© Peter Dammann / Agentur Focus , dammann.peter@gmail.com , www.dammann-lookat.ch , December 2011 , Kiev , UkrainiaBoxclub Rubin in KievIvan Konoval (13) vom Boxclub Kossak in Kiew vor seinem Kampf (zweite Reihe mit Kopfschutz).
Peter Dammann/Agentur Focus
Schlag zu, Ivan!
Kiew ist grau und arm, diesseits des Dnjepr. Wenn der Junge hier rauswill, und sei es auch nur auf die andere, die glitzernde Seite des Flusses, dann muss er
ein Klitschko werden
Felix EhringLena Uphoff
23.04.2012

Heute wird Georgy Bukhalski kämpfen. Aus der Wohnung im achten Stock wirft er noch einen Blick auf die breiten Plattenbauten, die so grau sind wie der Himmel über Kiew. Der Frühling lässt sich Zeit dieses Jahr. Georgy Bukhalski hängt seine Sporttasche um, setzt die bunt ge­ringelte Mütze auf und verlässt den Flur der engen Wohnung. Der Block stammt aus den 60ern, sozialistischer Wohnungsbau. Als die Sowjetunion zusammenbrach, war Georgy Bukhalski noch nicht auf der Welt.

Sein Weg zum „Rubin Boxclub“ führt durch eine öde Betonwüste. Aufgeweichte Wege, kaum Menschen unterwegs. Der Spiel-platz besteht aus einem Autoreifen, der an einem Metallgerüst hängt, und einer kleinen Rutsche in Form eines Elefanten. Der Elefant hält den Rüssel gesenkt und steht verloren im Matsch herum. An seinem Bauch haben sich die schlechtesten Graffiti-künstler Kiews versucht. Georgy Bukhalski nimmt das alles kaum wahr, es ist sein Zuhause. Georgy ist 13 Jahre alt, schlaksig, hat einen Oberlippenflaum und dicke Augenbrauen im jungen Gesicht. Er ist bereits Champion der Ukraine, hat ein internationales Turnier gewonnen. Und er will mehr.

Jedes Dorf hat seinen Boxclub

Boxen ist in der Ukraine so wichtig wie Fußball. Jedes Dorf hat einen Boxclub. Die Klitschko-Brüder sind Vorbilder, aber nicht nur sie. Bei der Weltmeisterschaft der Amateure im Oktober gewannen ukrainische Boxer vier Titel. Der Staat unterstützt viele Boxschulen, so dass Jugend­liche nahezu kostenlos lernen können, wie man seine Treffer landet und wann man sich besser wegduckt. 
Georgy Bukhalski ist am Marktplatz  seines Stadtteils Dnjeprovski angekommen. Alte Frauen mit Kopftüchern hocken gleichmütig hinter großen Eimern, aus denen sie Krautsalat und eingelegte Gurken verkaufen. Aus Lautsprechern lärmt Musik – eine Fleischfirma wirbt für Brühwurst, ein junger Mann tanzt in einem rosaroten Schweinekostüm tapfer gegen die Kälte an. Gleich neben dem Markt fließt der ­Dnjepr, der die Stadt in Ost und West teilt. Am anderen Ufer, im Westen, beginnt das bessere Kiew – restaurierte Altbauten, die Filialen von Benetton und Nike und der zentrale Unabhängigkeitsplatz. Da laufen die Helden des Landes als Endlosschleife auf einer zehn Meter hohen Leinwand, die ukrainischen Nationalspieler werben für die Fußballeuropameisterschaft, die im ­Juni beginnt. Zwischendurch werben die Klitschkos für irgendetwas.

James Dean des Ostens

Doch die Lichter des Zentrums strahlen nicht bis Dnjeprovski. Georgy schlängelt sich zwischen den Marktständen hindurch und zieht eine dicke Stahltür auf: der Eingang zum Boxclub „Rubin“. Im Hinterhof zeigt ein Plakat einen James Dean des Ostens. Richard Karpov, Boxchampion der Sowjetunion 1954 bis 1956, Teilnehmer der Olympischen Spiele 1956 in Melbourne. 

Der Club ist eine kleine Turnhalle, ge­täfelte Wände, Parkettfußboden. In den Ecken stehen notdürftig reparierte Kraftgeräte, Boxsäcke hängen herum und warten auf Schläge. Hier trainiert Georgy, hier wird er kämpfen. Sein Trainer Viktor Iljich Pavlichenko hat das Turnier organisiert. Für die Nachwuchsboxer geht es darum, sich gut zu präsentieren. Ein Scout des Boxverbands hat sich angekündigt, ein ­Talentsucher. „Du hast noch Zeit“, sagt Viktor Iljich seinem Schützling Georgy, der nur nickt und Richtung Umkleide abbiegt.

Mit Vitali Klitschko auf dem Foto

Viktor Iljich läuft am Ring vorbei in sein Büro, ein fensterloses Kabuff. Vor dem Schreibtisch ist das Geschenk des Sponsors gestapelt: Wasser. „Ein Wodkahersteller wollte das Turnier auch sponsern, aber ich habe denen abgesagt, wegen der Jugendlichen“, sagt Viktor Iljich und legt die Stirn in tiefe Falten, als ob er die Entscheidung bereue.  
Viktor Iljich ist 70, noch immer bewegt er sich behänd. Früher war er selbst ukra­inischer Meister. Er ist ein kleiner Mann, seine Hände sind deutlich zu groß für ­seinen drahtigen Körper. Den „Rubin“ leitet er seit 30 Jahren. Sein Büro ist ein Museum, überall Medaillen, Wimpel, Autogrammkarten und Erinnerungsfotos. Eines zeigt Viktor Iljich mit Vitali Klitschko beim Sportfest der Stadt. Natürlich kennt er ­Vitali, der gern Bürgermeister von Kiew werden möchte und die Wahl schon zwei Mal verloren hat. „Ich habe ihn mehrmals eingeladen in den ‚Rubin‘. Nie kam er. Eines Tages klingelt mein Telefon, Vitali ist dran und sagt: In fünf Minuten bin ich da. Und da war er dann.“ Und Viktor Iljich? Hat Klitschko gleich überredet, dem ­„Rubin“ neue Fenster zu finanzieren. Er lacht. Das Telefon unterbricht ihn, ein Kampfrichter schafft es nicht pünktlich. 

Im Boxstall ist die Heizung kaputt

Die kleine Sporthalle füllt sich. Junge Boxer blicken sich um, suchen nach bekannten Gesichtern und potenziellen Gegnern. Boxer, die sich kennen, geben einander mit gro­ßem Ernst die Hand. Alle ­Boxer müssen feststellen, dass es im „Rubin“ nicht viel wärmer ist als draußen, zehn Grad vielleicht, die Heizung ist kaputt.

Ivan Konoval lässt sich nicht anmerken, dass er friert. Er ist 14 Jahre alt und nur 1,50 Meter groß, sein Vorbild ist Mike Tyson. Sein Gegner wird heute erfahren, warum. Ivan geht eine schmale Treppe hoch zur Umkleidekabine. Er trainiert im Boxstall „Kasak“, anderer Stadtteil, ähnliche Plattenbauten, gleiches Prinzip wie im „Rubin“: Der Staat bezahlt die Trainer, Ivan muss nur die Sportkleidung stellen. Die ist teuer. Schuhe kosten 70 Euro und mehr, das durchschnittliche Einkommen pro Kopf liegt in der ­Ukraine gerade mal bei 200 Euro. Und in Ivans Familie gibt es nur ein Einkommen. Die Mutter arbeitet als Haushälterin. Sein Vater starb, als Ivan sieben Jahre alt war.

Keiner wird verdroschen, keiner verletzt

Ivan setzt sich zwischen seine Freunde, kramt seinen roten Dress aus der Tasche. Sein heutiger Gegner ist einen Kopf größer, hat viel mehr Reichweite. „Ich bin immer der Kleinste, das ist für mich normal“, sagt Ivan. Hat er Angst? „Nein, Angst hat man nur am Anfang, dann nicht mehr.“ Und seine Freunde, die anderen Boxer, haben sie Angst? Allgemeines Kopfschütteln, doch es wirkt längst nicht bei allen überzeugend.

Viktor Iljich eröffnet das Turnier. Er trägt nun Krawatte und Sakko. Vor dem Ring stehen die Boxer zwischen ihren Freunden und Eltern. Ein Kampf geht über drei Runden, eine Runde dauert 90 Sekunden. Die leichtesten Boxer kämpfen zuerst gegen­einander, bis 38 Kilogramm, 13 bis 14 Jahre alt. Ihre Köpfe verschwinden fast zwischen dem Kopfschutz. Einige Kämpfe werden bereits nach einer Runde abgebrochen, selbst wenn der Ausgang für Außenstehende noch offen scheint. Kein Jugendlicher soll verdroschen werden, keiner verletzt. Nach jedem Kampf geben die Gegner einander die Hand, geben dem Trainer des Gegners die Hand und dem Ringrichter. Es geht um Respekt. Die Gewinner qualifizieren sich für den Finalkampf zwei Tage später.  

Die Boxer sind fast noch Kinder

Georgy muss immer noch warten. Ivan ist vor ihm dran. Er macht sich neben dem Ring warm, tänzelt, schlägt einige Kombinationen in die Handschuhe seines Trainers, schnelle, harte Schläge. Dann geht’s los. Ivan Konoval betritt den Ring mit entschlossenem Blick, begrüßt seinen großen, dünnen Gegner und den Ring­richter. Der Gong ertönt.

Ab jetzt kann alles passieren. Die Boxer wissen nicht, was ihnen widerfährt, ob sie einen Schlag nicht kommen sehen und es schmerzhaft wird, demütigend gar, ob sie sich blamieren. Sie sind fast noch Kinder, Jugendliche, die ihren Körper im Alltag in weiten Klamotten verstecken, auch mal eine Erektion verbergen, die einfach so kommt, grundlos. Da oben im Ring hingegen, der wie eine Bühne ist, geben die Boxer alles preis, zeigen Stärken – und alle Schwächen.

"Schlag mit der Linken!"

Mit kurzen Schritten, zuckend, nähert sich Ivan dem Gegner. Seine Deckung ist ganz dicht. Er arbeitet sich mit der linken Führhand vor und setzt dann mit einer rechten Geraden nach. Dann versucht er es mit einer Kombination. Weil er klein ist, muss er den Kampf machen, Ivan ist ein Angriffsboxer. Er kassiert auch Treffer, doch die steckt er weg. Sein Gegner, kein schlechter, beweglich, schlägt weit nach unten und dort oft ins Leere, weil Ivan sich noch tiefer duckt. In den ersten zwei Runden arbeitet Ivan sich einen kleinen Vorteil heraus. Doch das kostet Kraft, 90 Sekunden sind im Ring eine quälend lange Zeit. 
Ivan lässt sich auf den roten Schemel in der roten Ecke fallen und atmet schwer. Sein Trainer fächert ihm mit dem Handtuch Luft zu und redet auf ihn ein: „Halt die Arme oben! Schlag mit der Linken!“

Der letzte Gong

Der Gong. Die dritte Runde beginnt. Ivan ist nicht mehr so schnell wie zu Beginn. Er wartet ab, bleibt auf Distanz. Sein Gegner nutzt das nicht, findet kein Konzept gegen das kleine Kraftwerk. So geht die Runde dahin. Der letzte Gong. Die Boxer stellen sich links und rechts vom Ringrichter auf, Viktor Iljich verkündet den Sieger: Ivan Konoval. Seit er als Kind Boxkämpfe im Fernsehen sah, wollte Ivan selbst in den Ring. Seine Mutter war lange dagegen.

„Zum Zuschauen kommt sie nie, weil sie zu nervös wäre“, sagt Ivan mit einem weichen, lieben Lächeln. Von der Härte des Kampfes ist nichts mehr in seiner Miene zu erkennen. Früher, erzählt er, habe er sich oft geprügelt in der Schule, heute nicht mehr. Und dass sein Trainer für ihn wie ein Vater ist. „Nur mutige Leute boxen, das ist das Beste daran.“

Er legt sich den Gegner zurecht, guckt ihn aus, trifft

Die Fenster im „Rubin“ sind mittlerweile beschlagen. Der süßliche Geruch von Jungenschweiß hat sich ausgebreitet. Nun wird Georgy kämpfen. Sein Gegner ist etwas kleiner, aber muskulöser. Georgy, 1,73 Meter groß, schnell gewachsen, sieht im ärmellosen Dress eher aus wie ein Basketballer. Aber er boxt blitzschnell. Als die erste Runde be­ginnt, rennt Georgy drei Schritte auf seinen Gegner zu, der überrascht zurückweicht. Es wird ein ungleicher Kampf: körperlich gleichwertig, ist Georgy technisch klar überlegen. Er legt sich seinen Gegner zurecht, guckt ihn aus und trifft. Der andere kommt nicht an ihn ran. Das Publikum raunt. Bereits nach zwei Runden ist Schluss, der Ringrichter bricht den Kampf ab.

Georgys Eltern erleben den Sieg nicht mit. Sie arbeiten in einem teuren Fitnessstudio, die Mutter an der Bar, der Vater als Sicherheitsmann. Ein alter Freund des Vaters hat ihm den Job besorgt. Der Vater war früher Profiringer. Jeden Morgen joggt er mit Georgy eine halbe Stunde zwischen den Plattenbauten. Sein Sohn soll erfolgreich sein, es auf die Sporthochschule schaffen, Champion werden. „Er soll der Beste sein oder aufhören“, sagt der Vater. Notfalls könne Georgy auf die Polizeischule gehen. Da kennt der Vater nämlich auch jemanden aus seiner Ringerzeit. Selbst Vitali Klitschko sieht er ab und zu, weil der Mitglied des Fitnessstudios ist. Aber er sieht ihn eben nur, er kennt ihn nicht.

Viele wandern aus der Ukraine aus

Georgys Eltern verdienen schlecht, sagen sie. Die Wirtschaftskrise 2008/ 2009 hat den Aufschwung im Land jäh gebremst. Nur vier Länder auf der Welt haben eine höhere Auswanderungsquote als die Ukraine. Auch Georgy möchte gern mal ins Ausland, träumt von Kämpfen in London oder Berlin. Er will Erfolg, er trainiert sechsmal pro Woche. Er sagt: „Ich mache mir selbst den meisten Druck.“ Vielleicht ist die Sache mit der Polizeischule zusätzliche Motivation, Georgy scheint von diesem Vorschlag seines Vaters nicht überzeugt zu sein. Lieber will er seine Technik verbessern, die Beinarbeit.

Der zweite Turniertag. Georgy wird nicht kämpfen, sein Gegner hat einen Rückzieher gemacht. Der Gegner von Ivan Konoval hingegen ist wieder mal einen halben Kopf größer als er. Ivan bleibt seiner Taktik treu. Doch er ist zu ungeduldig, zu hektisch. Seine Schläge treffen nicht. Es ist Ivan, der die Treffer einstecken muss. Statt aber zurückzuweichen, versucht er es weiter. Je länger der Kampf dauert, ­desto öfter schlägt Ivan ins Nichts, stolpert, kommt einfach nicht an den anderen heran. Nach drei Runden reißt der Ringrichter den Arm des Gegners nach oben.

Boxen ist eine Charakterprobe

Ivan gibt allen die Hand und sieht dann zu, dass er aus dem Ring rauskommt. Was er dieses Mal gewonnen hat, ist die Charakterprobe. Er hat alles versucht, alles gegeben. Und er hat seine Schwächen gezeigt. Wütend könnte er sein über den anderen, der ihn mit dem ausgestreckten Arm einfach auf Distanz gehalten hat, ihm genau gezeigt hat: Du bist zu klein, du wirst mich nicht treffen! Stattdessen klopft Ivan seinem Gegner auf die Schulter.

Morgen ist Montag, Ivan wird wieder trainieren, fünf Tage die Woche. Sein Ziel bleibt das gleiche: Weltmeister. Er müsste eben größer sein. Vermutlich wird der ­Boxer Ivan Konoval mal ein guter Mann. Nicht nur im Ring.

 

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