Andreas Reeg
Alles Liebe für Mutti
Michaela Kreß hat ihren Beruf und ihre Freizeit aufgegeben, um für ihre demente Mutter da zu sein: Ein Rund-um-die-Uhr-Job
05.09.2013

Als Michaela Kreß ihrem Vater am Sterbebett versprach, sich um ihre demente Mutter zu kümmern, wusste sie noch nicht, dass sie dafür ihren Job aufgeben würde. Und dass Pflegen manchmal heißt, tagelang die eigenen vier Wände nicht zu verlassen. Sie wusste, dass das Versprechen viel Zeit fressen würde, viel Kraft und Autonomie – aber sie ahnte nicht, wie viel. Trotzdem würde sie Joseph Boudreau auch ein zweites Mal versprechen, sich um seine Frau Rita zu kümmern.

Madame Boudreau, 81 Jahre alt, schaut aus dem Fenster ihrer Untergeschosswohnung. Ihre Haare sind schneeweiß, die wasserblauen Augen zu Halbmonden geöffnet. Draußen klettert die Sonne über die Krone der hundert Jahre alten Spessarteiche. Die Blätter leuchten in saftigem Grün. Madame Boudreau kann erahnen, dass Sommer ist. Aber Zeit spielt keine Rolle für sie. Sie hat jedes Gefühl dafür verloren.

Michaela Kreß, 50 Jahre alt, kastanienbraune Augen und brauner Kurzhaarschnitt, beugt sich über ihre demente Mutter, die sie seit sieben Jahren pflegt. Sie zupft die Ecken des Kissens zurecht und schiebt sanft den Kopf in die Mitte. „Achtung, ich fahr’ jetzt das Bett hoch.“ Surrend wandert Madame Boudreaus Oberkörper in Sitzposition. „Es gibt jetzt lecker Hirse mit Kirschen.“ Essen! Madame Boudreau öffnet erwartungsvoll den Mund. Ihre Tochter schmunzelt.

„Ich glaube, meine Mutter fühlt sich zu Hause sicherer und wohler als in einem Heim“, sagt sie. In Deutschland versorgen Angehörige und Bekannte rund zwei Drittel aller Pflegebedürftigen in den eigenen vier Wänden. In zwei von drei Fällen sind es Frauen, die die Pflegearbeit verrichten: Töchter, Schwiegertöchter, Ehefrauen. Als Michaela Kreß anfing, sich um ihre Mutter zu kümmern, war sie 43 Jahre alt. Die meisten pflegenden Angehörigen sind 55 Jahre oder älter.

Als Familie Kreß vor zwanzig Jahren in Waldaschaff bei Aschaffenburg baute, wurde im Erdgeschoss eine Wohnung für die Eltern mit eingeplant. Vom Mehrgenerationenhaushalt profitieren alle: Michaela Kreß konnte nach vier Jahren Kinderpause wieder Vollzeit in ihren Job einsteigen, weil sich ihre Mutter um den Enkel kümmerte – und seit Madame Boudreau dement ist, sorgt Michaela für sie. Anfangs pflegte sie auch ihren Vater Joseph Boudreau. Er war Frankokanadier. Vor fünf Jahren starb er an Altersschwäche.

Der Haushalt ist für die Pflege zweckmäßig eingerichtet und erleichtert den Alltag

Wohnzimmer, Bad und Kochnische kann Madame Boudreau nicht mehr betreten. Seit sie vor einem Jahr zwei Krampfanfälle hatte, liegt sie im Bett. Ihr Reich ist das Schlafzimmer. Über ihrem Bett hängt ein Rosenkranz aus Holz, daneben ein Wandteppich mit einem Abbild von Papst Johannes Paul II. Michaela Kreß legt ihrer Mutter ein bunt gestreiftes Handtuch als Lätzchen um den Hals und stopft die Ecken sanft in den Nacken. Dann füttert sie ihre Mutter mit einem Löffel. „Wenn du auf einen
Kern beißt, sachste Bescheid, ne?“, sagt sie, obwohl sie weiß, dass Madame Boudreau nur noch selten ein Wort über die Lippen bringt. Es strengt sie sehr an. Klein und zerbrechlich wirkt ihr zarter Körper in dem großen Gitterbett. Sie hat kaum noch Muskel- und Fettgewebe.

Auch Michaela Kreß geht nur noch selten vor die Tür. Früher konnte sie mit ihrer Mutter im Rollstuhl spazieren gehen. Einmal in der Woche gab sie sie in die Tagespflege, um einkaufen zu gehen, sich mit Freunden zu treffen, Fahrrad zu fahren. Aber seit ihre Mutter nicht mehr mit einer Gehhilfe laufen oder länger sitzen kann, nimmt sie keine Tageseinrichtung mehr an. Der Betreuungsaufwand wäre hoch, der Transport kompliziert.

„Ich glaube, meine Mutter fühlt sich zu Hause sicherer und wohler als in einem Heim“

Michaela Kreß’ beste Freundin wohnt nur 30 Kilometer entfernt. Vor einem Jahr hat sie zuletzt mit ihr einen Kaffee in der Stadt getrunken. Inzwischen bleibt wenig Zeit für freie Aktivitäten, jeden Schritt außer Haus muss Michaela Kreß planen. Was wenn ihre Mutter wieder einen Krampfanfall hat?

Einmal in der Woche kommt eine Demenzbetreuerin und liest Madame Boudreau Geschichten vor. Dann geht Michaela Kreß ins Fitnessstudio und stärkt ihre Rückenmuskulatur, das ist wichtig. Mehrmals am Tag muss sie ihre Mutter umlagern und wickeln, das kostet Kraft. Manchmal passt auch ihr Sohn Dominik ein paar Stunden auf die Oma auf, manchmal schiebt Rainer Kreß seine Frau am Wochenende regelrecht aus dem Haus, sagt: „Komm, nimm dir mal einen Tag frei, ich mach das.“ Aber spontan einen Spaziergang durch den Park machen, in der Stadt bummeln, ein Eis essen, weil die Sonne gerade scheint – das geht nicht.

„Noch einen Löffel?“, fragt Michaela Kreß. „Guck mal, zwei, drei, vier Kirschen noch.“ Madame Boudreaus Augen klappen zu. „Mutti, bist du eingeschlafen?“ Sie hebt sanft ihren Arm hoch. „Hallo, Mutti, aufwachen. Mach mal ÄÄÄÄÄction!“ Madame Boudreau öffnet die Augen und isst weiter, bis der Teller leer ist. Michaela Kreß wischt ihr die Hirsereste mit einem Küchentuch vom Mund ab. „So und jetzt ’n Schnaps?“ Sie reicht ihrer Mutter ein Glas mit homöopathischen Tropfen für das Herz.

Herztropfen nach dem Essen und eine Massage mit Massageball

Die Demenz schlich sich allmählich und hartnäckig in das Leben der beiden Frauen – und mit der Selbstständigkeit von Madame Boudreau schwand immer ein Stück Freiheit im Leben ihrer Tochter. Als Michaela vor sieben Jahren wie immer abends bei ihren Eltern vorbeischaute, bemerkte sie einen unangenehmen Geruch, als wäre etwas verkokelt. „Mutti, hast du gekocht?“, fragte Michaela Kreß. „Nein.“ „Aber es riecht so komisch.“ Auf dem Herd stand nichts, woher kam der Gestank? Intuitiv öffnete Michaela den Wasserkocher. Darin schmorten verbrannte Milchreste. „Mutti, hast du die Milch heiß gemacht?“ „Nein.“ Am nächsten Tag klemmte Rainer Kreß den Herd ab, um Schlimmeres zu verhindern. Ihrer Mutter sagten sie, der Herd sei kaputt.

Es folgte eine Trotzphase, Michaela Kreß lernte Geduld. Ihre Mutter konnte nicht wahrnehmen, wie Geist und Körper nachließen. Sie wurde ruppig, sagte häufig Sätze wie „Das ess ich nicht!“ oder: „Das zieh ich nicht an!“ Sie blieb auch mal eine Stunde auf der Toilette sitzen, als sie nicht mehr alleine aufstehen konnte. „Mutti, willst du nicht deine Hände waschen?“ „Nein!“ „Willst du den ganzen Tag auf dem Klo sitzen?“ „Ja warum denn nicht?“ Die Tochter schloss dann die Tür zum Bad, holte tief Luft und sagte sich: Das ist nicht sie, das ist die Demenz. Sie lenkte sich ab, hing die Wäsche auf oder schnippelte das Gemüse für die nächste Mahlzeit. Sie ging erneut ins Bad, in der Hoffnung, dass
sie dieses Mal aufstehen würde. Das Vergessen war Fluch und Segen zugleich, denn meistens konnte sich Madame Boudreau an vorherige Diskussionen nicht mehr erinnern.

Wenn Michaela Kreß nicht mehr weiterwusste, unterstützte sie ihr Mann. Er kam ins Bad, sagte entschlossen: „So, wir müssen jetzt aufstehen.“ Hob die alte Dame hoch und zog sie an. Bei ihm diskutierte Madame Boudreau nur selten. „Für ihn war es leichter, auch mal durchzugreifen“, sagt Michaela Kreß. Nach und nach ließen Madame Boudreaus körperliche Kräfte nach, und mit ihnen verflog auch der Trotz. Rainer Kreß nennt seine Schwiegermutter trotzdem noch liebevoll: Schwiegertiger.

„Manchmal fühlt man sich schon wie in einem Gefängnis“

Anfangs konnte Michaela Kreß ihren Job als Einkäuferin bei einem mittelständischen Unternehmen dank flexibler Arbeitszeiten mit der Pflege vereinbaren. Aber als ihre Mutter auf immer mehr Hilfe angewiesen war und ganztags betreut werden musste, gab sie 2008 ihre Stelle auf, um ganz für ihre Mutter da zu sein. Seither muss Rainer Kreß die dreiköpfige Familie allein ernähren; er ist selbstständig, arbeitet als Ausbilder im Holzfachwerk. Rente und Hinterbliebenenrente ihres Mannes decken den Lebensunterhalt der Mutter.

Mit der Ergotherapeutin am Krankenbett. Zuspruch vom Ehemann ist sehr wichtig, er bestärkt Michaela Kreß, dass sie sich auch Zeit für sich nehmen muss

Die Pflegekasse zahlt Michaela Kreß eine Aufwandsentschädigung. Die Höhe hängt vom Grad der Pflegebedürftigkeit ab. Madame Boudreau hat mit Pflegestufe drei die höchste Einstufung und Anspruch auf 700 Euro Pflegegeld im Monat oder 1550 Euro für häusliche Pflege (siehe Seite 33). Da beides kombiniert wird – jeden Morgen kommt ein ambulanter Dienst zum Waschen, Ankleiden und Windeln wechseln –, bekommt sie nur etwa 300 Euro Pflegegeld ausbezahlt. Einen großen Teil davon schlucken die Zuzahlungen zu Rezepten für Physio- und Ergotherapien und Kosten für Windeln.

Pflegetage sind Tage, die einander gleichen. Michaela Kreß kocht, reicht ihrer Mutter eine Tasse Wasser oder Saft, wäscht Wäsche, wechselt Windeln, telefoniert mit ihrer besten Freundin, lagert ihre Mutter um, spült ab, liest ein wenig, erzählt ihrer Mutter, was so in der Welt passiert. Ein kleiner Ausgleich ist ihr Engagement als Vorsitzende im Diabetesverein Aschaffenburg. Sie schreibt Artikel für das Vereinsmagazin, organisiert einmal im Monat eine Infoveranstaltung und berät am Telefon. So behält sie Kontakt zur Welt.

Michaela Kreß sitzt im Wohnzimmer und faltet Wäsche. Hinter dem Fenster in den Wäldern am Rande von Waldaschaff rauscht der Wind leise durch die Blätter. „Manchmal fühlt man sich schon wie in einem Gefängnis“, sagt Michaela Kreß und legt ein Handtuch auf den Wäschestapel. „Mal wieder Urlaub machen, das wäre schön.“ Der letzte Urlaub mit ihrem Mann war vor drei Jahren, zwei Wochen Sardinien. Aber das Geld ist knapp, allein die Zuzahlung für die Kurzzeitpflege, wo dann ihre Mutter vorübergehend untergebracht würde, beträgt etwa 30 Euro pro Tag.

„Mal wieder Urlaub machen, das wäre schön“

Immer wieder hört Michaela Kreß Lob von ihrem Ärzteteam, der Physio- und der Ergotherapeutin. Wie gut sich die Mutter mache, wie toll sie sich um sie kümmere. „Die Beziehung zu meiner Mutter ist tatsächlich noch enger geworden“, sagt Michaela Kreß. Aber die Pflege hinterlässt Spuren. In Michaela Kreß’ Bewegungen und in der Art, wie sie spricht, spürt man eine Lethargie, eine Langsamkeit. Sieben Tage in der Woche dreht sich fast alles um die Mutter, das schlaucht. „Michaela ist still geworden, verschlossener“, sagt Rainer. „Ich unterstütze sie in ihrer Entscheidung. Auch wenn sie irgendwann sagt, dass es so nicht mehr geht“, sagt Rainer Kreß.

Michaela Kreß bläst einen blauen Ballon auf, stellt sich ans Ende des Bettes von Madame Boudreau. „Guck mal, ein Ball“, sagt sie. Madame Boudreau öffnet den Mund. „Nein, der ist nicht zum Essen!“ Sie wirft ihn ihrer Mutter zu. „Achtung, Mutti, fang!“ Madame Boudreaus Arme heben sich langsam. Ihre Augen folgen dem Ballon, der langsam durch die Luft schwebt. „Ooops, da ist er auf dem Kopp gelandet.“ Madame Boudreau lächelt. Michaela Kreß gibt ihr den Ballon in die Hand. „Hier, nimm ihn mal so.“ Sie läuft ans Bettende. „Gibst du ihn mir bitte?“ Madame Boudreau lächelt und streckt in Zeitlupe die Arme nach vorne. „Danke schön. Und jetzt noch mal.“ Michaela Kreß wirft. Dieses Mal fängt ihre Mutter den Ballon.

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