selten zur Überraschung seiner Eltern.

Ist das nicht auch eine romantische Fiktion? Oft hocken dort die, die immer da hocken, und die Neuen haben es schwer. Erleben moderne Menschen noch so etwas wie Gemeinde?

Karle: Gerade für die, die so mobil und immer unterwegs sind, ist der Ortsbezug attraktiv. Ich erlebe die Gemeinden nicht als so abgeschlossen. Und viele Leute suchen ja auch nicht die Nähe, sondern wollen nur ihr Kind taufen lassen. Sie freuen sich, wenn sie Seelsorge und Lebensbegleitung in Anspruch nehmen können, ohne dass man große Erwartungen an sie stellt.

Es heißt, die Milieus verschwinden – etwa das Milieu der Kirchen oder das der SPD-Wähler. Ist denn das Gemeindliche ohne Milieuhintergrund überhaupt praktizierbar, also ohne dass die Leute etwas Ähnliches verbindet, Ackerbau oder Bergwerk?

Kretschmann: Eine moderne Gesellschaft individualisiert sich. Sie besteht zum großen Teil aus Subkulturen. Das ist einfach so, darüber muss man sich gar nicht weiter wundern. Der Sinn von Freiheit ist ja schließlich Differenz. Aber was hält die Gesellschaft zusammen, was ist ihr Kitt? Die Frage treibt mich um. Wir stoßen ja immer wieder auf unterschiedliche Haltungen, Meinungen, und daraus entsteht Engagement, Interesse – Identität. Die Kirche bietet Identität in dieser Hinsicht: Egal, wo ich auf der Welt hinkomme, ich bin zu Hause. In den 70er Jahren kam ein Schub Boatpeople in unser Dorf, vietnamesische Einwanderer, die alle katholisch waren – und darüber sofort beheimatet. Eine von ihnen, eine Frau mit vielen Kindern, teilt heute Kommunion aus.

Es muss also Zeichen, Haltungen, Handlungen geben, in denen ich mich wiederfinde?

Karle: Auf jeden Fall. Mir ist das Wichtigste am Gemeinde­leben der Gottesdienst, der Kultus. Da ist die katholische Kirche zwar einheitlicher, weil sie auf der ganzen Welt denselben Ritus hat, aber auch in der Liturgie der evangelischen Kirche gibt es deutliche Muster. Rituale geben Stabilität, zeigen Strukturen und Formen, die ich wiedererkenne.

Aber nur eine Minderheit beherrscht diese Formen und Rituale heute, kennt noch die Lieder und das Vaterunser.

Karle: Genau deshalb werden sie wieder interessant: Weil man bemerkt, was verloren geht. Die Menschen sprechen sich heute kein Beileid mehr aus. Aber was ist die Alternative zum Ritual? Schweigen, Sprachlosigkeit. Rituale sprechen für sich und ent­­las­ten in emotional aufgeladenen Situationen. Bekannte Texte wie Psalm 23 lassen uns eintauchen in einen Glauben, den schon sehr viele Menschen vor uns geteilt haben und den noch viele Menschen nach uns zum Ausdruck bringen werden. Das entlastet und vermittelt zugleich Halt und Geborgenheit.

Winfried Kretschmann: "Rituale können  erstarren. Dann sagen sie den Menschen gar nichts mehr"

Herr Kretschmann, haben Sie heute eine andere Position zu solchen Fragen als früher?

Kretschmann: Nein, Rituale sind wichtig, sie können aber er­starren, dann sagen sie den Menschen gar nichts mehr. Und wenn man Rituale erst erklären muss, sind sie kaputt. Man braucht eine gewisse Grundkenntnis im Glauben, dafür muss man kein genauer Kenner der Riten sein. Ich möchte schon eine Liturgie, die vertraut ist, aber man kann auch Gottesdienste machen, die davon stark abweichen. Nur nicht alle vierzehn Tage etwas völlig anderes!

Frau Karle, einerseits sollen die Pfarrer nicht immer alles erklären, andererseits müssen sie die neuen Kirchgänger einbeziehen. Wie bekommt man das hin?

Karle: Ich glaube, nicht mal die Neuen schätzen es, wenn ein ­Gottesdienst stark pädagogisiert und banalisiert wird...

Kretschmann: Aber warum ist das dann so verbreitet?

Karle: Man will sich verständlich machen – und glaubt, den ­modernen Menschen, dieser komischen Fiktion, alles Mögliche erklären zu müssen.

Kretschmann: Muss man nicht. Sonst würden ja auch nicht ­Millionen Kinogänger in den „Herrn der Ringe“ gehen!

Karle: Genau. Natürlich muss ein Gottesdienst seine ritualisierte Sprache pflegen, er darf zugleich aber auch nicht erstarren.

Die Gemeinde, sagt Martin Luther, ist kein Publikum, sie ist selbst Bestandteil des Gottesdienstes – zum Beispiel wenn sie singt. Wie sieht es heute mit der Beteiligung aus, in der kirchlichen wie in der politischen Gemeinde?

Karle: In der Kirche sieht es gut aus. Mehr, nicht weniger Ehrenamtliche beteiligen sich am Gottesdienst. Allein
60 000 Jugendliche in Deutschland sind engagiert beim Konfirmandenunterricht. Ja, und wenn es um den Gesang geht, da tut sich viel! Die Gospelchorbewegung, neue Lieder werden gern gesungen...

Für viele Jugendliche ist die Facebook-Gemeinde aber attraktiver, weil sie denken, damit können sie Diktatoren stürzen, einen arabischen Frühling inszenieren, Obama wählen. Müssen die Kirchen wieder politischer werden, Herr Kretschmann?

Kretschmann: Es ist ja gerade 20 Jahre her, dass die SED damals in der DDR mit allem gerechnet hat, nur nicht damit, dass Menschen mit Kerzen aus Kirchen kommen. Daran sollten wir immer mal wieder erinnern. Das war eine gelungene friedliche Revolution – ohne den Schlamm von Facebook, in dem man da immer herumwatet. Da kann man den Kopf schon ein bisschen höher tragen. Kirche ist ja nicht nur Teil der Gesellschaft, sondern immer auch was Widerständiges. Trotzdem, Politik und Kirche? Gottesdienste gegen Stuttgart 21, gegen andere Projekte? Das kann leicht kitschig werden. Ich werde oft gefragt, was das heißt, Christ sein in der Politik. Ich weiß nie so recht, was ich dazu sagen soll, und mache den Vortrag jedes Mal neu. Die Leute haben da oft falsche Vor­stellungen. Und die CDU spricht vom christlichen Menschenbild. Aber davon sind wir doch alle geprägt! Das ist auch zu wenig.

Isolde Karle: "Der Pfarrer darf es nicht einfach besser wissen als die anderen"

Karle: Das finde ich auch. Die Politik auf der Kanzel ist dann ein Problem, wenn sie auf moralische Kommunikation reduziert wird, die mit der Abwertung von anderen arbeitet. Und das geschieht leicht. Dann hört man so einen besserwisserischen Ton – zu Fragen, die wahnsinnig kompliziert sind, siehe Stuttgart 21. Aber prinzipiell gehört es zu einer christlichen Grundhaltung, sich einzumischen in die Gestaltung der Gesellschaft. An bestimmten Punkten muss man auch mal was riskieren. Da kann ein Pastor auf der Kanzel zum Beispiel sagen: „Manche von Ihnen mögen das anders sehen, aber aus meiner Perspektive müssen Homosexuelle genauso akzeptiert werden wie Heterosexuelle.“ Man kann einen Standpunkt haben und ihn zur Diskussion stellen – aber man darf es nicht einfach besser wissen als die anderen. Schwierig sind auch die sozialethischen Fragen: Sterbehilfe, Pränataldiagnostik. Die lassen sich nicht einfach mit Ja oder Nein beantworten, aber sich davor zu drücken, ist auch keine Alternative.

Der Gottesdienst ist die Tankstelle, da vergewissern wir uns, dass wir nicht allein sind, aber er ist nicht die Erfüllung des Alltags. Da geht man raus und handelt. Brauchen wir die Kirchen auch als Partner für die Politik?

Kretschmann: Ja, unbedingt. Wenn ich mich engagiere, tue ich das, weil ich darin einen Sinn erkenne. Sinn zu stiften ist Aufgabe von Religion. Das bekommen wir ja immer von den Evangelien und Jesus gesagt: Euer Lohn wird groß sein im Himmel – das ist eine Metapher dafür, dass es Sinn macht, sich zu engagieren. Wie politisch soll eine Kirche sein? Sie soll die Menschen dazu motivieren, sich zu engagieren. Das ist wichtig, und es kann ja kein Zufall sein, dass christliche Gesellschaften auch starke Zivilgesellschaften haben. Das Grundgesetz, die Menschenwürde – das ist doch alles christlich imprägniert. Darauf baut alles auf.

Aber in Sachen Fremdenfeindlichkeit schneiden wir Christen schlechter ab als die Unreligiösen. Die christliche Religion ­allein imprägniert uns nicht.

Kretschmann: Nein. Aber schauen Sie mal nach Japan. Da gibt es eine moderne Gesellschaft, die nicht christlich imprägniert ist. Und wie viele Einwanderer? Keine. Dass der Fremde der Nächste ist, das kriegen wir mit der christlichen Muttermilch. Klar, dass Menschen trotzdem versagen und es auch noch andere Faktoren gibt! Aber schließlich überwinden wir das auch immer wieder. 

Karle: Tatsächlich belegen Studien, dass Religiosität nicht vor Vorurteilen schützt. Sexismus, Rassismus, da gibt es noch erheblichen Aufklärungsbedarf in der Gesellschaft überhaupt, aber eben auch bei den Kirchen.

Kretschmann: Schon das Gleichnis vom Samariter zeigt, dass die, von denen man denkt, dass sie fromm sind, es gar nicht sind, und umgekehrt. Und so sind meine Grünen, obwohl sie so säkular sind, öfters frömmer als manche Christen. Diese Grundimpräg­nierung hat öfter schon nicht geholfen. Warum hat die Kirche gegen die Französische Revolution und gegen die Menschenrechte gearbeitet? Dass sich die Botschaft Jesu Christi auch mal dialektisch gegen die Kirche wendet – das ist überhaupt nichts Neues.

Frau Karle, in der evangelischen Kirche gibt es gerade eine heftige Debatte über die sogenannte Orientierungshilfe Familie. Ist es ein Problem, wenn die Kirche öffentlich diskutiert? Fehlt es dann an Leitung und klarer Lehre?

Karle: Wenn die Kirche konservativ ist und zum Beispiel ­Probleme hat, Homosexuelle zu akzeptieren, dann schreien die Medien auf. Wenn die Kirche aber sagt, wir akzeptieren sie, dann schreien die Medien auch auf. Das ist okay, aber mich erstaunt schon die Heftigkeit. Ich will diese Orientierungshilfe nicht in jeder Hinsicht verteidigen. Aber aus ihr spricht erst einmal der Mut, gesellschaftliche Entwicklungen ernst zu nehmen und zu sagen: Es ist wichtig, dass Menschen verbindlich zusammen­leben, dass es Verlässlichkeit gibt und Respekt, aber welche konkrete Form dieses Zusammenleben hat – da müssen wir toleranter werden. Und es ist ganz normal in der evangelischen Kirche, dass darüber gestritten wird, dass da niemand ex cathedra spricht.

Gibt es etwas, wozu die Kirche sich nicht äußern darf? 

Kretschmann: Nein. Aber das heißt nicht, dass sie sich zu allem äußern muss. Ich hatte damals, noch von Kardinal Ratzinger, einen Brief bekommen an die katholischen Politiker, dass sie solchen Instituten nichtehelicher Partnerschaft nicht zustimmen sollten. Dem habe ich aus zwei Gründen widersprochen. Erstens als Demokrat – denn es ist nicht Aufgabe des freiheitlichen Verfassungsstaates, den Menschen ihre persönliche Lebensführung vorzuschreiben, sondern es macht ihn gerade aus, dass er das nicht tut. Zweitens habe ich ihm als Christ geantwortet, dass Jesus die Menschen vom Rand in die Mitte genommen hat. Ich glaube, im Kern ist das Christentum eine Sozialreligion. Nehmen wir das Ehebruchsverbot in der Bibel – da geht es darum, dass Frauen nicht ins Nichts fallen, wenn sie verlassen werden. Aber in einem modernen Sozialstaat fällt man nicht ins Nichts. Deshalb ten­dieren wir dazu, Familien mit Kindern oder Alten zu stärken, Menschen, die für andere sorgen – und nicht die Ehe als Institution.

Im Gespräch - Winfried Kretschmann und Isolde Karle mit chrismon Chefredakteur Arnd Brummer und der stellvertretenden Chefredakteurin von chrismon Ursula Ott

Karle: Das eine ist die ethische Frage: Wie bewerte ich unterschiedliche Beziehungsformen aus christlicher Sicht? Als Idealbild würde ich schon an der Ehe festhalten, an der Homo-Ehe auch, das wäre nur konsequent. Als Idealbild ist die Ehe ein stabi­lisierender Faktor, auch wenn sie nicht immer gelingt. Aber es gibt viele komplizierte Situationen im Leben, wo das nicht geht oder nicht passt, und dann kann ich das nicht diskriminieren. Alleinerziehende bringen oft ihre Kinder nicht zur Taufe, weil sie meinen, keine vollständige Familie zu haben. Ihnen will die Familiendenkschrift Anerkennung verschaffen. 

Kretschmann: In meiner Kirche ist die Ehe ein Sakrament, da hat die Diskussion noch eine andere Dimension. Aber Luther hat ja gesagt, die Ehe sei ein „weltlich Ding“. Deshalb sehe ich in säkularer Sicht die Dramatik der Situation nicht. Und junge Menschen stellen sich ja doch eine ganz klassische, lebenslange Ehe vor, wenn sie sich verlieben und heiraten, das hat in keiner Weise gelitten. Man muss die jungen Leute doch eher warnen, dass sie die Ehe nicht überfrachten und alle Sehnsüchte, die es gibt, da hineinprojizieren, das kann nicht gutgehen.

In Gemeinden, politisch oder kirchlich, werden viele Feste gefeiert. Und dafür wünscht man sich viele Gäste. Herr Kretschmann, wen würden Sie auf einem solchen Fest gern treffen? 

Kretschmann: Überraschungsgäste! Das wären fromme, aber religiös unmusikalische Menschen. Das würde mich freuen.

Frau Karle, mit wem würden Sie gern anstoßen?

Karle: So schlecht ist es ja gar nicht bestellt um die Vielfalt im Gottesdienst oder beim Gemeindefest. Aber wenn ich dort Jane Austen treffen könnte – das würde mich sehr freuen.

"Alleinerziehende bringen oft ihre Kinder nicht zur Taufe, weil sie meinen, keine vollständige Familie zu haben."

Ein Satz, der mich nachdenklich macht.

In der Praxis ist Kirche vielleicht tatsächlich zu sehr ein Ort der Demonstration bürgerlicher Ordnung und zu wenig voraussetzungslose Gemeinschaft in Christus.

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