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So peinlich ist Armut
Eine Mittelschichtfamilie wird obdachlos und muss in eine Zeltstadt ziehen. Darüber schreibt Todd Strasser alias Morton Rhue in einem neuen Jugendbuch. Seit seinem Roman „Die Welle“ über einen ­autoritären Unterrichtsversuch in einer Schule ist Strasser auch in Deutschland ein vielbeachteter Autor
15.11.2013

Wie ist die Situation für Obdachlose in Amerika?
Morton Rhue: Viel besser als um 2008. Während der Rezession haben so viele Leute so schnell ihre Jobs verloren und  konnten ihre Hypotheken nicht mehr bezahlen, dass viele Zeltstädte entstanden sind. Die Regierungen waren nicht in der Lage, sie in Häusern unterzubringen. Aber jetzt gibt es Wohnungen, jetzt ist es besser.

Gibt es überhaupt noch Zeltstädte?
Ja, aber nicht mehr so viele und nicht mehr so große. Der Staat und religiöse Organisationen helfen Obdachlosen. Es wird wirklich viel getan.

Warum wurden damals so viele Menschen plötzlich obdachlos?
Nicht nur wegen der Immobilienkrise, sondern auch weil viele Amerikaner nicht krankenversichert sind. Zwei von drei Privatinsolvenzen in Amerika sind auf hohe Arztrechnungen zurückzuführen.

Warum hat Sie das Thema so gepackt?
Die Rezession hat mich an den Roman „Früchte des Zorns“ von John Steinbeck erinnert. Er erzählt von einer Familie aus Oklahoma während der großen Depres­sion in den 1930er Jahren. Damals wurden Höfe zwangsversteigert, viele Leute verloren ihr Zuhause und mussten versuchen, woanders Arbeit zu finden. Es hat mich einfach umgehauen, dass nur 80 Jahre ­später in meinem Land genau dasselbe wieder passieren konnte.  Außerdem möchte ich, dass Jugendliche wissen: Nicht allen Leuten geht es gut. Es gibt Obdachlosigkeit, Ghettos, Erziehungscamps. Ich habe in vielen meiner Bücher darüber geschrieben. Teenager sollen wissen, was um sie herum geschieht.

Warum schreiben Sie aus der Perspek­tive eines 16-jährigen Jungen?
Bei ernsten Themen wie diesem schreibe ich oft aus der Jungensperspektive, weil Mädchen das auch interessiert, während Jungen nicht so gern Texte aus Mädchensicht lesen.

Wie haben Sie recherchiert?
Während der Wirtschaftskrise haben ja alle Medien darüber berichtet. Außerdem gab es Zeltstädte in der Gegend von New York, wo ich lebe. Ich konnte dort mit ­einigen Leuten sprechen. In Deutschland ist die Mittelschicht relativ stabil, aber viele Leute haben Angst, abzurutschen. Besonders gefährdet sind alleinerziehende Mütter. Das ist in Amerika auch so. In der EU sind 24 Prozent von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht. Auch in Italien, Spa­nien und Griechenland leben Menschen in Zelten.



Was tut eine Mittelschichtfamilie, wenn sie arm und obdachlos wird?
Ich habe immer gedacht, wenn es jemals eine Revolution gäbe, dann von den Armen. Aber dann habe ich begriffen, dass die Armen unglücklicherweise daran gewöhnt sind, arm zu sein. Wenn es also jemals eine Revolution gäbe, dann geht sie wohl von der Mittelschicht aus. Diese Menschen glauben einfach nicht, dass sie arm und obdachlos werden können. Dan, der Junge in meinem Buch, verdrängt, dass seine Mutter schon länger ihren Job bei einer Vermögensverwaltung verloren hat und es das Sozialprojekt, für das sein ­Vater gearbeitet hat, nicht mehr gibt. Das ist ­typisch. Die meisten amerikanischen Teen­ager interessieren sich nicht für Politik und soziale Themen. Wenn eine Familie dann obdachlos wird, ist das ein Schock, etwas, das man immer für undenkbar gehalten hat. Kein WiFi mehr, kein Handy, kein Kontakt zu den Freunden, damit geht es los.

Und nach dem ersten Schock?
...versucht man, die persönliche Lage zu verbergen. Ich habe einmal mit einer Schulklasse in Florida geskypt und beiläufig gefragt, ob jemand in der ­Klasse obdachlos ist. Nein, war die Antwort, das gibt es hier nicht. Aber als die Kinder draußen waren, hat die Lehrerin mir erzählt, dass es sehr wohl Obdachlose an der Schule gab. Aber sie wollten nicht, dass das jemand mitkriegt. Kommt es dann doch heraus, ist es für alle peinlich.

Wie ergeht es einem obdachlosen Teenager in einer Mittelschichtschule dann weiter?
Er steht unter Druck. Plötzlich kann er viele Dinge, die früher selbstverständlich waren, nicht mehr mitmachen. Ein einfaches Beispiel: Seine Freunde gehen ins Kino und essen Pizza, und er hat kein Geld dafür. Die Freunde wollen ihn nicht ausschließen, aber sie können auch nicht immer für ihn zahlen, auch weil sie wissen, dass ihm das unangenehm ist. Genau das geschieht Dan.

Wenn ein Freund plötzlich viel weniger Geld hat als vorher – wie soll man sich verhalten?
Das weiß ich auch nicht. Die richtige Antwort ist natürlich, weiter befreundet zu bleiben und sich Unternehmungen auszudenken, die er sich leisten kann. Aber die Wahrheit ist, dass die meisten Menschen sich nicht um andere kümmern, jeder spielt sein eigenes Spiel.

Warum gibt es dann in Ihrem Buch einen jungen Mann, der in der Zeltstadt alle ­anderen aufbaut?
Es gibt Menschen, die ihren eigenen Schmerz in Hilfe für andere verwandeln, denen es ähnlich schlechtgeht wie ihnen. Sie sind aber sehr selten und oft sehr ­charismatisch. So wie Nelson Mandela zum Beispiel.

Jeder, der arbeiten will, findet auch ­Arbeit, ist eine herrschende Meinung, die auch in Ihrem Buch geäußert wird.
Ich glaube, das gilt heute nicht mehr. Es war immer mal so, dass die Wirtschaft niederging, dann ging es wieder aufwärts und es gab neue Jobs. Aber das geschieht jetzt nicht. Wenn man 45 oder 50 Jahre alt ist und nach einem Jahr oder zwei Jahren noch immer keinen neuen Job hat, wird man komisch angeguckt. Ich glaube nicht, dass der Einzelne Schuld daran hat. Der Kapitalismus funktioniert nicht mehr.

Was ist falsch gelaufen?
In den USA gehört jetzt einem Prozent der Bevölkerung 25 bis 30 Prozent des Vermögens, des Landes und des Geschäfts. Dieses eine Prozent wird reicher und reicher, während für den Rest im besten Fall alles gleich bleibt. Für dieses Problem ist keine Lösung in Sicht. In Deutschland gibt es zumindest ein sehr gutes Sicherheitsnetz. Vielleicht macht mein Buch deutschen ­Jugendlichen deutlich, wie wertvoll das ist. In den Vereinigten Staaten fordern die ­Demokraten mehr soziale Sicherheit, aber die Republikaner sind dagegen. Der Einzelne soll für sich selbst sorgen – auch wenn er oder sie krank wird.

Warum gibt es diesen Widerstand gegen eine Krankenversicherung für alle?
Die Republikaner sind nur noch eine sich selbst verpflichtete Gruppe, die aus ideo­logischen Gründen keine Versicherung für andere Leute zahlen will. Der einzige Trost ist, dass die alten weißen Männer, die um ihre Privilegien kämpfen, an Macht verlieren. Bald wird es mehr schwarze, asiatische und spanische Amerikaner ­geben.

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