Wie soll man umgehen mit unangenehmen Zeitgenossen?
Eine Politikerin und ein Fernsehmoderator sprechen über Menschen, denen man eigentlich lieber aus dem Weg geht
21.08.2013

chrismon: Frau Höhn, als Politikerin macht man sich auch Feinde. Hatten Sie schon mal mit richtig unangenehmen Zeitgenossen zu tun?

Bärbel Höhn: Ja, aber das waren keine Politiker.

Sondern?

Höhn: Kampfhundebesitzer. Ich habe damals die Landeshundeverordnung durchgebracht, die das Halten von Kampfhunden verbietet. Auf meiner Homepage landeten pro Tag 250 wüste Beschimpfungen. Es gab Demonstrationen vor unserem Privathaus, heftigste Beschimpfungen in E-Mails und Briefen, faschistische Äußerungen, Morddrohungen. Ich bekam Polizeischutz und habe gemerkt: Das Problem ist nicht der Kampfhund. Es ist der Mensch am anderen Ende der Leine.

Herr Willemsen, halten Sie sich von solchen Leuten lieber fern? Oder hätten Sie Interesse daran, einen Kampfhundebesitzer zu interviewen?

Roger Willemsen: Grundsätzlich ja, ich hätte Interesse an einem Interview. Weil es sich um ein gesellschaftlich relevantes Phänomen handelt. Das ist unabhängig von meiner Sympathie oder Antipathie. Man sollte sich nicht die Frage stellen: Was soll ich nicht machen? Sondern: Wie soll ich etwas machen? Wenn es gelänge, einen Hundebesitzer so zu befragen, dass sich an ihm der Zusammenhang von Tierquälerei und Faschismus darstellen ließe, fände ich das richtig – und hochinteressant.

Wie sind Sie mit den Feindseligkeiten der Hundebesitzer umgegangen, Frau Höhn?

Höhn: Ich fühlte mich bestärkt in meiner Politik. Ich habe mit den Hundehaltern diskutiert, aber ich war ganz klar und habe inhaltlich nicht gewackelt.

Bärbel Höhn: „Ließe ich Angst zu, könnte ich den Job nicht machen“

Haben Sie manchmal um Ihr Leben gefürchtet?

Höhn: Nein. Angst darf einfach nicht in den Kopf rein. Wenn ich Angst zuließe, könnte ich diesen Job nicht machen. Dann hätten die, die mich unter Druck setzen, erreicht, was sie wollen.

Willemsen: Ich war als junger Mann während meines Studiums Nachtwächter in Bonn. Die Nachtwächter sind eine der ärmsten Klassen, die man sich vorstellen kann. Sie arbeiten bis zu sechzehn Stunden, haben ruhende Tätigkeit, verdienen wenig, viele trinken, ihre Familien sind zerrüttet. Und diese Leute haben Hunde und tragen an den Hunden ihre Misere aus. Ich kann wirklich niemandem raten, nachts in ein Freibad einzusteigen: Er sieht sich einem Nachtwächter gegenüber, der seine Angst am liebsten mit einem Schuss aus seiner Schreckschusspistole kompensieren würde. Und einem Hund, der vom Nachtwächter so unterdrückt wurde, dass er hart geworden ist. Guckt man auf die Täterseite, ist der Täter kein Täter mehr. Das ist wie mit diesen kleinen Russenpuppen aus Holz: In jeder Puppe steckt noch eine Puppe. In jedem Opfer ein anderes Opfer.

Höhn: Das ist auch bei Kampfhundebesitzern so. Oft kommen sie aus dem Rotlichtmilieu oder sozial schwierigen Stadtvierteln. Ihr Hund ist ihre Waffe. Sie wollen über den Hund die eigene Schwäche kompensieren.

Das klingt so verständnisvoll. Hat man denn Lust, jemanden zu verstehen, der einen gerade bedroht?

Höhn: Nein, im Augenblick der Bedrohung sicher nicht. Ich denke allerdings, dass wir uns ganz allgemein zu viel mit den Tätern beschäftigen und viel zu wenig mit den Opfern.

Willemsen: Einverstanden.

Höhn: Vielleicht geschieht das, weil wir glauben, kriminelle Taten verhindern zu können, wenn wir den Täter verstehen und mehr über ihn wissen. Aber wenn alle nur über die Täter schreiben, verlieren wir die Opfer, die zufällig in die Situation geraten sind, aus den Augen. Das darf nicht sein.

Herr Willemsen, Sie versuchen ja häufig, sich in Ihre Gesprächspartner einzufühlen und aus deren Perspektive in die Welt zu sehen.

Willemsen: Das Intuitive, die Einfühlung ist mir für meine Arbeit sehr wichtig. Man muss sich in einen Menschen hineinfühlen, seine Erfahrungen in lauter Kleinstteile zerlegen und sich an seine Stelle setzen, wenn man etwas über ihn erfahren will.

Höhn: Warum interviewen Sie eigentlich diese Leute? Gibt Ihnen das etwas? Oder möchten Sie der Gesellschaft etwas vermitteln? Ist da ein pädagogischer Aspekt?

Willemsen: Ich kann immer nicht ohne (lacht). Ich bin nun mal ein Besserwisser. In einem Interview muss immer etwas enthalten sein, das mich persönlich interessiert.

Roger Willemsen: „Man muss den Täter selbst hören, nicht was andere berichten"

Dabei scheuen Sie auch vor Tabubrüchen nicht zurück. Einmal haben Sie vor laufender Kamera mit einem Kannibalen gesprochen. Der Mann, ein hochintelligenter Japaner, hatte in Frankreich eine junge Frau getötet und von ihr gegessen. Warum haben Sie mit so einem ein Gespräch geführt?

Willemsen: Die Begegnung mit dem Japaner war für mich eine Schlüsselerfahrung. Wenn jemand morgens völlig unbescholten aus dem Bett steigt und 24 Stunden später zwei der schlimmsten Tabus überschritten hat, die die Menschheit kennt, sollte man nicht sagen: Schau, ein Monster. Sondern fragen, wie dieser Mensch von A nach B gekommen ist, Schritt für Schritt. Das dient auch der Prophylaxe. Man muss den Täter selbst hören, nicht nur die Psychologen und Journalisten, die über ihn berichten.

Höhn: Ist das wirklich so? Ich bin da zwiegespalten. Mich beunruhigt in dieser Gesellschaft, dass Tabus gebrochen werden, an die sich vor einigen Jahren keiner rangetraut hätte. Für zehn Euro bringt einer den anderen um, Obdachlose werden getötet, Behinderte, weil sie angeblich nichts wert sind. Dahinter scheint mir auch zu stecken, dass die Medien über diese Skandale viel zu häufig berichten und damit einige Leute erst auf diese furchtbaren Ideen kommen. Die Berichterstattung führt dazu, dass es immer weniger Tabus gibt. Wir geben Werte auf. In meinem Leben hat mein Wertesystem eine enorme Bedeutung. Viele junge Menschen haben solche Wertesysteme nicht mehr, suchen aber ganz verzweifelt danach. Und weil ihnen ein richtiges Wertesystem fehlt, werden sie anfällig für Leute, die ihnen eine falsche Richtung vorgeben. Ich könnte und wollte im Übrigen so ein Interview mit einem Kannibalen nicht führen.

Willemsen: In Sachen Rechtsradikalismus gebe ich Ihnen Recht. Der Zusammenhang zwischen der Medienberichterstattung und der Häufung der Taten ist tatsächlich bedenklich. Der Fall des Kannibalen ist aber anders. Erstens, weil es in den zehn Jahren seither keinen ähnlichen Fall gegeben hat. Und zweitens, weil Herr Sagawa selbst weiß, dass er sein Leben zerstört hat. Er sieht ein, dass alles falsch war. Dass er seine Zwangsidee, von einer Frau lebend zu essen, gar nicht verwirklichen konnte. Dort, wo er hinwollte, ist er nie angekommen. Er hat eine Illusion zerstört und ein Menschenleben. Das kann niemanden dazu animieren, es Herrn Sagawa gleichzutun. Ich habe diese Fernsehgeschichte übrigens nur unter der Bedingung gemacht, dass ich eine Stunde Zeit dafür habe und da nichts zu sehen ist als ein Japaner, der mit Hilfe zweier Dolmetscher spröde und verzweifelt von seinem Leben erzählt. Am Ende dieser Stunde konnte ich ihm kaum mehr die Hand geben. Er selbst sagte, ich sei immer härter geworden. Weil mir das so nah ging. Ich dachte nur noch: weg, weg, weg, kein Wort mehr. Eine Woche nach dem Gespräch hatte ich einen Heulanfall, weil mir der Mann so leid tat. Weil er unter seiner Schuld so fadenscheinig und so armselig geworden war.

Würden Sie wirklich jedem Schurken eine Stimme schenken und Ihre Aufmerksamkeit?

Willemsen: In diesem Fall ging es um die Rekonstruktion gelebter Erfahrung. Ginge es um Weltanschauungen oder Ideologien, würde ich mich hüten. Ich habe zum Beispiel immer dafür votiert, einem Rechtspopulisten wie Schönhuber kein Forum zu geben. Bei den großen Volksverhetzern wäre es zuallererst wichtig, ihnen die Öffentlichkeit zu nehmen. Aber das durchzusetzen ist natürlich sehr heikel.

Höhn: Ich bin auch ziemlich sicher, dass ein absolutes Verbot nichts nützen würde. Bestimmte Politikrichtungen verbreiten sich. Sie kommen zum Zug, wenn die etablierten Parteien keine überzeugenden Antworten auf die bestehenden Probleme geben. Man muss dann inhaltlich etwas für die Menschen tun, sich ihrer Probleme annehmen und gemeinsam Lösungen erarbeiten, damit sie Scharlatanen nicht hinterherlaufen.

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