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In Brasilien protestieren die Bürger. Kein Wunder, sagt ein Pfarrerin
30.07.2013

Brasilien sei eine aufstrebende Wirtschaftsmacht mit wachsender Mittelschicht, ist oft zu lesen. Erstaunt waren Berichterstatter dann über die Proteste Anfang Juli. Ich war nach zweieinhalb Jahren in Rio de Janeiro gar nicht erstaunt. Die Leute sind schon lange unzufrieden, zu Recht! Eine Mittelschicht in Brasilien – die gibt es meines Erachtens nicht.

2011 veröffentlichte die brasilianische Zeitung Globo Er­gebnisse der jüngsten Volkzählung: Über 60 Prozent der Brasilianer verdienen weniger als den gesetzlichen Mindestlohn, damals 650 Reais monatlich, 260 Euro. Ein Drittel komme auf 520 bis 1300 Euro. Drei Prozent haben keinerlei Einkommen. Das heißt also: Nur 5 Prozent verdienen mehr als 1300 Euro!

Dabei liegen die Mieten in Rio über denen von München, die meisten Lebensmittel sind teurer als in Deutschland. Ein Freund aus der lutherischen Gemeinde in Petrópolis hat mir einmal eine Rechnung zugeschickt, was sich ein staatlicher Lehrer von seinem Gehalt (1187 Reais im Monat, 475 Euro) leisten kann. Miete: 350 Reais (so eine billige Wohnung dürfte es in Rio nicht mehr geben), Lebensmittel 500 Reais. Hinzu kommen Strom, Wasser, Telekommunikation mit Internet, die Rentenvorsorge und die Gewerkschaftsbeiträge. Schon liegen die Ausgaben über den Einnahmen, bei 1202 Reais, Busfahrten und Kleider nicht mitgerechnet, auch kein Cafébesuch.

Bildungs- und Schulsystem liegen im Argen, wie soll da eine Mittelschicht entstehen? Kinder aus staatlichen Schulen haben kaum eine Chance, die Aufnahmeprüfung an der Uni zu bestehen. Wir bezahlten für jedes unserer Kinder monatlich 1900 Reais Schulgeld, damit sie auf dem Stand einer regulären deutschen Schule blieben. Gegenüber den privaten sind die staatlichen Schulen weit abgehängt. Im Gesundheitswesen hatte der frühere Präsident Luiz Inácio Lula da Silva die Gesundheitsstationen für alle erkämpft. Dort ist der Andrang groß, man muss lange warten. Wer ins Krankenhaus überwiesen wird, erfährt oft: Kein Platz – außer für privat Versicherte.

Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff ist sicher eine gute Wahl. Aber sie geht so wenig wie ihr Vorgänger gegen die oft unverhohlen korrupte Politikerkaste vor. Vielleicht wäre das gefährlich. Nun will die Präsidentin Erdöleinnahmen in die Bildung investieren. Aber auch das ist viel zu wenig.

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