Foto: Stefan Floss
Herrnhut ist eine kleine Stadt – und das Zentrum einer weltweiten christlichen Gemeinde. Hier werden die berühmten Sterne hergestellt und die Bibelverse für jeden Tag gelost. Ein Besuch in der Oberlausitz
Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff
27.11.2013

Ja, die Sterne sind von Hand gefertigt. Man kann auch hingehen zur Manufaktur und den Damen beim Falten zu­sehen. Der Herrnhuter Stern, das sind 25 Papierzacken, ineinandergelegt und in längliche Schachteln verstaut. Der Kunde fügt sie zu Hause selbst zusammen. Der dreidimensionale Weihnachtsschmuck hat das Städtchen Herrnhut in der Oberlausitz, am östlichen Rand der Republik, berühmt gemacht.

Von der Sternmanufaktur sind es nur wenige Schritte zum Zentrum des 2800-Einwohner-Städtchens, zum Kirchsaal der „Brüdergemeine“ – Gemeinde ohne „d“, wie es die Gründer der Siedlung schon vor fast 300 Jahren sagten. So heißt die Gemeinschaft, die damals mit dem Christentum ernst machen wollte, mit Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit, Sittsamkeit, Demut und vielem mehr.

Nikolaus Ludwig Reichsgraf von Zinzendorf, Eigentümer des Schlosses im benachbarten Berthelsdorf, ließ hier protestantische Glaubensflüchtlinge siedeln. „Am 17. Juni 1722 fällte der mährische Zimmermann Christian David den ersten Baum zum Anbau Herrnhuts“, heißt es im Touristenprospekt des Ortes.

###mehr-extern### Sittsam ging es hier von Anfang an zu. Der Graf achtete darauf, dass die Stuben gelüftet wurden, dass niemand Abwasser oder Unrat durch die Fenster auf die Straßen warf und dass man die Gänse und Hühner nicht in den Gassen herumlaufen ließ.

Die Herrnhuter waren freie Handwerker, anders als die Untertanen in den umliegenden Dörfern. „Die hochnäs’schen Herrnhuter“ sächselten die misstrauischen Nachbarn noch, als die Bauern der Oberlausitz längst befreit waren.

"Keine Ehe soll ohne Vorbewußt der Ältesten beschlossen sein"

Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts konnten sich hier Neubürger nur ansiedeln, wenn sie sich auf das Herrnhuter Experiment verpflichteten und mit anderen nach den Statuten des frommen Grafen von ­Zinzendorf zusammenlebten. „Keine Ehe soll ohne Vorbewußt der Ältesten beschlossen, noch ein Verlöbnis ohne ihre Gegenwart oder Genehm­haltung gültig sein“, steht darin. Und: „Alle Sonnabend soll von den Ältes­ten eine Konferenz gehalten, und wer dazu gefordert wird, unwidersprechlich erscheinen, oder da er zweimal ungehorsamlich ausbleibt oder sich widerspenstig erzeigt, den Ort räumen.“

Dann kamen andere Zuzügler. Heute gehört nur noch jeder 13. Herrnhuter zur Brüdergemeine.

Rein rechnerisch könnte Michael Salewski ein Bruder in zwölfter Generation sein. Ist er aber nicht, er stieß erst zum ­Jahreswechsel 1962/63 als Kind dazu, weil seine Mutter hier in Herrnhut Arbeit fand. Heute ist Salewski „Referent der Brüder-Unität“, der weltweit etwa eine Million Mitglieder angehören. Salewski ist für die theologische Aus- und Weiterbildung in Deutschland, Skandinavien und dem Baltikum zuständig.

Wie der ganze Ort einst aussah, davon gibt das schmucke Zentrum eine Ahnung: Bürgerhäuser, in Anlehnung an den Dresdner Barockstil erbaut. Wiedererbaut, um genau zu sein. Der ganze Ort einschließlich des Gottesraumes war bis auf die Grundmauern niedergebrannt, als Nazis ausgerechnet hier in der Nacht zum 9. Mai 1945, also nach Kriegsende, bewaffneten Widerstand gegen die Rote Armee leisteten. Die strikt pazifistischen Brüder und Schwestern waren da längst in der Minderheit und hatten mit der sinnlosen Aktion nichts zu tun. Sie waren die Leidtragenden.

25 Zacken ineinanderlegen, verpacken und an die Kunden verschicken: Arbeit in der Sternmanufaktur der Brüdergemeinde -Foto: Stephan Floss

Wasserflecken be­zeugen, wie lange das nackte Gemäuer dem Regen ausgesetzt war

1972, zur 250-Jahrfeier, ließ die DDR das alte Herrnhut wiedererstehen. Die Wasserflecken unter der Decke des Kirchsaals be­zeugen noch heute, wie lange das nackte Gemäuer dem Regen ausgesetzt war. Eine der beiden Emporen hat man rekonstruiert, für die zweite fehlte das Geld. Alles ist weiß im Kirchsaal. „Die Farbe symbolisiert den Ausblick auf die himmlische Welt“, sagt Michael Salewski, „der Saal ist die gute Stube der Gemeinde.“ Das schlichte weiße Kreuz auf weißem Untergrund bildet den größtmöglichen Gegensatz zum barocken Prunk und Protz des damaligen Dresden. Dieser Raum wirkt überhaupt nicht sakral, sollte es auch nie sein. Er war stets auch Konzert- und ­Theatersaal und politischer Versammlungsraum für die Bürger.

Von der weltweiten Ausstrahlung Herrnhuts bekommen Besucher nur wenig mit. Im Sitzungssaal des Vogtshofes gegenüber vom Kirchsaal werden alljährlich die Herrnhuter Losungen ermittelt – Bibelverse für jeden Tag, ausgelost aus einer Sammlung von 1780 alttestamentlichen Versen. Ein Vertreter der Brüdergemeine zieht ein Papierröllchen aus einer Schale, öffnet es, liest die Bibelstelle vor. Ein zweiter trägt sie in den Kalender ein. Die Losungen werden in 46 Sprachen über­setzt, von Afrikaans bis Zulu. Mehrere Millionen Menschen auf der ganzen Welt denken über sie nach – jeden Tag.

Foto: Thomas Przyluski/Brüder-Unität

Selbst mit seinen Eingemeindungen kommt Herrnhut auf lediglich 6554 Einwohner – und leistet sich dennoch ein ­Völkerkundemuseum. Dort sind die ersten Konvertiten aus Übersee auf einem Gemälde festgehalten. Ferner sind das Modell eines Inuit-Kanus, Cham-Masken aus dem Himalaya, ein Aborigine-Schild aus Australien, eine Kopfplastik von nordamerikanischen Indianern und ostafrikanische Schnitzereien zu sehen. Mitbringsel der Missionare, die seit der Gründung Herrnhuts auszogen, wo immer sie von der Not fremder Völker hörten – nach Grönland, Surinam, Australien, Tansania, Ostasien. Die Sklaven und Rechtlosen in Übersee ließen sich wider Erwarten nicht immer gleich taufen. Wenn doch, dann beeindruckte sie, dass für die Herrnhuter alle Menschen gleich waren. Ein Skandal für die ­karibischen Plantagenbesitzer, als ein Herrnhuter in den Anfangsjahren eine Exsklavin heiratete! Den Brüdern war nur wichtig, dass das Paar den Gemeindesatzungen verpflichtet blieb.

Im Tod sind alle gleich

Auf dem Gottesacker herrscht Gleichheit: keine Steine, nur ein paar Hinweisschilder - Foto: Brüder-Unität

Heute lebt der weitaus größere Teil der Gemeinde in Übersee – in Siedlungen wie dem Städtchen in der Oberlausitz.
„Meinen Jesus lass ich nicht, weil er sich für mich gegeben“, intoniert die Blaskapelle der lutherischen Gemeinde aus Berthelsdorf – zwei Posaunisten vorweg, dann fünf Trompeter. Dahinter schieben sechs Totengräber den Wagen mit dem blumenbekränzten Sarg, gefolgt von Pfarrer und Trauergemeinde. Ein Trauerzug nach dem Vorbild der Brüdergemeine, doch er führt am Herrnhuter Gottesacker vorbei. Der Tote war Mitglied der Landeskirche. Und auch wenn sich die Brüdergemeine der Landeskirche immer eng verbunden fühlte, ihr Friedhof bleibt den eigenen Leuten vorbehalten.

Schnurgerade führt die Lindenallee oberhalb des Löschteichs auf den Friedhof der Herrnhuter zu. Dieser Tage müssen die Brüder und Schwes­tern gemeinschaftlich Laub harken. Friedhofspflege im Kollektiv.

Oben ist schon der Torbogen mit der Aufschrift zu sehen: „Christus ist auferstanden von den Toten“. Dahinter liegen die Grabplatten in exakt bemessenen Reihen auf dem Boden. Keine Grabstele, kein Kreuz, nur Steinplatten mit den Namen und Lebensdaten der Toten, links Männer, rechts Frauen, in der Reihenfolge, wie sie starben. Grabstellen für Familien gibt es nicht, auch keine Ehrenmäler für Prominente. Im Tod sind alle gleich.

"Das hätte dem Grafen nicht gefallen!"

1972 wiedergebaut: der Kirchsaal der Herrnhuter Brüdergemeine - Foto: Eckelt/Caro

Die Grabinschriften auf dem Gottesacker bezeugen den radikalen Egalitarismus der Herrnhuter. Unbefangen nahmen sie Menschen aller Konfessionen, Nationalität und Rasse als ihresgleichen an. Die ersten Siedler, Glaubensflüchtlinge aus Mähren, ruhen hier. Außerdem: Carmel Oly, alias Josua, ein befreiter Sklavenjunge aus dem westafrikanischen Guinea, gestorben 1736. Der zuständige Missionar brachte den Achtjährigen, seinen einzigen Konvertiten, nach seiner Rückkehr mit. Vermutlich hätte sich sonst niemand um den Knaben gekümmert. Auch Simon Arbalik und Sara Pussimek, beide 1748 gestorben, liegen hier. Sie waren das erste getaufte Inuit-Ehepaar aus Grönland, sie wollten in der Herrnhuter Stammgemeinde leben. Was die Herrnhuter damals wohl gut meinten, wirkt aus heutiger Sicht ­naiv: Weder Josua noch die Inuit waren gegen die Infektionskrankheiten Mitteleuropas gefeit.

Hinter dem Gedenkstein für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs öffnet sich der Blick auf Berthelsdorf, wo Zinzendorfs Schloss steht. Es wird gerade renoviert. Wofür es später genutzt werden soll, das steht noch nicht fest.

Michael Salewski bleibt vor den erhöhten Grabplatten von Nikolaus Zinzendorf und seinen Familienangehörigen stehen. „Das hätte ihm nicht gefallen“, sagt er. Der Graf und Gründer der Herrnhuter Gemeinde, ihr Inspirator und ­Vorantreiber, habe kein herausgehobenes Grab gewollt. Er habe zeit seines Lebens auf alle Privilegien verzichtet, die ihm als Mitglied des Hochadels damals zustanden. Aber genau das macht ihn in den Augen seiner Anhänger so verehrenswert.

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