Illustration: Maria Luisa Witte
Ich war zu feige
Jugendbuchautor Hermann Schulz erzählt, wie eine Bande von Jungen in der Nachkriegszeit einen Mitschüler fast ­ermordet. Die Geschichte hat er selbst erlebt, er war einer der Jungs. Ein Lehrstück über Zivilcourage
27.09.2013

chrismon: Ihr neues Jugendbuch handelt von einem Beinahemord unter Jugendlichen. Sie haben die Geschichte in der Nachkriegszeit selbst erlebt. Warum erzählen Sie gerade jetzt davon?

Vor anderthalb Jahren hatte die Volkshochschule Lüchow – das liegt im Wendland – mich eingeladen, Wendlandgeschichten zu erzählen. Die wussten, dass ich dort einen großen Teil meiner Kindheit verbracht habe und auch viele Szenen in meinen Büchern dort spielen. Das war der Anlass, mich mit einem Ereignis zu beschäftigen, an das ich nicht gerne zurückdenke, mit dem ich mich aber auseinandersetzen wollte.

Sie erzählen die Geschichte aus Ihrer Perspektive. Freddy – das sind Sie – und seine Freunde quälen das zurückgebliebene Flüchtlingskind Günter. Warum?

Freddy eiert hin und her, obwohl er genau weiß, was richtig ist. So ging es mir auch. Die größte Wut im Bauch hatte Leonhard, der am intensivsten darauf bestand, Günter müsse verschwinden. Er war wütend darüber, dass sein Vater nicht mehr lebte und seine Familie in einem Stall hausen musste, und auch darüber, dass sein Vater noch nicht einmal als Held gefallen war, sondern bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. Ich habe das in meinem Buch nicht erwähnt. Unerhört ist, wie die Erwachsenen sich damals verhielten. Wie die Väter ihre Kinder prügelten oder ihnen mit Prügel drohten. Vor allem die, die im Krieg waren. Da war ich fein raus, ich hatte keinen Vater mehr, der prügeln konnte.

Was reizte Sie und die anderen Jungen damals so sehr an dem Flüchtlingskind?

Im Dorf und in der Schule waren Flüchtlinge nicht so gut angesehen. Man empfand sie als Eindringlinge. Jeder Hof war ja verpflichtet, eine Flüchtlingsfamilie aufzunehmen – aber unter Kindern spielte das keine allzu große Rolle. Günter mit seiner ewigen Rotznase, seiner Stotterei und seiner Langsamkeit störte uns vor allem in unserem Gefühl, die großen Abenteurer zu sein. Er hängte sich an, und wir hatten keinen Mumm, ihn in irgendeiner Weise zu integrieren. Und dann hielt er uns an einem Sonntag von einem Abenteuer ab, auf das wir uns alle gefreut hatten. Das haben wir ihn dann auf eine ziemlich eklige Weise spüren lassen.

In Ihrem Buch quälen die Jungen Günter und wollen ihn dann umbringen.

Ja, damit er sie nicht bei den Erwachsenen verpetzt. Wir haben ihm in die Hosentaschen gepinkelt, eine Torflore über ihn gestülpt und mit Steinen darauf geworfen. Das „Dritte Reich“ und seine Ideologie waren noch nicht verarbeitet. Und die Gewaltfantasien übertrugen sich auf die Kinder. Die Jungen im Buch sagen: Die Bekloppten sind nichts wert. Das meinte damals jeder zu wissen. Auch das ist natürlich unerhört.

Waren Sie und Ihre Freunde damals wirklich kurz davor, Günter zu töten?

Den Plan zu töten gab es wirklich. Aber im Grunde wollte den keiner von uns ausführen. Jeder hatte Ängste. Und wir wollten nicht in Erziehungsanstalten gesteckt werden – so hieß das damals. Als Günter am Montag nach unseren Quälereien nicht in der Schule auftauchte, konnten wir mit keinem Erwachsenen darüber eden, so sehr fürchteten wir die Strafe. Günter blieb weg, schließlich ist die Sache im Sande verlaufen. Mit meinem Buch habe ich ja auch keine Reportage geschrieben, sondern eine Geschichte, in der zwar keine Person erfunden ist, die aber trotzdem fiktiv ist.

Man spürt das ganze Buch über den Druck, unter dem Freddy steht, seine Angst, etwas Falsches zu machen, auch den Gruppenzwang. Wie haben Sie das als Junge erlebt?

Ich war ein kleiner Feigling. Auf der einen Seite fand ich es nicht richtig, Günter auszugrenzen, erst recht, als ich merkte, dass er interessante Seiten hatte, zum Beispiel etwas von Pferden verstand. Auf der anderen Seite wollte ich im Dorf aber auch dazugehören. Und ich wollte auf keinen Fall zurück zu meiner Mutter oder in ein Missionsinternat.

Eigentlich lebten Sie am Niederrhein. Und wie Sie es auch im Buch beschreiben, hatten Onkel und Tante Sie zu sich ins Wendland auf ihren Bauernhof geholt.

Ja, etwa fünfzig Kilometer von Lüneburg entfernt, ganz nah an der Grenze zu Mecklenburg-Vorpommern. Da gibt es noch Rundlingsdörfer – eine alte wendische Siedlungsform. Und man spricht ein eigenes Plattdeutsch, das durchtränkt ist von slawischen Aus­drücken. Als Kind fand ich das wunderbar.


Warum haben Ihre Verwandten Sie zu sich genommen?

Die beiden hatten ein Gespür dafür, dass ich durch den Wind war und Zuwendung brauchte. Ich war wahnsinnig froh, dem frommen Umfeld meiner Mutter entkommen zu sein, dem ganzen Missionsklüngel vom Niederrhein. Die pietistische Frömmigkeit, die Diskriminierung aller Dinge, die Freude machen, der Zwang zum Kirchegehen waren für mich etwas Furchtbares. Mein Onkel und meine Tante haben das gemerkt und mich zu sich geholt. Ich muss sagen, eine tolle Leistung.

Im Buch kommt das nur in einem Nebensatz vor.

Ich war fünf Jahre alt, da haben sie in ihrem Schlafzimmer ein Bett aufgestellt, und da schlief ich. Ich werde nie vergessen, wie sie sich abends im Bett auf Plattdeutsch unterhielten. Das meiste verstand ich gar nicht. Aber es war eine unglaublich menschliche Wärme da. Mein Onkel hat nie ein Buch gelesen, er wusste nicht, was Psychologie ist. Er hat einfach gemerkt, dass ich Zuwendung brauchte. Solche Menschen erfahren zu haben, die ein Gespür dafür hatten, was der andere braucht, war wichtig für mein ganzes Leben.

In Ihrem Buch sind die Jungen kurz davor, Günter im Moor zu versenken. Dann kommt die Wendung.

Ja, Freddys Vetter Willi taucht überraschend im Wald auf. Freddy erkennt ihn nicht, weil er als SS-Mann im Krieg und dann in Gefangenschaft war. Willi, der sich im Dorf umgehört hat, errät, was die Jungen­bande vorhat, und spricht sie darauf an. So bricht er den Bann, aber ohne ihnen die Entscheidung abzunehmen. Willi ist ruppig und überlässt den Jungen seine Pistole, damit sie Günter abknallen können, wie er sagt. Er lebt noch in der Gewaltszenerie des ver­gangenen Krieges und sagt: Ich bin Fachmann – ohne das genau zu erklären. Er hofft, dass sie nicht schießen. Aber er geht ein Risiko ein. Pädagogisch klug finde ich das nicht. Ich würde jedenfalls in einer vergleichbaren Situation nicht so mit Jugendlichen sprechen. Willis Rechnung geht aber auf.

Warum ließen Sie als Erzähler die Jungen nicht in die Katastrophe schlittern?

Das weiß ich nicht. Es hat sich beim Erzählen so entwickelt. Es ist mir schon ein paar Mal passiert, dass Kapitel in meinen Büchern zu pädagogisch oder lehrerhaft waren. Das haben die Lektoren dann herausgestrichen. Aber in diesem Fall schien es mir und meinem Lektor glaubwürdig.

Für die Kriegsheimkehrer in Ihrem Buch gibt es reale Vorbilder. Wie waren sie?

Ich hatte zwei Vettern, Willi und Werner. Sie waren Riesenkerle, hatten SS-Uniformen, schöne Frauen und so weiter. Sie waren überall begehrt, kamen dann aber gebrochen aus dem Krieg zurück. Sind auch beide ganz früh gestorben, mit Ende dreißig. Traurig. Später hat mir ein anderer Cousin erzählt, dass Werner an Erschießungen von Partisanen und Juden beteiligt war und ihm das eines Nachts gestanden und furchtbar geweint hat. Er habe gesagt: Wenn wir das nicht machen, werden wir selbst erschossen. So hat man diese einfachen Bauernjungen unter Druck gesetzt. Werner heißt im Buch Gustav, er hat tatsächlich fast ein halbes Jahr nicht gesprochen, als er zurückkam. Und seine Mutter hat auch in Wirklichkeit gesagt: Besser, wir fragen gar nicht.

Gruppendruck, Feigheit und Zivilcourage sind in Ihren Büchern immer wieder Themen. Warum schreiben Sie darüber?

Ich kann mich an viele Situationen in meiner Kindheit und Jugend erinnern, in denen ich gewünscht hätte, mutig gehandelt zu haben. Aber ich konnte es einfach nicht, oder ich habe es nicht gemacht – das ist das Entscheidende. Mir liegt sehr daran, Jugendlichen klarzumachen, wie wichtig Zivilcourage im Leben ist. Man kann ja eigentlich froh sein, wenn man die Chance bekommt, sich mutig zu verhalten. Und man sollte immer darauf vorbereitet sein. Ich selbst habe einige Male erfahren, wie wichtig es ist, dass jemand sich hinter mich stellt. Ich werde nie vergessen, wie sich einmal ein Offizier von der Heilsarmee, der zum Geburtstag meiner Mutter eingeladen war, für meine Brieftauben interessierte. Und das, nachdem die ganze Geburtstagsgesellschaft vorher wegen meiner angeblich primitiven Tauben und meiner Nähe zu den Bergleuten auf mir herumgehackt und gefragt hatte, ob ich immer noch so schlecht in der Schule sei. Eine Stunde ließ er sich von mir alles zeigen und erklären. Der interessierte sich nicht für die Tauben. Er hat nur gemerkt, dass ein kleiner Junge fertiggemacht werden sollte, und getan, was er tun konnte. Da bin ich innerlich ein paar Zentimeter gewachsen.

Wie reagieren Jugendliche heute auf Ihre Geschichte aus dem Wendland?

Die Kinder suchen sich heraus, was für sie wichtig ist. Ich habe das Manuskript mehrmals in Schulen gelesen und war überrascht, wie die Kinder die Geschichte sofort auf ihre Situation bezogen. Zum Beispiel wenn ausländische Kinder in der Klasse waren. Oder wenn es Mobbing und Ausgrenzung an der Schule gab. In einigen Klassen sind Behinderte, und die Kinder müssen lernen, sie zu integrieren. Sie wissen, dass es heute anderen ähnlich geht wie damals den Ostflüchtlingen. In meinen Lesungen könnte man an manchen Stellen eine Stecknadel fallen hören.

An welchen?

Wenn der Willi auftaucht, sich erst mal eine Zigarette ansteckt und sagt: Na, wie ist euer Sonntagsausflug? Da spürt man, die Geschichte rückt den Kindern ganz nah auf den Pelz. Und wie er dann seine Pistole dalässt und den Jungen rät, Günter einen Kopfschuss zu geben. Das finden sie natürlich furchtbar grausam. Sie denken, das ist wirklich ein SS-Mann, der jetzt Mordhilfe leis­tet. Oder wenn Freddy nach der Szene im Wald zur Mutter von Leonhard geht. Wie sie ihn erst mal fertigmacht und sagt: Am besten, du gehst gleich mit meinem Sohn zusammen in die Er­ziehungsanstalt, er packt schon. Die Frau sitzt da voller Trauer und Enttäuschung und sortiert Kartoffeln. Da sind die Kinder mucksmäuschenstill. Sie wollen natürlich wissen, wie Freddy in dieser Situation besteht und ob Leonhard jetzt den schwarzen Peter hat.

Interessieren sich die Kinder auch für den Krieg?

Die wissen, was SS-Männer waren, dass sie einer schrecklichen Mördertruppe angehörten. Und sie verstehen auch Freddy sofort, wenn er sagt: Meine beiden Vettern waren bei der SS, aber ich habe sie gerne; der eine ist sehr witzig, und der andere hat mich zu seiner Hochzeit eingeladen. Sie wissen, dass die beiden auch nur Menschen sind, die in ganz schlimme Situationen gekommen sind und die man nicht pauschal verurteilen darf. Jedenfalls hoffe ich, dass sie das denken.

Viele Eltern klagen darüber, dass ihre Jungen spätestens ab der Pubertät nicht mehr lesen.

Das liegt auch daran, dass Jungen ab zwölf die Welt entdecken. Das war in früheren Generationen nicht anders. Wenn man ­Jungen Bücher gibt, sollten es gute Geschichten sein, ohne pädagogischen Zeigefinger. Dann sind sie durchaus bereit zu lesen, aber nicht unbedingt darüber zu reden. Das ist ihnen in der Pubertät zu genierlich. Gut ist auch, dass es immer mehr männliche Jugendbuchautoren gibt. Jungen brauchen Orientierung über männliches Verhalten.

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