Illustration: Marco Wagner
Matheskripte an der Tapete
Portrait Eduard KoppLena Uphoff
21.02.2012

Der berühmte Berliner Mathematikprofessor Karl Weierstraß fiel aus allen Wolken: Vor einer Woche hatte er einer jungen Frau eine vertrackte mathematische Aufgabe gestellt und erwartete nichts anderes, als dass sie daran scheiterte. Nun stand sie wieder vor ihm und trug ihr Ergebnis vor. Weierstraß war angesichts ihrer Kreativität im hohen Maße verblüfft. Völlig eigenständig und geradezu genial hatte die Zwanzigjährige die hohen Hürden überwunden und hoffte nun auf einen Studienplatz. Eine verrückte Idee – als Frau im Jahr 1870. Der Professor löste das Problem auf seine Weise: Er unterrichtete sie vier Jahre lang privat, mal in ihrer, mal in seiner Wohung. Sofja
Kowalewskaja, die später mit bewundernswerter Konsequenz lange um einen Lehrstuhl kämpfte, obwohl ihre wissenschaftliche Arbeit international gerühmt wurde, teilte das Los vieler hochbegabter Frauen im 19. Jahrhundert.

Die Tapeten ihres Kinderzimmers waren voller mathematischer Formeln

Sie entstammte einer russischen Fa­milie. Ihr Vater, ein pensionierter General, hatte einen großen Gutshof in Palibino bei Pskow gekauft, 300 Kilometer von St. Petersburg entfernt. Das Familienleben im spätfeudalen Russland folgte eigenen Regeln: Gouvernanten unterbanden die Kontakte der Kinder zum Gesinde, auf dem Hof arbeiteten noch Leibeigene, und die Bücher, die gelesen wurden, waren vom Hausherrn vorsortiert. Sofjas mathematische Begabung war schon früh entdeckt worden. Doch der Vater verbot seiner Tochter zunächst einen intensiven Hausunterricht in diesem Fach. Dabei hatte er in jungen Jahren selbst Vorlesungen über Differenzial- und Integralrechnungen gehört. Was er aber nicht berücksichtigt hatte: In Sofjas Kinderzimmer waren, da die ­Tapeten beim Renovieren nicht reichten, die Wände mit seinen alten Vorlesungsskripten beklebt. Sofja hatte täglich die geheimnisvollen Formeln studiert. Mit zwölf Jahren liest sie mathematische Bücher. Und Romane, weshalb sie sich schon als Kind zur Dichterin berufen sieht.

St. Petersburg wurde zum ersten Fluchtpunkt ihrer Sehnsucht als junge Frau. Dort machten die „Nihilisten“ von sich reden, eine Jugend- und Studentenbewegung, die sich religionsfern gab, gegen Feudalismus und für Frauenrechte kämpfte. Der einzige Weg heraus aus den Einschränkungen zumindest auf dem Land war für Frauen eine „Weiße Hochzeit“, eine Scheinehe. Nur so durften sie ohne Zustimmung ihres Vaters ins Ausland. Knapp 18-jährig hei­ratete Sofja einen Paläontologen, und es begann ihre europaweite Suche nach mathematischer Erkenntnis.

Drei Doktorarbeiten in einem Jahr

Vorlesungsbesuche gab es nur mit Ausnahmeerlaubnis. Im Sommersemester 1869 war sie Gast­hörerin in Heidelberg, denn Frauen durften sich nicht immatrikulieren. Dann die Begegnung ihres Lebens: In Berlin trifft sie auf die Koryphäe Karl Weierstraß. Der unterstützte zwar nicht das Frauenstudium, aber sie persönlich. Dank seiner Hilfe kann Kowalewskaja in Göttingen promovieren (in absentia, also ohne mündliche Prüfung, erhält sie die bestmögliche Be­urteilung). In nur anderthalb Jahren fertigt sie drei wissenschaftliche Arbeiten an, die sie alle hätte als Doktorarbeiten einreichen können.

Stehen die Zeichen an den Universitäten auf Demokratie? Eben nicht. Sofja  Kowalewskaja leidet unter den allgegenwärtigen Zurücksetzungen als Frau. Zurück in Russland, gerät sie in eine sechs­jährige seelische Krise und pausiert von der Mathematik. Sie schreibt Romane, bekommt eine Tochter. Ihre Ehe scheitert. Dann endlich, 1883, bekommt sie eine Stelle als Privatdozentin, später als Pro­fessorin in Schweden. Für etliche Männer ist das eine Katastrophe. Der Schriftsteller August Strindberg bemerkte, dass „eine Frau als Mathematikprofessorin eine schädliche und unangenehme Erscheinung ist, ja, dass man sie sogar ein Scheusal nennen könne“.

Auch wenn der große Fedor Dosto­jewski, den sie schon als junge Frau oft traf und anhimmelte, ihre Schreibkunst lobte, blieb sie der Mathematik treu. Aber den Traum, Schriftstellerin zu sein, träumte sie ein Leben lang. Schon gezeichnet von ihrer Lungenentzündung soll sie kurz vor ihrem Tod gesagt haben: „Vielleicht wäre ich glücklicher geworden, wenn ich Novellis­tin geblieben wäre.“

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"Den Traum, Schriftstellerin zu sein, träumte sie ein Leben lang", das glaube ich kaum. Auch weiß ich überhaupt nicht, was sie träumte, das geht aus der Kurzbeschreibung nicht hervor. Sie lebte ihre Begabungen, und erfuhr viele Einschränkungen, viel Diskriminierung, aber auch ebenso viel Anerkennung und Erfolg.
Das Leben ist kein Ort, um ausschließlich seinem Glück zu frönen, vielleicht noch nicht, oder seiner Karriere, aber auch nicht ein Ort, dem Stumpfsinn, einer fremdbestimmten Erwerbsbeschäftigung durch Arbeitslosigkeit, oder Überanpassung an den Arbeitsmarkt zu erliegen. Worin liegt der Sinn unseres Lebens in dieser Welt? Und was ist sein Zweck ? Gesundheit ist ein hohes Gut, Diskriminierung und Ablehnung sind zu verurteilen.

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Es war eine gute Idee über die Mathematikerin Sofja Kowalewskaja zu schreiben, da es nicht sehr viele solche Frauen gibt. Die andere war Emmy Noether, Mathematik-Professorin an der Uni. Erlangen, die das Verhältnis von Symmetrien und Erhaltung um 1908 entdeckte, von dem die moderne theoretische Teilchenphysik bis zu heutigem Tag abhängt.

In der Gegenwart gibt es die französische Mathematikerin Yvonne Choquet-Bruhat, die beiden weltbekannten Astrophysikerinnen Vera Rubin und Margaret Geller, dann Lisa Randall, die in 370 Jahren die erste Professorin für Theoretische Physik an der Harvard Universität ist, oder Felicitas Pauss, Physik-Professorin an der ETH in Zürich.

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